Hans Joachim Meyer über das Leben als Katholik in der DDR

"Christen waren keine gleichberechtigten Bürger"

Veröffentlicht am 10.10.2016 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
"Christen waren keine gleichberechtigten Bürger"
Bild: © KNA
DDR

Bonn ‐ Es sei eine "skandalöse Behauptung", dass in der DDR nur wenige Christen in ihrer Lebensgestaltung behindert wurden, sagt Hans Joachim Meyer. Der Politiker und Katholik erklärt, was er von den Aufarbeitungsplänen Thüringens hält.

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Hans Joachim Meyer (79) war Staatsminister in Sachsen und zwölf Jahre lang Leiter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Aber er ist auch jemand, der als praktizierender Christ jahrzehntelang in der DDR gelebt hat. Der gebürtige Rostocker berichtet im Interview mit katholisch.de von typischen Erfahrungen christlicher Familien in der DDR und den Auswirkungen bis heute.

Frage: Eine Nutzerin auf Facebook hat uns erzählt, dass sie in der DDR die Schule verlassen musste, weil sie ein Kreuz an der Halskette trug. Was war Ihr schlimmstes Erlebnis als Christ in der DDR?

Hans Joachim Meyer: Ich mache das nicht gern an einer einzelnen Begebenheit fest. Aber es war die Strategie der SED-Führung, alles Christliche aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen und zugleich den Eindruck zu erwecken, dass Christen willkommene Verbündete im Kampf für Frieden und Sozialismus wären. Insbesondere jüngere Menschen, aber auch viele Berufstätige hatten dadurch Nachteile, dass sie sich offen zum Christentum bekannten. Gleichzeitig stellte es die Propaganda so dar, dass sie gleichberechtigte Bürger seien. Mit diesem Widerspruch war ich ständig konfrontiert.

Frage: Was drohte Menschen, die ihren Glauben offen und offensiv lebten?

Meyer: Das ist sehr unterschiedlich, schon in der Schule. Dort hat man versucht, junge Gläubige in der Klasse zu isolieren oder man hat sie -  wie Ihre Nutzerin berichtet - schikaniert. Christen hatten zudem Schwierigkeiten, zum Studium zugelassen zu werden. Gleichzeitig sorgte die SED-Führung für eine Atmosphäre, dass Christen bestimmte Berufe gar nicht erst in Erwägung zogen. Das klassische Beispiel ist der Lehrerberuf. Einerseits waren Christen dankbar für jeden Lehrer und jede Lehrerin, die ihre Haltung akzeptieren. Andererseits rieten alle den jungen Christen, um Gottes Willen nicht Lehrer werden zu wollen.

Frage: Welche Erfahrungen haben Sie persönlich gemacht?

Meyer: Ich war so blauäugig zu glauben, als praktizierender Katholik Staats- und Rechtswissenschaft studieren zu können – nach sechs Semestern wurde ich "wegen mangelnder Verbindung mit der Arbeiterklasse" relegiert. Ich habe dann ein Jahr in einer Fabrik gearbeitet und habe dann ein neues Studium aufgenommen, das weniger mit Politik zu tun hatte. Aber auch unsere Kinder bekamen Repressalien zu spüren: Sie gingen nicht zur Jugendweihe und wurden daher nicht zur weiterführenden Schule, der sogenannten erweiterten Oberschule zugelassen. Nur durch erheblichen Einsatz, durch Eingaben, Gespräche und Protestbriefe haben wir erreicht, dass sie dann doch eine Berufsausbildung mit Abitur machen konnten. Das ist eine durchaus typische Erfahrung für christliche Familien in der DDR.

Bild: ©KNA

Wahl des Pfarrgemeinderates in der DDR (Deutschen Demonkratischen Republik) 1977.

Frage: Haben sie jemals daran gedacht, aufgrund dieser Widerstände Ihren Glauben nur nach innen zu leben?

Meyer: Es ist immer eine Entscheidung in einer solchen Wirklichkeit, wie offen man seinen Glauben praktiziert. Ich habe, wenn ich neue Menschen kennenlernte, stets schnell klar gemacht, wer ich bin und wofür ich stehe. Damit war von vornherein die Verhandlungsbasis klar und ich war vor Situationen geschützt, in denen ich wie selbstverständlich für etwas vereinnahmt wurde, was mir gar nicht entsprach.

Frage: Wie haben Sie es geschafft, trotz dieser Widerstände ihren Glauben über 41 Jahren hinweg zu retten?

Meyer: "Retten" würde ich nicht sagen, sondern ich habe an diesem Glauben festgehalten und das auch nicht verborgen. Ich hatte mich auf die Wirklichkeit der DDR eingelassen und - jedenfalls nach der sowjetischen Intervention in Prag 1968 – auch nicht mehr damit gerechnet, dass ich zu meinen Lebzeiten noch eine Änderung der Situation erleben würde.   

Frage: Diskriminierung ist schlimm, Verfolgung aufgrund des Glaubens hat aber noch einmal eine andere Qualität. Haben Sie sich als Christ in der DDR wirklich verfolgt gefühlt?

Meyer: Man muss ehrlicherweise sagen, dass die Situation von Christen in anderen kommunistisch regierten Ländern wie der Tschechoslowakei, Ungarn oder Rumänien ungleich schlimmer war als in der DDR. Hier ging man nach 1945 nicht global gegen die Kirchen vor. Es gab in der DDR schon eine intakte Kirche, die zumindest ihren inneren Angelegenheiten nachgehen konnte. Wir haben auch Jugendarbeit betrieben, wobei der Staat natürlich immer wieder versuchte, das einzudämmen. Es wurden auch gelegentlich "Exempel" statuiert. In meiner Geburtsstadt Rostock gab es zum Beispiel einen Kaplan, der plötzlich verschwand und dann zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde wegen einer grotesken Anschuldigung von Spionagetätigkeit.

Frage: Der thüringischen Kultur-Staatssekretärin Babette Winter hat im Juni in einem Interview gesagt, ihr seien nur sieben Fälle in Thüringen bekannt, in denen "die Aktivität in der Kirche zu einem Eingriff seitens des Staates in die Lebensbiografie geführt hat". Halten Sie das für realistisch?

Meyer: Nein, das halte ich für absurd. Die Staatssekretärin kann in jede Kirchengemeinde gehen, evangelisch oder katholisch, und diejenigen, die die Situation vor 1990 erlebt haben, würden ihr eine Fülle von Beispielen präsentieren. Das scheint mir eine wirklich provozierende, skandalöse Behauptung.

Linktipp: Ex-Präsident: ZdK hat Kommunikationsproblem

Hans Joachim Meyer leitete zwölf Jahre das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Nun spricht er von einem Kommunikationsproblem bei dem Laiengremium - und äußert sich auch zu Zölibat und Ökumene.

Frage: Weil die Einschätzung seiner Staatssekretärin für Wirbel sorgte, will Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) die Verfolgung von Christen in der DDR nun wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Ist das überhaupt möglich?

Meyer: Wenn der Ministerpräsident auf den berechtigten und notwendigen Proteststurm reagiert,  finde ich das richtig. Ob eine wissenschaftliche Untersuchung unter diesen politischen Vorzeichen allerdings realistisch ist, weiß ich nicht – schließlich müsste sich der Linken-Politiker Bodo Ramelow kritisch mit dem Handeln der SED auseinandersetzen. Es sollte aber in jedem Fall in der geschichtlichen Betrachtung der DDR auch eine präzise Beschreibung der Situation der Christen geben. Christen waren keine gleichberechtigten Bürger. Es war das Ziel der SED, Bedingungen zu schaffen, in denen Kirche und Religion absterben würden. Gleichwohl sehe ich eine wissenschaftliche Untersuchung nicht unter dem Begriff "Verfolgung". Das würde einen falschen Vergleichsmaßstab anlegen, wenn man an die Situation etwa in China oder Nordkorea denkt oder auch an die in anderen osteuropäischen Staaten vor 1990.

Frage: Müsste es nach einer wissenschaftlichen Untersuchung auch Entschädigungszahlungen geben?

Meyer: Ich würde das nicht als vordingliches Ziel sehen. Das gäbe dem Anliegen nur ein falsches Bild: Hier geht es vor allem darum, die geschichtliche Wahrheit herauszuarbeiten und zu verhindern, dass die Menschen vergessen oder vereinfachen. Aber natürlich gibt es frühere DDR-Bürger, denen etwa Bildungswege verbaut worden sind. Wenn man das nachweisen kann, sollte man den Betroffenen helfen, das Versäumte nachzuholen. Es ist ja auch schon Einiges geschehen. In meiner Zeit als sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst haben wir zum Beispiel Sonderverfahren für junge Menschen eingeführt, dann noch im Nachhinein zur Hochschulreife gelangen und studieren zu konnten. 

Frage: Wie kam es, dass Christen die DDR und vor allem die friedliche Revolution 1989 trotz ihrer Benachteiligung und ihres geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung derart geprägt haben?

Meyer: Das lag einfach an ihrer Bereitschaft, sich zu engagieren und den Glauben zu bezeugen. In einer Situation, in der vierzig Jahre lang andere das Sagen hatten und sich durch ihr Handeln und ihr Regieren diskreditiert hatten, wurden Menschen gesucht, in die man Vertrauen setzen konnte. Zu den Christen gab es ein solches Vertrauen. Man traute ihnen zu, im Prozess der friedlichen Revolution und des Neubeginns im Osten die anstehenden Aufgaben besser zu lösen.

Von Gabriele Höfling