Die Geschichte des Tischgebets

Ein Dank an den Geber aller Gaben

Veröffentlicht am 16.02.2019 um 13:11 Uhr – Lesedauer: 
Familie beim Tischgebet
Bild: © KNA

Bonn ‐ Warum nicht mal wieder vor der Mahlzeit gemeinsam beten? Das Tischgebet ist schließlich eine einfache Möglichkeit, sich Gott zuzuwenden und ihm einen Platz im Leben der Familie zu geben. Die Wurzeln dieser Gebetsform reichen weit zurück.

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Das private Gebet ist eines der bedeutenden Frömmigkeitsübungen im Christentum. Nicht nur die gemeinsame Feier der Eucharistie in der Kirche, sondern auch der persönliche Gottesdienst gehört zu einem gelebten Glauben dazu. Neben den größeren Andachtsformen wie dem Rosenkranzgebet oder der Betrachtung des Kreuzwegs gibt es viele kleinere Gebete, die man über den Tag verteilt sprechen kann. Das reicht vom kurzen Stoßgebet bis hin zum Vaterunser oder dem "Engel des Herrn" beim Läuten der Kirchenglocken. Eine Gebetsform, die in vielen Haushalten nach wie vor regelmäßig geübt wird, ist das Tischgebet. Vor dem Essen zu beten ist nicht nur Ausdruck der eigenen Frömmigkeit, es lenkt auch den Blick auf den Schöpfer und den Geber aller guten Gaben. Es ist gut, sich in einer Zeit, in der sich so viele Menschen vom Gebet distanzieren, wieder neu mit dem Tischgebet auseinanderzusetzen und vielleicht dadurch einen kleinen Beitrag zu leisten, dem christlichen Glauben im eigenen Leben wieder mehr Raum zu schaffen.

Fragt man nach den Ursprüngen des Tischgebets, muss man feststellen, dass das Gebet vor der Mahlzeit keine christliche Erfindung ist. Vielmehr liegen die Wurzeln – wie so oft – im Judentum. Dort ist es üblich, Gott im Laufe des Tages immer wieder mit kleinen Sätzen Dank zu sagen. Es sind Lobsprüche, welche die gläubigen Juden daran erinnern, dass nichts, was sie haben oder tun, selbstverständlich ist. Alles ist Gabe und Geschenk Gottes und es ist wichtig, Gott dafür zu danken. Diese Sprüche nennt man hebräisch "Berakha" (Mehrzahl "Berakhot"), was nichts anderes als "Lob" bedeutet. Es gibt eine Vielzahl von Berakhot, die alle mit den Worten "Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt" beginnen. Anschließend fügt man in die Berakha das ein, wofür man dankt, um den Lobspruch mit der Bekräftigung "Amen" abzuschließen.

Männer mit Kippa
Bild: ©KNA/Markus Nowak

Die Wurzeln der Tischgebets-Tradition liegen im Judentum. Dort ist es üblich, Gott im Laufe des Tages immer wieder mit kleinen Sätzen Dank zu sagen.

Gerade beim gemeinsamen Mahl ist es im Judentum wichtig, den Dank an den Schöpfer der Gaben nicht zu vergessen. Gott, der die Welt ins Dasein gerufen hat, vertraut sie dem Menschen an und will, dass er sie pflegt und bebaut und von ihren Gaben satt wird. Das verpflichtet die jüdischen Gläubigen, sowohl vor als auch nach dem Essen zu beten. Für jede unterschiedliche Nahrung gibt es einen eigenen Segensspruch; wird beispielsweise Brot oder ein anderes Gebäck verzehrt, so spricht man: "Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du Brot aus der Erde hervorbringst." Weitaus umfangreicher ist jedoch das Gebet nach der Mahlzeit, das ganze vier Segenssprüche umfasst. Meist spricht man zunächst einen Psalm und wäscht sich die Hände, um sie von allem Schmutz und möglicherweise auch von Speiseresten zu reinigen. Die Aufforderung, Gott nach dem gemeinsamen Mahl zu danken, findet sich schon im Buch Deuteronomium. Dort heißt es unter anderem: "Und wenn du gegessen hast und satt geworden bist (…), dann nimm dich in Acht, dass dein Herz nicht hochmütig wird und du den Herrn, deinen Gott, nicht vergisst" (Dtn 8,12.14).

Andenken an Gottes Heilstaten

In den Segenssprüchen nach dem Essen wahren die jüdischen Gläubigen das Andenken an Gottes Heilstaten und danken ihm zugleich für die Gaben, die sie von ihm erhalten haben. Dies beinhaltet sowohl die konkreten Schöpfungsgaben, die bei der Mahlzeit verzehrt wurden, als auch die Gabe des Gelobten Landes nach dem Exodus aus Ägypten. Die Bitte um den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels sowie konkrete Gebetsanliegen der am Tisch versammelten Personen schließen das jüdische Tischgebet ab.

Da Jesus selbst Jude war und das Erbe seiner Väter bewahrte, können wir davon ausgehen, dass er auch das Gebet vor und nach den Mahlzeiten gepflegt hat. Zwar berichten uns die Evangelien nichts Exaktes, doch zum Beispiel bei der Speisung der 5.000 heißt es, dass Jesus das Brot in seine Hände nahm und den Lobpreis sprach. Und Gleiches wird uns vom letzten Abendmahl Jesu berichtet: "Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis (…). Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet" (Mk 14,22f.). Der biblische Befund zeigt also: Jesus hat vor den Mahlzeiten gebetet, er hat Gott für die Gaben der Schöpfung gelobt und dankte ihm für die Früchte, mit denen er die Menschen ernährt. Lob und Dank sind beide Aspekte, die auch bis heute im jüdischen Tischgebet zu finden sind.

Das Gebet zur Mahlzeit hat sich im frühen Christentum vor allem bei der Feier der Eucharistie erhalten. Doch schon der erste Timotheusbrief ermahnt die Hörer, alles, was Gott geschaffen hat, mit Dank zu genießen und es durch Gottes Wort und das Gebet zu heiligen (1 Tim 4,3ff). Und die Didache, eine frühchristliche Kirchenordnung vermutlich aus dem ersten Jahrhundert nach Christus gibt sogar an die Berakhot angelehnte Lobsprüche wieder, welche man bei der Feier der Eucharistie über Brot und Wein sprechen soll – dies wird übrigens bis heute in der Eucharistiefeier so praktiziert.

Das weltberühmte Gemälde des letzten Abendmahls von Leonardo da Vinci.
Bild: ©castrovilli/Fotolia.com

Das weltberühmte Gemälde des letzten Abendmahls von Leonardo da Vinci.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Tischgebet zu einer festen christlichen Institution. Schon antike christliche Autoren, wie Johannes Chrysostomus, belegen unterschiedliche Gebetstexte, die vor der gemeinsamen Mahlzeit gesprochen wurden. Einen besonderen Wert auf das Tischgebet legte Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus. Dort hält er fest, der Hausvater solle die Tischgemeinschaft lehren, vor dem Essen das "Benedicite" (also das Lobgebet) und nach dem Mahl das "Gratias" (das Dankgebet) zu sprechen. Martin Luther legt das Gebet besonders den Kindern ans Herz und sieht darin ein pädagogisches Mittel, ihnen den christlichen Glauben zu vermitteln. Bis heute ist es in manchen Familien Tradition, dass vor allem die Kinder für das Tischgebet zuständig sind. Für sie ist es eine besondere Ehre, das Gebet vor und nach der Mahlzeit sprechen zu dürfen.

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, welches die Familie als Hauskirche versteht (vgl. Lumen Gentium 11), ist auch der private Gottesdienst wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt. Das Tischgebet, das eine Form dieses Gottesdienstes darstellt, sollte vor allem in den Familien mit Kindern geübt werden. Es ist nicht nur eine Chance, den Wert des Gebetes an die nachfolgende Generation zu vermitteln und den christlichen Glauben praktisch zu leben. Das Tischgebet drückt auch aus, was wir manchmal allzu leicht vergessen: Dass die Schöpfungsgaben nicht nur Frucht menschlicher Arbeit sind, sondern Geschenk Gottes. In einem Zeitalter, in dem man ganzjährig Gemüse, Obst und Fleisch im Supermarkt bekommt, ist es wichtig, sich wieder und wieder bewusst zu werden, dass die Gaben der Schöpfung keine Selbstverständlichkeit sind. Das Tischgebet ist Ausdruck einer inneren Haltung, die um den Geschenkcharakter der täglichen Mahlzeiten weiß. Dabei kann man nicht nur Gott danken, sondern auch die Menschen ins Gebet einschließen, die mit ihrer Arbeit für einen gedeckten Tisch sorgen: Landwirte und Bauern, Angestellte in den Supermärkten, den Koch oder die Köchin.

Über Generationen erhaltete Gebete

Viele Menschen haben schon in ihrer eigenen Kindheit eine Auswahl an möglichen Tischgebeten gelernt, die sie sich bis heute bewahren. Manche traditionelle Gebete, die meist in Reimform geschrieben sind, haben sich über Generationen erhalten. Wer auf kein explizites Tischgebet zurückgreifen will, kann auch ein "Gegrüßet seist du, Maria" oder ein einfaches "Ehre sei dem Vater" sprechen. Das traditionelle Tischgebet der christlichen Gemeinde ist freilich das "Vater unser", das sich sowohl vor als auch nach der Mahlzeit eignet. Gerade wenn man in einer größeren Gesellschaft speist, die vor dem Essen nicht beten möchte, reicht auch ein kleiner Gedanke am Anfang oder während der Mahlzeit: "Danke, Gott, für die Gaben, die du mir bescherst" oder "Herr, segne diese Gaben, die wir aus deiner Güte empfangen".

Das Tischgebet ist eine relativ einfache Möglichkeit, sich im Laufe des Tages Gott zuzuwenden und ihm einen Platz im Leben der Familie einzuräumen. Es müssen nicht immer die großen Andachtsformen sein, um im Alltag Gottes Gegenwart wahrzunehmen. Manchmal reichen die kleinen Gesten und die kleinen Gebete, die in ihrer Regelmäßigkeit die eigene Verbindung mit dem christlichen Glauben erkennen lassen.

Von Fabian Brand