Bischof von Dresden-Meißen fordert demütige Seelsorge und Hilfe für Betroffene

Timmerevers: Müssen uns verstärkt um geistlichen Missbrauch kümmern

Veröffentlicht am 09.11.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Dresden ‐ Der Fall der Integrierten Gemeinde zeigt, wie anfällig eine Religionsgemeinschaft wie die katholische Kirche für geistlichen Missbrauch ist, schreibt Bischof Heinrich Timmerevers. In einem Gastbeitrag für katholisch.de wirft er einen Blick auf gefährliche Seelenführer und die Suche nach einem neuen Umgang.

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Was einerseits mit seiner Faszination als einer der "profiliertesten Aufbrüche und Bewegungen innerhalb der Kirche" bewertet wurde, führte andererseits durch Angst, Abhängigkeit und Bedrängnis zur Preisgabe eigener Autonomie unter dem Mantel des Christlichen. "All dies ist strafrechtlich nicht fassbar, hat aber über weite Strecken den Charakter von geistlichem Missbrauch." Der Artikel "Der Gottesbeweis" in der aktuellen Ausgabe der Herder Korrespondenz stellt die Ambivalenz der Integrierten Gemeinde und den Umgang der Kirche mit ihr dar – und führt vor Augen, wie anfällig eine Religionsgemeinschaft wie die katholische Kirche sein kann, mit der Berufung auf Gott die geschenkte Freiheit des Individuums zu missbrauchen. Oder um es mit den Worten des emeritierten Papstes zu schreiben: Im guten Willen, den Glauben zu fördern, waren "schreckliche Entstellungen des Glaubens" geschehen. Und bleiben bis heute möglich.

Verantwortung bei Bekämpfung von geistlichem Missbrauch ernst nehmen

Nach einem Jahrzehnt des Lernens über Ursachen und kirchlich-strukturelle Blindheit beim Umgang mit dem sexuellen Missbrauch, hat die Kirche die große Verantwortung im missbrauchsempfindlichen Feld der Seelenführung die Perspektive der Betroffenen endlich ernst zu nehmen. Denn Aussteigerberichte sind zuvorderst eben nicht "von begrenzter Glaubwürdigkeit", wie die Herder Korrespondenz Reaktionen auf Berichte formuliert. Stattdessen sind es vollständig ernstzunehmende Empfindungen von Menschen, die sich nach einer lebendigen Beziehung zu Gott gesehnt haben, anderen dafür ihr Vertrauen schenkten und zurückblickend feststellen, dass dabei die Freiheit ihrer eigenen Person nicht vollumfänglich geachtet wurde. Statt eine transzendente Beziehung zu fördern, wurde der Glaube an einen liebenden Gott für diese Menschen nachhaltig beeinträchtigt und so unser Auftrag, empathische Seelsorger zu sein, durch Täterinnen und Täter aus den Reihen der Kirche pervertiert.

Aus der Verantwortung für die Betroffenen geistlichen Missbrauchs resultiert die Verpflichtung zu einer umfassenden Sensibilisierung für das Phänomen auf allen Ebenen kirchlichen Lebens und Handelns, um weiteren geistlichen Missbrauch möglichst zu verhindern und Kirche als einen sicheren Ort für die gemeinsame Glaubenserfahrung zu bewahren. Voraussetzung hierfür ist die präzise Analyse der Mechanismen und Umstände geistlichen Missbrauchs. Es geht nicht um "Nestbeschmutzung", sondern um Glaubwürdigkeit an der Wurzel kirchlichen Wirkens.

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Video: © katholisch.de

Missbrauch ist immer eine Katastrophe, davon ist Sr. Katharina Kluitmann überzeugt. Die Vorsitzende der Deutschen Ordensobernkonferenz warnt deshalb vor geistlichem Missbrauch. Im Interview kommt sie auf die besonderen Herausforderungen der Orden beim Schutz von Minderjährigen zu sprechen.

Natürlich sind seelsorgliche Beziehungen und Gruppenkonstellationen stets durch Machtverhältnisse geprägt. Diese Macht ist in ihrer moralischen Bewertung zunächst neutral; erst durch ihre Ausübung wird sie zum Segen oder Fluch. Im Moment fehlt der Kirche allein die Definition, wie sich geistlicher Missbrauch fassen lässt. Dies macht deutlich, wie sehr die Institution mit dem adäquaten Umgang mit dem Phänomen am Anfang steht. Klaus Mertes bezeichnete es einen "Missbrauch geistlicher Macht", der immer dann geschieht, wenn es zu einer "Instrumentalisierung […] der Gottesbeziehung einer Person […] zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und Ziele" (Bischof Felix Genn) kommt. Dies ist etwa der Fall, wenn spirituelle Begleiterinnen und Begleiter "beanspruchen, erkennen und anderen Menschen sagen zu können, was Gott von ihnen will" und deshalb die "Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes" zu ihrem eigenen Vorteil befördern. Theologisch ist ein solches Verhalten als "Verstoß gegen das Erste Gebot" (Klaus Mertes) zu bewerten: Eine persönliche Beziehung zu Christus als "Weg, Wahrheit und Leben" (Joh 16,4) wird dadurch teils für immer verdunkelt.

Seelsorge kann als Schutzraum für existentielle (An-)Fragen fungieren. Die eigene Gottesbeziehung, das Verhältnis zu nahen Mitmenschen und die Weiterentwicklung als Persönlichkeit können hier im Vertrauen zum Thema werden. Damit geht jedoch eine enorme Verantwortung für Seelsorgerinnen und Seelsorger einher, da gerade hier Nähe entsteht und das Wissen um persönlichste Belange einem Gegenüber anvertraut wird. Deshalb ist es als Seelsorger oder Seelsorgerin dringend geboten, die eigene Rolle in Seelsorgebeziehungen kritisch zu reflektieren, um so geistlichen Missbrauch bereits in den Anfängen zu unterbinden. Es bedarf Standards geistlicher Begleitung und einer Lernbereitschaft über die gesamte Berufsbiografie hinweg.

Priesterliche Lebensform als auch die Frage der gemeinsamen Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag sind davon betroffen. Wo die Spiritualität dazu neigt, Persönlichkeiten zu brechen, braucht es Strukturen des Widerspruchs, die den Menschen in seinem Selbst stärken. Weil Gott keine Marionetten will, sondern selbstbewusste Glaubenszeuginnen und –zeugen.

Wir werden als Deutsche Bischofskonferenz nicht umhin kommen, uns diesem Thema verstärkt anzunehmen. Dabei braucht es ein besonderes Augenmerk auf das künftige Verständnis der Seelsorge. Es ist eben keine exklusive Ermöglichung der Gottesbeziehung eines anderen Menschen, sondern als bloße Unterstützung der Gottesbeziehung des Gegenübers oder gar als gemeinsames Wachsen zu begreifen. Gelingende Seelsorge lebt von einer großen inneren Weite der Seelsorgerinnen und Seelsorger, die nicht immer bereits vorher wissen, was "richtig" und "falsch" ist.

„Menschen, die im Raum der Kirche an anfälligen pastoralen Beziehungen und Strukturen Kritik üben, leisten der Kirche einen wichtigen Dienst.“

—  Zitat: Bischof Heinrich Timmerevers

Die Widerstandsfähigkeit und Sensibilität gegenüber geistlichem Missbrauch zu steigern ist darüber hinaus eine Querschnittsaufgabe für die Sakramentenkatechese, den Religionsunterricht, die Predigt und die Gemeindepastoral. Neben einer kritischen Reflexion des vermittelten Gottes- und Seelsorgerbilds und der Überwindung eines gegensätzlichen Kirche-Welt-Verhältnisses bedarf es vor allem der Stärkung einer eigenverantwortlichen Gottesbeziehung und eines "Muts zu zweifeln". Die Förderung theologischer Sprachfähigkeit, religiöser und liturgischer Mündigkeit und spiritueller Eigenständigkeit von Christinnen und Christen ist zugleich Präventionsarbeit gegen geistlichen Missbrauch.

Standardisierte Mechanismen analog zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs

Auf institutioneller Ebene gilt es, analog zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche über die Schaffung von interdiözesan standardisierten Mechanismen zur Meldung, Dokumentation, Aufarbeitung und Entschädigung nachzudenken und insbesondere die Vermittlung und Finanzierung einer psychologischen Betreuung für Betroffene im Anschluss an erlebten geistlichen Missbrauch zu stärken und Beratungsangebote auszubauen. Es wird nachzudenken sein, ob und wie Ergänzungen im kirchlichen Straf- und Arbeitsrecht vorzunehmen sind. In der katholischen Kirche Deutschlands wird das Thema in den kommenden Monaten sicherlich auch im Rahmen des Synodalen Wegs eine Rolle spielen.

Menschen, die im Raum der Kirche an anfälligen pastoralen Beziehungen und Strukturen Kritik üben, leisten der Kirche einen wichtigen Dienst. Es sollte der Kirche in Deutschland gelingen, die Betroffenen zur Anzeige gegenwärtigen oder auch weiter zurückliegenden geistlichen Missbrauchs zu ermutigen. Dies wird schmerzen. Aber es wird uns helfen, ehrlich zu erkennen, wo wir in der Verkündigung der Frohen Botschaft fehlgeleitet sind. Es wird uns erneut persönliches und institutionelles Versagen vor Augen führen und fordern, einen angemessenen Umgang mit Tätern oder Tätergemeinschaften zu finden. Die Betroffenen dadurch aus Angst, Abhängigkeit und Bedrängnis hinauszuführen und die Gläubigen die von Gott geschenkte Freiheit spüren zu lassen, soll das christliche Handeln bestimmen. Es ist an uns als Seelsorgerinnen und Seelsorger, dem großen Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, jeden Tag aus Neue gerecht zu werden.

Von Bischof Heinrich Timmerevers

Fachtagung "Gefährliche Seelenführer?"

Der wissenschaftliche Analyse und der Prävention geistlichen Missbrauchs widmet sich die interdisziplinäre Fachtagung "Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch". Gäste sind unter anderem der Jesuit und Psychiater Echkard Frick, die Erfurter Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens und Münsters Bischof Felix Genn. Die Tagung findet am 12./13. November coronabedingt ausschließlich online statt. Weitere Informationen und Anmeldung sind auf der Homepage der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen möglich.

Linktipp: Benedikt XVI. geht auf Distanz zu "Katholischer Integrierter Gemeinde"

Gegen die Gemeinschaft der "Katholischen Integrierten Gemeinde" wurden schwere Vorwürfe erhoben. Kirchlich anerkannnt hatte sie einst der Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI. Der distanziert sich jetzt.