Bibelpastoral: Wie die Heilige Schrift geistigen Hunger stillen kann

2019 hat Papst Franziskus einen "Sonntag des Wortes Gottes" eingeführt, an dem sich die Kirche besonders "der Feier, der Betrachtung, der Verbreitung des Wortes Gottes widmen" soll. Im Januar 2020 wurde der Gedenktag zum ersten Mal begangen. Die Internationale Katholische Bibelföderation hat 2020 ein "Jahr der Bibel" ausgerufen. Auch einige Bistümer haben die Heilige Schrift in den Mittelpunkt ihrer pastoralen Zukunftsprozesse gestellt. Feiert die Bibel gerade eine regelrechte Wiederentdeckung in der katholischen Kirche?
Von einer Renaissance der Bibel will Hans-Georg Gradl nicht sprechen. Die Heilige Schrift werde allerdings gerade in Hinblick auf die großen Umstrukturierungen in der Kirche neu entdeckt, sagt der Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät Trier. "Je einschneidender, spannender und kritischer die Herausforderungen gerade sind, desto notwendiger und nachhaltiger wird der Blick zurück auf die Urkunden unseres Glaubens", so Gradl.
Katholiken entdecken Bibel als spirituelles Lesebuch
Auch wenn unsere Zeit gerade über zweitausend Jahre vom Geschehen des Neuen Testaments getrennt ist, seien die Herausforderungen der Urchristen mit denen von heutigen Gläubigen vergleichbar. "In vielen Teilen sind Christen wieder eine Minderheit, so wie die ersten Jünger Jesu in der Bibel", sagt Gradl.
Die Umstrukturierungsprozesse in der Kirche heute hängen auch mit einem anderen Verständnis der Pastoral zusammen, erklärt Katrin Brockmöller, Direktorin des Katholischen Bibelwerks, das auch die Aufgaben einer Bibelpastoralen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz erfüllt. Die Seelsorge war für die Gläubigen zuvor so ausgerichtet, dass der Papst über die Bischöfe und Priester dafür sorgt, dass jeder Gläubige die Sakramente empfangen und so Zugang zum Heil empfangen kann. Durch Priestermangel und Pfarreizusammenlegungen habe sich das jetzt allerdings grundlegend geändert.

"Viele Gläubige haben die Strukturprozesse satt", sagt Katrin Brockmöller, die Direktorin des Katholischen Bibelwerks. "Es gibt einen großen geistigen Hunger, der nicht allein über die Liturgie gestillt werden kann."
Da nun viele Gemeinden größer und die Angebote vor Ort weniger werden, entdecken zahlreiche Katholiken die Bibel als spirituelles Lesebuch für ihren Alltag – gerade in der Corona-Zeit. An vielen Orten seien deshalb gerade in letzter Zeit neue Bibelgruppen entstanden, so Brockmöller. "Viele Gläubige haben die Strukturprozesse satt. Es gibt einen großen geistigen Hunger, der nicht allein über die Liturgie gestillt werden kann", sagt sie. "Dafür ist die Bibel perfekt."
Während in der Kirche lange Zeit vor allem Priester die Bibel ausgelegt haben, werden jetzt vermehrt auch Gläubige ermutigt, die Heilige Schrift zu lesen und sich darüber auszutauschen. "Was die Pastoral deshalb heute vor Ort braucht, sind Hauptamtliche, die motivieren und ermöglichen, dass Gläubige gemeinsam oder allein die Bibel lesen können und spirituellen Gewinn daraus ziehen", so Brockmöller.
Hauptamtliche Seelsorger als Coaches
Weil viele Christen in den Gemeinden allerdings nicht die Zeit haben, sich monatelang intensiv mit wissenschaftlichen Methoden der Exegese auseinanderzusetzen, sind sie zumindest stellenweise auf Unterstützung angewiesen, um beispielsweise Fragen zur Schöpfungsgeschichte oder den Aussagen von Paulus zur Frau in der Gemeinde zu erklären. "Da muss man Leseschlüssel und Methoden bereitstellen, damit auch nicht-studierte Christen die Bibel richtig verstehen können und nicht allein gelassen werden", sagt Gradl. "Deswegen sind hauptamtliche Seelsorger die Coaches, die an der Gelenkstelle zwischen wissenschaftlicher Beschäftigung und seelsorglicher Aufgabe stehen und deshalb kompetent dabei unterstützen können, die Bibel zu übersetzen."
Auf diese veränderte Rolle bereitet das Katholische Bibelwerk die Pastoralen Mitarbeiter vor, gemeinsam mit dem Bibelforum im Bistum Osnabrück, dem Theologisch-Pastoralen Institut in Mainz und der Fort- und Weiterbildung Freising, einer Einrichtung des Erzbistums München. Der Kurs heißt "Ein Wort wie Feuer" und dient der bibelpastoralen Qualifizierung von Hauptamtlichen in der Seelsorge. Die Bibelarbeit in den Gemeinden funktioniere nicht mehr nur über Predigten und Vorträge, sondern durch gemeinsames Gespräch, sagt Brockmöller. "Dazu braucht es wissenschaftliche Unterstützung in der Exegese, Methodenkompetenz und viel persönliche Erfahrung im Lesen der Bibel."
Diese Fortbildung sei wichtig, um beispielsweise gegen Vereinnahmungen der Bibel vorzugehen. "Wenn wir nicht die Bibel fundiert mit allen Widersprüchen und Herausforderungen kennenlernen und Erklärungen anbieten, dann tun das andere – und das nicht immer aus den besten Motivationen heraus", sagt Gradl.

Es ist wichtig, dass sich pastorale Mitarbeiter mit der Bibel auskennen, sagt Exeget Hans-Georg-Gradl. "Wenn wir nicht die Bibel fundiert mit allen Widersprüchen und Herausforderungen kennenlernen und Erklärungen anbieten, dann tun das andere – und das nicht immer aus den besten Motivationen heraus."
Immer wieder erlebe sie, dass Menschen auch nach dem Theologiestudium beim Thema Exegese verunsichert sind und glauben, sie wüssten zu wenig, sagt Brockmöller. "Da steckt die Vorstellung dahinter, dass man nur dann anderen erklären darf, was in der Bibel steht, wenn man selbst genug weiß." Diese Vorstellung sei aber längst überholt. "Biblische Texte sind literarische Texte. Da gibt es oft nicht die eine richtige Interpretation. Eigentlich wird der Text erst dadurch schön, dass viele Menschen ihn interpretieren, ihre Lebenserfahrung und ihr Wissen einbringen und man sich gegenseitig inspirieren lässt", sagt Brockmöller.
Gerade in der Liturgie fehle ihr aber diese Form der Bibelauslegung durch Gläubige. "Mein Traum wäre, dass man im Gottesdienst den Raum dafür öffnet, dass jeder etwas zu den Texten sagen darf", sagt Brockmöller. Die meisten Menschen würden das allerdings nur aus evangelikalen Kreisen kennen. Es sei schwierig, diese Form im katholischen Gottesdienst zu etablieren.
Gläubige aktiv an der Gottesdienstgestaltung beteiligen
Auch Hans-Georg Gradl würde sich mehr Gottesdienstformen wünschen, die auch Beteiligung zulassen. "Da ist vielleicht manchmal der Gottesdienst zu schematisch oder es fehlt der Mut oder die Kreativität", so der Theologe. Wichtig sei allerdings auch, auf das richtige Setting und die Teilnehmer zu schauen und ob diese sich überhaupt aktiv am Auslegen der Bibeltexte beteiligen wollen oder lieber eine Predigt hören möchten.
Doch auch im Gemeindealltag können Gläubige mehr zur Auseinandersetzung mit der Bibel motiviert werden. "Es gibt Pfarreien in Deutschland, in denen es keine Bibelgruppe gibt. Und das geht eigentlich nicht", sagt Brockmöller. Diese können sogar offen für alle Christen gestaltet und so eine Chance für die Ökumene beinhalten. Und auf diese Weise können die Gemeindemitglieder auch aktiv an der Gestaltung der Gottesdienste beteiligt werden, sagt Brockmöller. "Wenn es in jeder Gemeinde eine Gruppe geben würde, die sich einmal in der Woche trifft und über das Sonntagsevangelium und die Lesungen spricht, wäre schon viel gewonnen."