Serie zum Gotteslob: Den Glauben singen – Teil 6

"Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr": Klage und Trost im Lied

Veröffentlicht am 31.07.2021 um 13:00 Uhr – Lesedauer: 

Essen ‐ Das Singen im Gottesdienst kann nicht nur Lob und Freude sein, schreibt Stefan Klöckner. Wenn einem der Glaubensjubel im Hals stecken bleibt, braucht es Lieder wie "Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr". Es schafft Raum für das Gefühl der Gottesferne – und hofft zugleich auf seinen Trost.

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"Gott klingt wie eine Antwort, und das ist das Verderblichste an diesem Wort, das so oft als Antwort gebraucht wird. Er hätte einen Namen haben müssen, der wie eine Frage klingt." Dieser Satz des niederländischen Dichters Kees Nooteboom beleuchtet eine Facette unseres Gottesbildes, die im Kirchenlied nicht oft thematisiert wird, obwohl sie allen betenden Menschen doch wohl vertraut ist. Das Singen im Gottesdienst kann nicht nur Lob und Ausdruck der Freude sein: Welche Gesänge aber stimmen wir an, wenn uns persönlich oder als Gesellschaft/Gemeinde ein Unglück trifft, wenn im Gebet die Fragen überwiegen und die Zweifel stärker sind als aller Glaubensjubel?

Am 26. April 2002 (es war damals ein Freitag) geschah, was es bis dahin in Deutschland noch nicht gegeben und was man auch nicht für möglich gehalten hatte: Ein Gymnasiast erschoss bei einem Amoklauf in Erfurt 16 Menschen und dann sich selbst. Deutschland hielt den Atem an – die Gesellschaft war paralysiert; was man bis dato von Fernsehberichten aus den USA kannte – es war nun ein erschütterndes Stück deutscher Realität geworden! Diejenigen, die ihre Gottesdienstvorbereitungen für den nun folgenden Samstag und Sonntag bereits abgeschlossen hatten, sahen sich mit der Erkenntnis konfrontiert, dass es ein liturgisches "business as usual" auf keinen Fall geben durfte: Zu tief saß der kollektive Schock über die Ereignisse!

Huub Oosterhuis: vom Jesuit zum überkonfessionellen Dichter

Nicht wenige Gottesdienste dürften in den folgenden Tagen mit einem Lied des niederländischen Dichters Huub Oosterhuis (*1933) begonnen haben, das schon im alten Gotteslob stand und selbstverständlich auch in das neue Gotteslob von 2013 übernommen wurde (GL 422): "Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr" – so auch in der Heimatgemeinde des Verfassers dieser Zeilen. Schon damals hatte man das Gefühl: Die Bilder dieses Textes treffen die Situation – diese Fragen sind auch unsere Fragen. Wie dankbar konnte man als Gottesdienst-Feiernder damals sein, im Gesangbuch ein Lied zu finden, das Raum gab für das Unfassbare eines solchen Geschehens und das der Hilflosigkeit des Menschen im Angesicht Gottes Ausdruck verlieh.

Hubertus Gerardus Josephus Henricus (genannt Huub) Oosterhuis wurde 1933 geboren. Er trat in den Jesuitenorden ein und empfing 1965 die Priesterweihe. Ab diesem Jahr war er als Studentenpfarrer in der "Amsterdamer Studentenekklesia" tätig. Wenig später wurde er seiner kirchenpolitischen Ansichten wegen aus dem Jesuitenorden entlassen; er trat aus der katholischen Kirche aus und heiratete. Auch die Studentenekklesia löste sich von der katholischen Kirche und stellte sich ökumenisch neu auf.

Seit dieser Zeit versteht sich Oosterhuis als überkonfessionell tätiger Theologe und Dichter; er gehört zu den wichtigen Figuren der christlichen Kultur in den Niederlandes. Im Jahr 2002 hielt er eine sehr persönliche und bewegende Ansprache während des Trauergottesdienstes für Prinz Claus von Amsberg, den verstorbenen Ehegatten der niederländischen Königin Beatrix, mit dem Oosterhuis eng befreundet war.

Der niederländische Theologe und Dichter Huub Oosterhuis
Bild: ©picture alliance / ANP XTRA | Roos Koole

Der niederländische Theologe und Dichter Huub Oosterhuis wurde 1969 wegen kirchenkritischer Positionen aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen. Seine Liedtexte erfreuen sich konfessionsübergreifend größter Beliebtheit – sechs davon finden sich auch im neuen Gotteslob.

Früh bereits war Huub Oosterhuis als Dichter religiöser Lieder hervorgetreten. Zuerst schuf er Texte, die auf spätmittelalterliche und barocke Melodien gesungen wurden; dann – ab 1960 – begann die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem damaligen Jesuitenpater und Musiker Bernard Huijbers (1922-2003, 1973 ebenfalls aus dem Orden ausgeschieden). Huijbers vertonte viele der Texte von Oosterhuis und orientierte sich dabei an seinem Vorbild Joseph Gelineau SJ (1920-2008), der in der Schaffung muttersprachlicher Liturgiegesänge eine wegweisende Arbeit geleistet hatte. Später kam mit Antoine Oomen (*1945) eine weitere wichtige Komponistenpersönlichkeit hinzu.

Um die Texte von Oosterhuis gab es vor einigen Jahrzehnten heftige Auseinandersetzungen: In einige niederländische Gesangbucheditionen wurden sie nicht mehr aufgenommen, weil sich (so das Hauptargument einiger Bischöfe) der Dichter von der katholischen Kirche und damit auch von ihrer Lehre abgewendet habe. Für die Erneuerung des Gotteslobs blieb diese Scheindiskussion (um nicht von einer theologischen Spiegelfechterei zu sprechen, an der sich leider auch einige deutsche Bischöfe beteiligten) jedoch erfreulicherweise ohne Konsequenzen – sechs seiner Liedtexte wurden 2013 in den Stammteil aufgenommen: "Herr, unser Herr, wie bist du zugegen" (GL 414), "Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr" (GL 422), "So lang es Menschen gibt auf Erden" (GL 425), "Wer leben will wie Gott auf dieser Erde" (GL 460) und "Gott, der nach seinem Bilde" (GL 499) sowie die Litanei von der Gegenwart Gottes "Sei hier zugegen" (GL 557) – mit Blick auf die Popularität und Substanz dieser Gesänge kann man nur hinzufügen: Gottseidank ist dies geschehen!

Biblische Bezüge und aktuelle Perspektiven

Die Texte von Huub Oosterhuis zeichnen sich durch enge biblische Bezüge und zugleich durch einen lebensnahen Sprachstil aus. Ihr Anliegen ist es, den "Raum des vollständigen Lebens" (so der niederländische Maler-Poet Lucebert, 1924-1994) zu umgreifen; Texte moderner geistlicher Lieder durften eben nicht – wie es Kurt Marti ausdrückt – "'zeitlos' und 'unversehrt' an der versehrten Gegenwart und ihren brennenden Fragen vorbeiplätschern". Hierin blieb das dichterische und seelsorgliche Wirken von Oosterhuis der Zeit verpflichtet, in der es begann. Die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren nicht nur vom innerkirchlichen Aufbruch, sondern auch von einer zunehmend sozialen und politischen Ausrichtung der Kirche bestimmt; als Beispiel sei nur der Essener Katholikentag von 1968 mit seinem Motto "Mitten in dieser Welt" erwähnt.

In den Niederlanden erschien 1966 der "Holländische Katechismus" (eigentlich "De nieuwe katechismus", 1968 in Deutsch als "Glaubensverkündigung für Erwachsene" erschienen), der die alten Glaubensinhalte in eine zeitgemäße Sprache bringen und von der Situation des modernen Menschen her beleuchten wollte. Oosterhuis' Dichtungen setzten und setzen bis heute diese christlich-aktuelle Perspektive um, alte Texte und Formen werden dabei aufgegriffen und "abgetaut", um sie wieder "flüssig" zu machen (Cornelis G. Kok).

"Ik sta voor U" – geschrieben als moderne Totenklage

Als 1966 ein erst 26 Jahre altes Mitglied der Studentenekklesia starb, schrieb Oosterhuis Texte für eine moderne Totenliturgie – darin auch das Lied "Ik sta voor U in leegte en gemis" (wörtlich "Ich steh vor dir in Leere, fehlgeschlagen"). 1970 wurde es als selbständiges Lied herausgegeben und fand relativ rasch weite Verbreitung – so auch durch die Aufnahme in das Gotteslob von 1975. Die Melodie war bereits vor dem Text entstanden; Bernard Huijbers schrieb sie 1961 als einen alternativen Entwurf zu den traditionellen Liedmelodien des Genfer Psalters (oder auch Hugenottenpsalter, Genf 1539). Im Stil und in der Art der Vertonung ist dieses Vorbild noch präsent: Wie der Psalter benutzt auch die Huijbers-Melodie fast ausschließlich zwei Notenwerte (im Original Viertel und Achtel, in der Übertragung des Gotteslobs Halbe und Viertel), denen der Text syllabisch unterlegt ist: pro Note eine Silbe. Dabei verläuft die Melodie ohne große chromatische Veränderungen im Rahmen einer Tonart.

Die im Gotteslob abgedruckte Textfassung stammt vom Frankfurter Dichter-Pfarrer Lothar Zenetti (1926-2019). Die Übersetzung eines modernen fremdsprachigen Textes ist immer heikel. Zu einem guten Stück muss der Text eine Neudichtung sein – und dafür braucht es eben einen Dichter "auf Augenhöhe" des Verfassers. Das ist mit Lothar Zenetti jedoch absolut der Fall – auch wenn in seiner Version einige Details aus dem Niederländischen dabei keine Berücksichtigung finden konnten.

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Video: © Benjamin Krysmann

"Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr" (GL 422) gesungen von der Kantorei St. Stephanus singt in der katholischen Kirche St. Stephanus in Frankfurt/Main-Nieder-Eschbach.

Es handelt sich um ein "Du"-Lied: Auch in tiefer Trauer und Verzweiflung verliert der Beter das DU Gottes über alle drei Strophen hinweg nicht aus den Augen. Fast fühlt man sich an die chassidische Erzählung des "Dudele" von Martin Buber erinnert: "Wo ich gehe – DU, wo ich stehe – DU ... Ergeht's mir gut – DU, wenn's weh mir tut – DU ... immer DU."

Die erste Zeile, die man im Grunde nicht aus dem Niederländischen passend ins Deutsche bringen kann, hat Zenetti großartig zum Ausdruck gebracht: mit leeren Händen vor Gott stehen! Zwar hat Gott dem Moses seinen Namen offenbart ("Ich bin der, der für euch da ist" – Ex 3,14); wo Menschen aber diese Anwesenheit Gottes nicht spüren können, sondern unter seiner Abwesenheit leiden, bleibt ihnen dieser Name und die in ihm ausgesprochene Verheißung "fremd" – so fremd wie seine Wege, die eben nicht die Wege des Menschen sind (Jes 55,8). Fast ironisch klingt denn auch die Frage, ob denn der Tod der einzige "Segen" sei, den Gott dem Beter bereitet; dann wäre tatsächlich die Zukunft auf Dauer verschlossen, alle Perspektive verloren.

Verzweiflung im Glauben – und das Sehen mit neuen Augen

Ein inhaltlicher Unterschied zwischen der niederländischen und der deutschen Fassung ist in der letzten Zeile der ersten Strophe auszumachen: Wo es im Original heißt: "Heer, ik geloof, waarom staat Gij mij tegen?" (Herr, ich glaube – warum stehst du mir entgegen?), schrieb Zenetti "Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen." Hier geht es jedoch ursprünglich nicht nur um die Verzweiflung eines Menschen, dem der Glaube schwerfällt und der Angst vor der Anfechtung des Zweifelns hat (im Sinne von Mk 9,24 "Ich glaube – hilf meinem Unglauben!"). In der existentiellen Notsituation, aus der heraus dieser Text entstanden ist, wird nachvollziehbar, dass der Beter in Gottes Handeln selbst das Widerständige zu erkennen meint, das ihn am Glauben hindert ("Ich schreie zu dir, und du antwortest mir nicht; ich stehe da, und du starrst mich an." Hiob 30,20).

Wie die erste Strophe endet, so beginnt die zweite: Die Zweifel halten den Beter völlig in ihrem Bann; er empfindet sein Unvermögen, auf ein gutes Ende zu hoffen und glaubend zu vertrauen. Gerade in solchen Textzeilen kommt die Gefühlsrealität vieler Menschen zum Ausdruck, die einen Verlust erlitten haben und denen es schwerfällt, sich mit dem manchmal vorschnell in der Liturgie thematisierten "österlichen Sinn des Todes" trösten zu lassen. Zuerst müssen nicht nur Trauer und Angst, sondern auch die Zweifel (sogar die Zweifel an Gottes Anwesenheit und gütige Zuwendung) ihren Platz haben.

Dann aber wird der Beter behutsam bei der Hand genommen und weiter geführt: Warst es nicht DU, der mir zugesagt hat, meinen Namen in seine Hand zu schreiben (Jes 49,16)? Darf ich mich also darauf verlassen: Wo DU "handelst", da bin ich mit im Spiel? Die Verheißung des gelobten Landes wird als biblisches Bild aufgenommen und in die subjektive Perspektive des Beters übersetzt: Hier geht es um das Reich, in dem alles Trennende und Schmerzliche überwunden ist – wo Gott alle Tränen abwischen wird und wir ihn "mit neuen Augen" sehen werden, so wie er ist (Offb 21,4).

Gegenwart Gotte im eigenen Gebet

Die dritte und letzte Strophe ist geprägt von Bitten: "Sprich" – "schließ auf" – "lass mich leben" – "sei". Am Anfang steht die Bitte um Trost und Befreiung aus der Nacht der Trauer – so, "wie eine Mutter ihren Sohn tröstet" (Jes 66,13), erbittet der Beter den Trost Gottes durch das Wort "Komm!". So will er in den Frieden gelangen und in dem Land leben, in dem es keine (zeitlichen und räumlichen) Grenzen gibt und die Gesegneten des himmlischen Vaters, die Gottes-Kinder, beieinander sind. Es mag das Land sein, in dem sich auch so manche kindliche Hoffnung erfüllt, geliebte Menschen wiederzusehen, die man in dieser Welt aus den Händen geben musste.

Die letzte Zeile des Liedes erinnert an das achte Kapitel des Römerbriefes: "Der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können." (Röm 8,26) In uns seufzt also Gottes Geist, wenn uns die Worte fehlen; in uns atmet er und bringt die Zweifel und Sorgen, die Ängste und Nöte zum Ausdruck. Auch das Klagen – ja, sogar die Anklage Gottes geschieht in seinem Geist und mit seinem Odem: Das ist wohl die geheimnisvollste Dimension der Solidarität Gottes mit uns leidenden und seufzenden Menschen: "Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete."

Von Stefan Klöckner

Der Autor

Der Musiker, Musikwissenschafter und Theologe Stefan Klöckner (*1958) ist Professor für Musikwissenschaft/Geschichte der Kirchenmusik und Gregorianischen Choral an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Als Gründer und Leiter des "ensemble VOX WERDENSIS" widmet er sich der Interpretation mittelalterlicher Musik.

GL 422: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr

1. Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr;
fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen.

2. Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand,
in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?

3. Sprich du das Wort, das tröstet und befreit
und das mich führt in deinen großen Frieden.
Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt,
und lass mich unter deinen Kindern leben.
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst.
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

Text: "Ik staa voor U", Huub Oosterhuis (1966)
Übertragung: Lothar Zenetti (1973)
Melodie: Bernhard Huijbers (1964)