Ein Hildegard-Experte erklärt, was hilft und was nicht

Kräuterkunde nach Hildegard: Heilsam bis giftig

Veröffentlicht am 17.09.2017 um 13:30 Uhr – Lesedauer: 
Heilige

Bonn ‐ Ihr Rezept für Hustensaft wirkt, schmeckt aber bitter, weiß Medizinhistoriker Johannes Gottfried Mayer aus eigener Erfahrung. Von anderen Vorschlägen Hildegard von Bingens lässt er lieber die Finger.

  • Teilen:

Frage: Herr Mayer, Sie sind Experte für die Heilkunde der Hildegard von Bingen. Darin geht es vor allem um Dinkelbackrezepte, oder? 

Johannes Gottfried Mayer: Hildegard von Bingen hat kein einziges Backrezept mit Dinkel verfasst. Sie lobt in ihren naturkundlichen Schriften zwar diese Getreidesorte, weil sie gesund sei und ein frohes Gemüt verschaffe, aber sie gibt keine Tipps für die Zubereitung von Speisen. Im Gegenteil. Wenn Hildegard ein Rezept empfiehlt, dann betrifft dies immer die Heilwirkung einer Pflanze. Alles andere, also sämtliche Kochbücher und Backbücher nach Hildegard sind eine reine Erfindung der Neuzeit.

Frage: Woher kam dieser Hildegard-Dinkelkult dann überhaupt?

Mayer: Ein österreichischer Arzt namens Gottfried Hertzka hatte in den 1960er Jahren begonnen, aus Hildegards Werken ein medizinisches Konzept herauszufiltern. Daraus entwickelte sich dann die sogenannte "Hildegard-Medizin". Die Getreidesorte Dinkel spielte dabei eine besondere Rolle. Hertzka verfasste ein eigenes Hildegard-Medizinbuch mit dem Titel "So heilt Gott". Daran erkennt man, dass er Hildegards heilkundliche Schriften als göttliche Offenbarung verstand und ihre Anwendungen akzeptierte, auch wenn sie in ihrer Wirkung der modernen Schulmedizin zum Teil widersprachen. Aber das tat dem Erfolg der Hildegard-Produkte keinen Abbruch. Ganze Hildegard-Kollektionen wurden herausgebracht mit Inhaltsstoffen, die der heiligen Hildegard im Mittelalter bestimmt nicht bekannt waren. Die Wirkung dieser Hildegard-Medizin ist heute wissenschaftlich hoch umstritten. Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit Hildegards Werken und frage mich schon, ob ihre Werke je richtig gelesen und verstanden wurden.

Weinlese im Benediktinerinnenkloster Eibingen bei Rüdesheim im Rheingau: Eine Schwester beim Ernten der Trauben.
Bild: ©KNA

In der Nachfolge Hildegard von Bingens bauen die Benediktinerinnen der Abtei St. Hildegard in Eibingen bei Rüdesheim noch heute Wein an.

Frage: Was haben Sie herausgefunden? Welche konkreten Tipps für die Gesundheit gibt Hildegard denn?

Mayer: Hildegard gibt praktische Ernährungstipps und empfiehlt morgens zum Frühstück etwas Warmes zu sich zu nehmen, also eine Suppe oder einen erwärmten Getreidebrei, damit die Verdauung in Gang komme. Im Sommer sei es besser, auf stark gewürzte Speisen zu verzichten, im Winter dagegen mehr davon zu essen. Interessant ist auch, dass sie kein Schweinefleisch mag, aber Wildbret empfiehlt. Hildegard warnt ganz allgemein vor zu fettem Essen und Völlerei. Übermäßiges Schlemmen sei ihrer Ansicht nach die Ursache für die meisten Krankheiten des Menschen. Wenn Magen und Darm gesund sind, dann ist der ganze Mensch gesund, schreibt Hildegard. Sie bringt dies in Zusammenhang mit einer guten Lebensführung. Wer ein falsches, also christlich gesprochen, ein sündhaftes Leben führt, wird krank. Nur wer die religiösen Vorschriften einhalte und immer wieder faste, bleibe gesund. Aber sie sagt auch, man solle es mit dem Fasten nicht übertreiben. Das ist zusammengefasst ihr Gesundheitsprogramm.

Frage: Empfiehlt Hildegard auch besondere Getränke?

Mayer: Ja, sie empfiehlt Wein. Man solle im Sommer mehr Wasser, Bier und verdünnten Wein zu sich nehmen und im Winter den Wein dann pur genießen. Das kommt daher, dass die Weinschorle das Getränk des Mittelalters schlechthin war, denn damit hat man seinen Wasserhaushalt kontrolliert. Es gab damals noch keinen Kaffee, keinen schwarzen Tee, keinen Grüntee und auch keine Fruchtsäfte, höchstens Most vielleicht. Hildegards Lieblingswein war der Frankenwein, der in der heutigen Mosel- und Rheingegend angebaut wird. Das war ihr Heimatwein schlechthin. Sie empfiehlt aber auch Rezepte zur Herstellung von Kräuterweinen, die als Arznei gedacht sind. Es gibt zum Beispiel einen Hustenwein aus der Andorn-Pflanze, ein wichtiges Kraut in der Klostermedizin, der mit Fenchel, Dill und Wein gekocht wird. Das soll gesund und bekömmlich sein, schmeckt aber bitter.

Frage: Haben Sie diese Wein-Anwendung schon ausprobiert?

Mayer: Ja, es hat zwar gewirkt, aber scheußlich geschmeckt. Wir probieren hier in der Klostermedizinforschung viele Arzneirezepte von Hildegard aus, aber längst nicht alle. Auch zu empfehlen ist folgendes Weinrezept: Getrockneten Meerrettich pulverisieren, mit der gleichen Menge Galgant vermischen. Das Pulver in warmen Wein oder Wasser auflösen und trinken. Das soll bei Lungenleiden hilfreich sein. Man kann vieles aus Hildegards Heilkunde nachmachen, aber es ist auch Vorsicht geboten. Zum Beispiel empfiehlt Hildegard bei Epilepsie eine Handvoll Maiglöckchen zu essen. Das geht gar nicht, denn damit würde man sich selbst vergiften.

Hildegard von Bingen
Bild: ©angelika-kamlage.de

Klostergründerin, Kräuterexpertin, Kirchenlehrerin: die heilige Hildegard von Bingen (um 1098-1179) ist eine der bedeutendsten Figuren der Kirchengeschichte des Mittelalters.

Frage: Gibt es spezielle Hildegard-Kräuter?

Mayer: Ja, das sind Kräuter, die vor ihrer Zeit in ihrer Heilwirkung noch nicht erwähnt oder entdeckt waren, aber in ihren heilkundlichen Werken eine bedeutende Rolle spielen. Hildegard von Bingen war zum Beispiel die erste, die die Ringelblume nennt und konkrete Anwendungen auf der Haut festlegt. Und sie nennt auch ein Wundkraut, das aus heutiger Sicht die Arnika sein könnte. Diese Heilpflanze wird bei stumpfen Verletzungen angewendet. Aus heutiger medizinischer Sicht ist das so auch richtig, denn die Arnika soll nicht bei tiefen Wundverletzungen verwendet werden. Mit diesem Wissen war sie eindeutig ihrer Zeit voraus. Auch die Bertramswurzel wird als typisches Hildegard-Kraut bezeichnet. Fenchel ist eines ihrer Lieblingskräuter. Auch hier nennt sie konkrete Rezepte für medizinische Anwendungen. Erstaunlich ist auch, dass sie asiatische Gewürzpflanzen kennt wie Ingwer, Muskatnuss oder Galgant. Das sind auch sogenannte Hildegard-Kräuter, aber keine Entdeckung von Hildegard selbst. Berühmt ist aber ihre Gewürztherapie mit Galgant für eine bessere Verdauung.

Player wird geladen ...
Video: © katholisch.de

Wozu ist Ringelblume gut? Die Dominikanerin Schwester Ursula Hertewich gibt Tipps zu den Heilmitteln aus ihrem Klostergarten.

Frage: Ist die Hildegard-Medizin aus moderner Sicht also ein Irrtum?

Mayer: Nein, so kann man das nicht sagen, aber es braucht Umsicht in der Bewertung ihrer Anwendungen, weil noch nicht alles getestet wurde. Hildegard beschäftigte sich zwar laienhaft, aber doch intensiv mit der Pflanzenwelt, der Tierwelt, der Edelsteinkunde ihrer Zeit. Das war für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnlich. Allein in ihrem naturkundlichen Buch "Physica" beschreibt sie 217 Pflanzen und 60 Bäume. Es ist  schwer vorzustellen, dass sie alles selbst gekannt hat. Aber sie ist eine Querdenkerin ihrer Zeit. Sie empfiehlt zum Beispiel steinerne Amulette zu pulverisieren und in Arzneimittel zu mischen. Das ist interessant, war damals neu und findet sich sonst nirgendwo. Aus heutiger Sicht ist dieses Verfahren allerdings umstritten. Sie schreibt, der Edelstein Saphir solle gegen Dummheit helfen. Hildegard formuliert es so: "Wem jede Einsicht fehlt und wer doch klug sein möchte und es nicht sein kann, der soll auf nüchternen Magen oft an einem Saphir lecken." Mit solchen Aussagen sind wir mitten im Mittelalter. Hildegard hatte offensichtlich auch Humor. Wissenschaftlich bedeutsam ist hingegen, dass sie Kräuter als Arzneimittel entdeckt hat, die damals noch kaum bekannt waren. Zum Beispiel die Schlüsselblume, die bei Depressionen oder schlechter Stimmung helfen könne. Hildegard schreibt, man solle die Pflanze komplett aus der Erde herausreißen und sie auf Stirn und Herz auflegen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass dabei eine medizinische Wirkung entstehen soll, aber zu der damaligen Zeit war diese Anwendung wohl üblich.

„Sie scheint eine sehr selbstbewusste Frau gewesen zu sein, und das fasziniert, bis heute.“

—  Zitat: Johannes Gottfried Mayer über Hildegard von Bingen

Frage: Hat sie sich das alles nur ausgedacht?

Mayer: Nein, bestimmt nicht, denn bei einigen Pflanzen hat sie absolute Volltreffer gelandet. Der Einsatz von Ringelblume ist absolut vernünftig, genauso wie der von Andorn oder Fenchel. Daneben gibt es wie gesagt, Pflanzen, die keinerlei Wirkung haben oder giftig sind. Das muss man allerdings alles erst noch genauer prüfen. Sie beschreibt auch Anwendungen gegen Liebeszauber. Daran erkennt man, dass sie aus mündlichen Quellen wie der Volksheilkunde und aus dem mittelalterlichen Volksglauben schöpft. Sie konnte Latein und hat mit Sicherheit schriftliche Quellen genutzt, aber sie zitiert in ihren heilkundlichen Schriften "Physica" und "Causae et curae" kein anderes Werk ihrer Zeit und das ist ungewöhnlich. Sie selbst war zeitlebens immer wieder kränklich und hatte gesundheitliche Krisen. Vielleicht hat sie sich deshalb mit Heilkunde beschäftigt. Auffällig oft hat sie sich mit Augenerkrankungen oder psychischen Erkrankungen beschäftigt.

Frage: Warum glauben Sie, ist Hildegard bis heute Kult?

Mayer: Es gibt kaum eine andere Frau des Mittelalters, über die wir so viel wissen, wie über sie. Sie war eine Universalgelehrte für die damalige Zeit. Wir haben von ihr fünf Bücher, viele Briefe, eine Vita, eine Lebensbeschreibung und viele Predigten, die sie öffentlich gehalten hat. Sie scheint eine sehr selbstbewusste Frau gewesen zu sein, und das fasziniert, bis heute.

Von Madeleine Spendier

Zur Person

Johannes Gottfried Mayer lehrt am Institut für Medizingeschichte der Universität Würzburg. Zudem leitet er als Geschäftsführer die Forschergruppe Klostermedizin.