"Warum nicht wir?"

Tauerntunnel, 29. Mai 1999, kurz vor fünf Uhr morgens: Ein Brummifahrer hat seine vorgeschriebenen Pausen nicht eingehalten und fährt auf eine Fahrzeugkolonne auf, die vor einer roten Baustellenampel wartet. Auf einem Lastwagen vor ihm explodieren 20.000 Dosen mit Sprühlack, eine 1.200 Grad heiße Feuerwalze wütet in der Röhre. Nach einem der bisher schlimmsten Verkehrsunfälle in Österreich sind 12 Menschen tot und 42 verletzt.
Die Eichstätter Diözesanpriester Anton Schatz (60) und Michael Harrer (40), damals noch Gymnasiast, sind auf der Rückfahrt von einem Besuch bei Freunden in Bosnien. Ihr VW Golf steht zum Zeitpunkt des Aufpralls an vierter Stelle in der Warteschlange. Alle acht Insassen in den Pkw vor und hinter ihnen sterben.
Hilfesuchend durch die Flammen
Nach der behördlichen Rekonstruktion des Unfalls werden drei der Autos zwischen den zwei Lastern zerquetscht, ihr Wagen aber seitlich aus der Kolonne herausgeschleudert. Harrer weiß noch, wie er sich und seinen Beifahrer abschnallen konnte. Aber er schafft es nicht, ihn auch herauszuziehen. Der 19-Jährige stolpert hilfesuchend durch die Flammen zum Nordportal und zieht sich eine lebensbedrohliche Rauchvergiftung zu.
„Circa 200 Meter vor dem Portal hat mich irgendjemand am Pulli erwischt, an die Hand genommen.“
"Circa 200 Meter vor dem Portal hat mich irgendjemand am Pulli erwischt, an die Hand genommen", mehr weiß er nicht. Sein älterer Priesterfreund und Firmpate hat keinerlei Erinnerung. Mit einer schweren Gehirnerschütterung, am Kopf blutend, muss er sich aber ohne fremde Hilfe aus dem Wrack befreit haben und dann teils auf allen vieren hinausgekrochen sein. Das ergibt sich aus Zeugenaussagen, den Ermittlungen und seiner Patientenakte.
Harrers Lunge ist völlig verklebt. Er muss künstlich beatmet werden. Die Ärzte zweifeln, ob er durchkommt. Der heute 40-Jährige kann Horrorgeschichten von seinem Erwachen aus dem künstlichen Koma erzählen. Im Rausch der Schmerzmittel halluziniert er das Unfallgeschehen in stets neuen Variationen. Wenn auf seiner Intensivstation ein Gerät piept, hört er darin Chopins Trauermarsch – Begräbnismusik. Sein Leben beginnt wieder mit einer Cola und dem ersten Schritt aus der Klinik hinaus in den Nieselregen. "Endlich durchschnaufen können."
War es Glück oder Zufall, der sie hat überleben lassen?
War es Glück oder Zufall, der sie hat überleben lassen? Ein Schutzengel, ein Wunder? Die beiden Priester halten sich mit Deutungen zurück. Schatz sagt, schon als Klinikseelsorger sei er früher – bei einer Krebs-Diagnose, beim plötzlichen Verlust eines lieben Menschen – immer wieder dieser bohrenden Frage begegnet: "Warum ich?" Beim Blick auf die Gedenktafel mit den Namen der zwölf Toten fragt er genau andersherum: "Warum nicht ich?"
Einige "sehr fromme Seelen" hätten die Antwort vermeintlich gewusst: Gott habe die zwei verschont, weil er sie als Priester so notwendig brauche. Mit einem solchen Gott, "der quasi würfelt, wer ihm taugt, und die anderen lässt er umkommen", will der Pfarrer aber nichts zu tun haben. Der Geistliche sagt, er habe "spätestens hier endgültig verstanden, was Gott nicht ist: Er ist nicht einfach Schicksal oder Natur". Vielleicht sei das überhaupt das größte Missverständnis. Gott lasse auch der menschlichen Freiheit ihren Lauf und damit die Möglichkeit von Fehlern zu. Jedenfalls sei nicht Gott beim Unfall am Steuer gesessen. Als "einer, der mitgeht", sei Gott eher mit unter die Räder gekommen.
Die beiden Priester Anton Schatz (l.) und Michael Harrer haben den Brand im Tauerntunnel überlebt.
Auf die Frage nach dem Warum gibt es letztlich keine Antwort, "jedenfalls nicht auf dieser Erde", glaubt Schatz. Das müsse man aushalten, zusammen mit denen, die diese Frage umtreibe, nicht ohne ein Zeichen der Hoffnung zu setzen, ein Licht anzuzünden. Bei Harrer vermuteten manche, das Überleben des Unglücks habe seine Berufswahl beeinflusst. Dem widerspricht er vehement.
Auf Anregung von Schatz gab es schon zum ersten Jahrestag einen Gedenkgottesdienst in der nahe gelegenen Autobahnkapelle Flachau. Auch 10 und 20 Jahre danach standen die Geistlichen dort am Altar. Außer anderen Überlebenden und Hinterbliebenen waren hunderte Helfer dabei. Erst Gottesdienst, dann Brotzeit. Gelegenheit, Geschichten auszutauschen, Danke zu sagen. "Die haben auch was mitgemacht", weiß Harrer. Zum Beispiel als die Feuerwehrleute zuhause ausrichten ließen: "Wir fahren da jetzt rein und wissen nicht, ob wir lebend wieder rauskommen."
"Was wir erlebt haben, verbindet uns zwei noch einmal anders"
In ihren Gemeinden haben die Pfarrer jahrelang nicht darüber geredet, nur wenn sie gezielt angesprochen wurden. So wusste bis vor kurzem kaum einer Bescheid. "Was wir erlebt haben, verbindet uns zwei noch einmal anders", sagt Harrer heute. "Es würde aber an Bedeutung verlieren, wenn wir es ständig vor uns hertragen würden." Bei einer Jugendfahrt hat er dieses Jahr seine Mitreisenden in der Tauernalm zum Essen eingeladen – einfach aus Freude, überlebt zu haben. Dabei hat er ein bisschen was erzählt, Fotos gezeigt vom total zerstörten Auto. "Die haben an dem Abend nicht viel gesagt, aber das müssen sie auch gar nicht." Wenn die beiden Priester etwas nicht wollen, dann ist es Mitleid. In einem Ordner haben sie alles abgeheftet: Fotos, Briefe, Zeitungsberichte, Korrespondenz mit Anwälten und Ärzten. Doch sie holen ihn nur selten aus dem Schrank. Das Leben geht weiter.
Wenn Schatz erzählt, tut er das oft in der dritten Person, weil er sich die Erinnerung von anderen ausborgen muss. Eine Frau hat ihm erst vor Kurzem erzählt, wie sie einen total verrußten Mann noch sehr spät habe aus dem Tunnel kommen sehen. Sie hat ihm ihre Jacke gegeben – gegen den Schüttelfrost. "Von den Wunden her war das zu 99 Prozent ich." Ein befreundeter Psychologe meinte, mit Hypnose könnte er seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Er solle sich das aber gut überlegen, denn da könnten auch schlimme Bilder zum Vorschein kommen. Er wird es nicht tun. Ihm genügt das Wissen, "dass da einer ist, der sich um dich gekümmert hat".
Linktipp: Das Leid anderer Menschen mittragen
"Niemand soll alleine trauern": Die Berlinerin Uta Bolze geht zu Menschen, die gerade einen nahen Angehörigen verloren haben - als Notfallseelsorgerin. Es ist eine riesengroße Herausforderung. (Artikel von Oktober 2017)Der 60-Jährige ist aber fast jedes Jahr am Ort des Geschehens, und sei es zum stillen Gedenken. Mit dem Fahrer des vorderen Lkw und dessen Frau ist er inzwischen befreundet. Unlängst hat er auf einer Alm hoch über dem Tunnel ein paar Urlaubstage verbracht. Dem Unfallverursacher schrieb er schon kurz nach der Katastrophe ein paar aufmunternde Zeilen. Dass er ihm Gottes Segen wünsche. So genau weiß er es nicht mehr. Die Schuldfrage spielte für ihn keine Rolle. Aus der Antwortkarte konnte er wenigstens schließen: "Das hat ihm gut getan."
"Meine zwölf Freunde"
Die Namen der Toten kennen die Pfarrer längst auswendig. Und so manche Geschichte hinter den Namen. Im Gebet fühlen sie sich ihnen nahe. Diese "postmortale Solidarität" sei ihm wichtig, sagt Schatz. So wie er sich freut, wenn er auf einem Friedhof Besucher an einem Grab mit dem Verstorbenen reden hört. Das zeige doch, dass lebendige Beziehungen den Tod überdauerten. Als eine kleine Erfahrung von Ostern.
Schatz ist seinerseits "sowas von gespannt", sollte er einmal in den Himmel kommen, dort nicht nur seine Eltern und Verwandten wieder zu sehen, "sondern auch diese zwölf Leute kennenzulernen – sozusagen von Angesicht zu Angesicht, wie es im Hochgebet der Messe heißt". Er nennt sie "meine zwölf Freunde".