Ein Blick auf die Vision aus der Offenbarung des Johannes

Eine Megacity Gottes: Impulse der Hoffnung aus der Apokalypse

Veröffentlicht am 17.10.2021 um 12:44 Uhr – Lesedauer: 

Vallendar ‐ Was bringt die Zukunft? Nichts Gutes, mag man angesichts von Leid und Umweltkatastrophen meinen, vielmehr winken "apokalyptische" Zustände. Die Neutestamentlerin Margareta Gruber hat sich die Apokalypse einmal vorgenommen – und ungeahnt viele Hoffnungszeichen gefunden.

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Unsere Zeit denkt ihre Zukunft als Katastrophe. Und es ist ein Buch der Bibel, das der Katastrophe den Namen gab: Apokalypse. Unsere Gegenwart hat sich jedoch von der biblischen Vorstellung, dass durch die Katastrophe in ihrer apokalyptischen Form, also durch Zerstörung, Gericht und Kampf hindurch, das Neue, die Erlösung, auf uns zukommt, verabschiedet. Zukunft ist das, was der Mensch macht – oder verschuldet. Auch in vielen Christen und Christinnen lebt die bange Frage: was wird auf uns zukommen? Viele fühlen sich ohnmächtig und gelähmt.

"Wie nie zuvor", so der Pariser Theologe Christoph Theobald, "muss 'humanitas' als solche von der Menschheit gewollt werden; was voraussetzt, dass sie nicht an ihrer Zukunft verzweifelt." Woher aber stammt die Kraft für diese Aufgabe? Ich möchte dafür die Schlussvision der Heiligen Schrift neu zum Leuchten bringen. Die jüdisch-christliche Bibel beginnt mit einem Schöpfungsgedicht und dem Garten Eden und endet mit der Vision einer Megacity, einem von Gottes Glanz erhellten urbanem Friedensraum für die Völker. Darin liegt eine Provokation, aber gleichzeitig ein großes Potenzial an Hoffnung und Trost.

"Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat." (Offb 21,1-2)

Was sieht der Visionär? Er sieht eine neue Stadt. Sie heißt Jerusalem, obwohl Jerusalem in Trümmern liegt – von den Römern zerstört. Die Vision gibt sie jedoch nicht auf, sondern zeigt sie als von Gott neu auf die Erde herabkommend. Nicht Weltflucht ist das Programm, sondern eine neue Schau der urban geprägten Gesellschaft. Es geht weder um eine Schau des Jenseits noch um die Vorhersage des Weltendes. Es geht um eine Schau gegenwärtiger und zukünftiger urbaner Friedensräume aus der Perspektive der Vollendung, die von Gott her auf unsere Welt zukommt.

Werfen wir einen Blick auf diese himmlische Stadt auf der neuen Erde.

Eine neue urbane Welt

Noch einmal und ganz zentral: Die "neue Erde" ist eine urbane Welt; das, was wir oft das Paradies nennen oder den Himmel, das Symbol des "Jenseits" schlechthin, wird als Stadt auf der (neuen) Erde gezeichnet. Vor den Augen antiker Leser und Leserinnen entsteht eine ideale hellenistische Polis. Das Signal ist deutlich: die Bilder der himmlischen Stadt wollen auch politische Theologie sein.

Im Unterschied zu populären Bildern und Vorstellungen von einer "erlösten", "paradiesischen" Welt ist die neue Welt Gottes gerade nicht der wiederhergestellte Urzustand des Paradieses. Die Vision der Stadt besagt: Vollendung ist nicht wiederhergestellte Natur, sondern erlöste Kultur. Das will sagen, dass die gesamte Geschichte der Menschheit mit ihrer Kulturleistung, die nach jüdischem und christlichem Verständnis eine Geschichte Gottes mit den Menschen ist, in diese Vollendung eingehen wird. Man möge sich also vorstellen, dass die Schönheit eines Mozartrequiems mit der Schönheit einer Koranrezitation, um nur symbolisch zwei Ausdrucksformen religiös-kultureller Schönheit zu nennen, gemeinsam in dieser Stadt existieren werden, beide in verwandelter Gestalt und nicht mehr in Konkurrenz zueinander. Ein vergleichbares Beispiel für das in der erlösten Stadtkultur bestehende Gleichgewicht von Biosphäre und Technosphäre kann ich mir nicht vorstellen ohne phantastisch zu wirken. Wie stellt man sich eine Fabrik vor, aus deren Abflüssen Heilwasser strömen, in denen Kinder baden?

Nach inoffiziellen Schätzungen sollen in der Megacity Lagos 18 Millionen Menschen leben.
Bild: ©KNA

Megacities unserer Zeit haben nicht unbedingt utopischen Charakter: So leben in Lagos etwa 18 Millionen Menschen.

Die Schrift endet also nicht mit einem Ferienkatalog mit Strand unter Palmen für erschöpfte Städter, sondern mit einer gewaltigen geistigen Provokation. Wir bekommen etwas gezeigt, das einen Auftrag enthält: so etwas wie die Blaupause des uns nach wie vor aufgegebenen Lebensraums.

Schönheit und Transparenz, nicht Reichtum und Sicherheit

Die Größe der Stadt ist ins Surreale gesteigert: Ein Kubus von 12.000 Stadien, also 2200 km! (Offb 21,15-17). Die Größe dieser Mega-City Gottes überdeckt damit das Imperium Romanum in seiner gesamten Ausdehnung! Auch die Kostbarkeit der Stadt sprengt jedes Maß. Marmor, das ideale Baumaterial einer Kaiserstadt, wird nicht einmal erwähnt. Stattdessen ist die Stadt aus Perlen und Edelsteinen erbaut. Schönheit und Transparenz kennzeichnen sie, nicht Reichtum und Sicherheit.

Deshalb gibt es keine Häuser für Menschen in dieser Stadt, keinen abgeschlossenen Wohnraum, nur Straßen und Tore als die biblischen und orientalischen Orte der Kommunikation. Alles ist Bewegung im Licht, freie und ungehinderte, angstfreie Begegnung und Austausch auf ihrer Straße aus "reinem Gold, wie aus klarem Glas" (Offb 21,21). Das Neue Jerusalem zeigt nicht einen Raum für Menschen, sondern es zeigt Menschen als Raum. Eine neue Art von Grenzen überschreitender Beziehung wird als neue Art von gemeinschaftlichem Raum imaginiert: Spatiale (räumliche) und personale Kategorien veranschaulichen sich gegenseitig und bilden so eine Vision des Friedens. Der Reichtum der Völker und Kulturen wird in diese Stadt gebracht, die keinen Ausschluss und keine Abgrenzung mehr nötig hat und ihre Tore deshalb bei Tag und Nacht nicht schließt (Offb 21,24-26). Das bedeutet, dass in dieser Stadt alle Nationen ein Wohnrecht erhalten (Ps 87,5).

Im Neuen Jerusalem verkörpert sich ein neuer spatialer Kontrakt (spacial contract), wie ihn zeitgenössische Städte- und Raumplanerinnen angesichts zunehmender politischer Spaltung und wachsender ökonomischer Ungleichheit fordern und zu verwirklichen trachten. Wie werden wir zusammen leben? Das ist die brennende Frage in einer Welt verdichteter Städte, in denen Menschen trotz zunehmender Individualisierung danach verlangen, sich miteinander und mit anderen Spezies im digitalen und realen Raum zu verbinden. "How will wie live together" ist deshalb das Thema der aktuell in Venedig zu sehende Biennale Architettura 2021. Der – virtuelle – Gang durch die Weltausstellung liest sich als faszinierendes Studium der biblischen Utopie, konzipiert und realisiert von Architekten, Ingenieurinnen, Handwerkern, Künstlerinnen, Politikern und Bürgerinnen aus der ganzen Welt. Das zeigt die Aktualität der himmlischen Stadt und ihrer spatialen Utopie, die die theologische Eschatologie aus dem Blick verloren hat.

"Kein Tempel" oder: alles ist Tempel

Das Wichtigste, was der Seher in dieser Stadt sieht, ist das, was er nicht sieht: "Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm" (Offb 21,22). Auch Gott hat kein "Haus" mehr, denn sein "Thron" ist auf einem Platz in der Mitte der Stadt; genauer gesagt ist die ganze Stadt der Platz, dessen Mitte der Thron ist. Die Vision zeigt keinen Raum für Gott, sondern Gott als Raum. Das bedeutet keine Verneinung des Kultes, sondern seine Radikalisierung: Es ist der radikalisierte Kult, die Heiligkeit Gottes selbst, die sich universal ausbreitet, das Profane ergreift und es sich verwandelnd einverleibt. Deshalb gibt es keine Trennung mehr zwischen heilig und profan, und selbst die Grenze von Leben und Tod, Gott und Mensch sind in diesem Wirkraum des Geistes aufgehoben. Die neue Stadt ist die grenzenlos sich ausbreitende Wirksamkeit des Auferstandenen.

Eine leere Kirche (Symbolbild)
Bild: ©katspi/Fotolia.com

Es gibt "keine Trennung mehr zwischen heilig und profan, und selbst die Grenze von Leben und Tod, Gott und Mensch sind in diesem Wirkraum des Geistes aufgehoben", schreibt Margareta Gruber .

Die himmlische Stadt Jerusalem gibt der Botschaft der Auferstehung eine visionäre und zugleich konkrete Gestalt. In ihr wird die ordnende Kraft, die "vielbunte Weisheit" (Eph 3,10) und Schönheit Gottes, das Wirken des Geistes, städtebaulich visualisiert. Sie ist der nicht von Händen gemachte Tempel des Auferstandenen (Mk 14,58, vgl. Joh 2,21). Das vollendete Heiligtum ist biblisch jedoch das Zentrum des Kosmos; wenn Gott darin wohnt, bewohnt er darin auch den vollendeten Kosmos. Die Bewegung der vollendenden Transformation, die auch den Kosmos ergreift, geht aus vom Lamm, das geschlachtet ist und aufrecht steht, vom gekreuzigten und auferstandenen Christus, der im Geist gegenwärtig ist und wirkt. 

Ein Heilgarten für die Völker

Der kristallklare Lebensstrom, der bei Ezechiel vom Tempel ausgeht, strömt im Himmlischen Jerusalem vom Thron Gottes und des Lammes aus mitten durch die Stadt. Die Stadt ist der erneuerte Garten Eden mit dem Baum des Lebens für alle, ein Heilgarten für die Völker (vgl. Jes 30,26). Wozu bedarf es der Heilung, wenn die Tränen abgewischt sind und Geschrei und Schmerz nicht mehr sein wird? Wie der Glanz der Stadt, die Dynamik der Liebe, nicht erlischt, so endet auch nicht die Heilerfahrung der Völker in ihr, denn beides geht von derselben Quelle aus.

Wir lesen die biblische Botschaft von der guten Schöpfung heute vor dem Hintergrund unserer Sorge um die für die Noch–nicht–Geborenen bedrohte Erde. Wir suchen nach Quellen der Inspiration für unsere Verantwortung und nach den Ressourcen, aus denen sie sich nähren kann. Was die Heilige Schrift uns anbietet ist die Hoffnung aus der Botschaft der Auferstehung, an die wir uns freilich neu annähern müssen. Wir können sie heute nicht nur individualistisch denken, sondern müssen sie ausdehnen auf die Lebenden, Toten und auch auf die Noch-nicht-Geborenen. Alte Menschen und damit viele Gläubige in unserm Land sind vielleicht in besonderer Weise offen für diese geheimnisvolle Verbindung alles Lebendigen. Auch der Lebensraum, den uns die Schöpfung für unser Leben zur Verfügung stellt, ist in diese Hoffnung einbezogen. Aus einer solchen, mystisch zu nennenden Sicht auf eine Einheit alles Geschaffenen speisen sich unsere ethischen Entscheidungen und unser Tun, im Kleinen wie im Großen. Gläubige Menschen wissen, dass auch das Gebet ein wirkmächtiges Tun ist, aber genauso ein oft verborgener Kampf.

Heilung der verwundeten Imagination

Der Seher kennt durchaus die Ambivalenz der Stadt. Deshalb ist die Johannesoffenbarung die Geschichte zweier Städte: Babylon und Jerusalem. Babylon mit ihrem Reichtum bedeutet die Attraktivität der hellenistischen Kultur, die Versuchung zur Assimilation, die der Seher aufs Schärfste verurteilt. Sie steht auch für die Gewalt, mit der das römische Imperium seine unterworfenen Völker überzieht. Vorstellbar ist, dass der jüdische Seher oder seine aus Palästina geflüchtete Erstleserschaft die Gräuel des niedergeschlagenen jüdischen Aufstands vor Augen hatten. "Babylon" ist der Inbegriff menschlicher Hybris, einer Stadt, einer Kultur, sie sich mit ihrem gierigen Reichtum, ihrem unstillbaren Drang nach Unterwerfung selbst zerstört. Es sind ja in Offb 17 die Profiteure des Reichtums der Stadt selber, die sie hassen und grausam vernichten bevor sie sie und ihren eigenen Verlust beklagen. Aus Babylon kann man nur fliehen: "Zieh weg!" (Offb 18,4), fordert der Seher.

Dennoch endet die biblische Vision nicht mit dem Aufruf zur Flucht aus der Stadt – in eine Landkommune des heiligen Restes? – sondern mit der Schau einer Megacity, die vom neuen (auferstandenen) Himmel her auf die erneuerte (auferstandene) Erde herabkommt. Sie ist das Geschenk Gottes und gerade nicht menschengemacht. Sie zu empfangen setzt jedoch eins voraus: Umkehr, was theologisch bedeutet: Gnade.

Die Johannesoffenbarung endet nach all ihren "apokalyptischen" Bildern mit einer strahlenden Epiphanie. Sie will die von dunklen Bildern gequälte Imagination ihrer Leserinnen heilen. Als apokalyptische Schrift kennt sie die Drohrede, die mahnend zu Umkehr aufruft. Sie weiß vom Zorn Gottes, der dem Bösen eine Grenze setzen wird und die Stimme der Opfer hört. Ihr prophetischer Charakter bleibt dabei jedoch nicht stehen sondern wagt die Schau der Gabe des Lebens, das umsonst gegeben wird (Offb 21,6). Die Gabe konkretisiert sich im neuen Lebensraum der Stadt, die von Gott her am Kommen ist. In dieser pneumatischen Christusgestalt ist Gott im Kommen: Mit dieser Zusage endet die Heilige Schrift: FINE.

Von Margareta Gruber

Die Autorin

Margareta Gruber ist Professorin für Neutestamentliche Exegese und Biblische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Die Johannesoffenbarung zählt zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit.