Im Ort Schuld sind Lichtblicke erwünscht

Advent im Flutgebiet: Weihnachtsleuchten gegen die Verzweiflung

Veröffentlicht am 02.12.2021 um 15:15 Uhr – Lesedauer: 
#jetzthoffnungschenken

Schuld ‐ Der von der Flutkatastrophe schwer gezeichnete Ort Schuld feiert Advent. Dem Dreck und den schlimmen Erinnerungen an die Katastrophe trotzen die Menschen mit Glühwein, Tannenbäumen und Weihnachtsmarkt. Über kleine Aktionen, die durchhalten lassen.

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Schuld ist Sinnbild der Flutkatastrophe im Juli. Bilder aus dem Ort gingen um die Welt. Viele Menschen haben dort alles verloren. Bis heute ist der Ort schwer gezeichnet, auch wenn die Bürger sich glücklich schätzen, dass in Schuld im Hochwasser niemand ums Leben kam. Jetzt aber ein kleines Hoffnungszeichen: Adventsmarkt.

Mit Lichterketten, Kerzen und Kugeln in Rot und Gold wappnet sich Schuld gegen Dunkelheit und Schwermut. Wolken hüllen das Dorf im Landkreis Ahrweiler in Grau. Auf dem Platz vor der katholischen Kirche Sankt Gertrud stehen am ersten Adventswochenende in einem Halbkreis Holzbuden und Stände für einen kleinen Weihnachtsmarkt: Waffeln, Kuchen und Plätzchen gibt es hier ebenso wie Reibekuchen, Würstchen, Glühwein und alkoholfreien Punsch.

Vor dem Eingang der Kirche stapeln sich in einem Pavillon Kisten voller Weihnachtsdekoration und Winterkleidung zum Mitnehmen. Lichterketten leuchten zwischen den Ständen; dazwischen zaubern mit roten und goldenen Kugeln geschmückte Tannenbäume Farbtupfer ins schwindende Tageslicht. Freiwillige Helfer haben den Weihnachtsmarkt auf die Beine gestellt, Speisen, Getränke, Dekoration und zahlreiche Geschenk-Aktionen organisiert – kostenfrei, wer möchte, kann eine Spende für die Flutopfer abgeben.

"Alles klar?" – "Nee!"

Der Markt lädt ein, mit einem Getränk in der Hand zu plaudern und den Alltag nach der Flut für einen Nachmittag ruhen zu lassen. Kurz vor dem Start stand das Adventsfest angesichts steigender Corona-Infektionen auf der Kippe. Nun gilt 2G; Zutritt zum abgesperrten Kirchvorplatz haben Geimpfte und Genesene, die außerdem Maske tragen müssen.

Dort stehen Menschen in kleinen Gruppen zusammen, der Bürgermeister und der Pfarrer neben Jugendlichen und Senioren, Familien und Einzelpersonen; Bürger aus Schuld und aus der Umgebung schauen vorbei, außerdem Fluthelfer, die wissen wollen, wie sich das Dorf in den vergangenen Wochen entwickelt hat. Gespräche reichen von kurzen Zurufen wie "Alles klar?" – "Nee!" - "Ja, weiß ich doch" bis zu langem Austausch und Lachen.

Überflutete Häuser in der Ortschaft Schuld an der Ahr
Bild: ©picture alliance/dpa/TNN | Christoph Reichwein (Archivbild)

Gekennzeichnet von der Naturkatastrophe: So sah Schuld nach der Flut im Juli aus.

Jeder hier hat eine Geschichte zu erzählen. Wie Andreas Peerebooms und seine Partnerin, die auf dem Weg von ihrem Ausweichquartier zu ihrem stark beschädigten Haus vorbeischauen. Peerebooms zeigt Handyfotos des Flutabends: Sie dokumentieren im Minutentakt, wie zuerst die Straße verschwand, dann die Autos und Transporter von Peerebooms Trockenbaufirma weggeschwommen wurden. Sie zeigen den Nachbarn, der in seiner Einfahrt steht, am Ende bis zur Brust im Wasser. Peerebooms berichtet, wie er den Nachbarn mit einer Leine aus dem Wasser gezogen hat, wie sie im Dachgeschoss die Nacht ausharrten, unten das Wasser rauschte und sie am Morgen aus dem Fenster kletterten, weil sich hinter dem Haus angespültes Treibgut meterhoch stapelte.

Peerebooms Haus ist noch immer eine Baustelle. Und doch betont der Handwerker: "Ich werde Weihnachten zu Hause verbringen!" – wie provisorisch auch immer es werde, er freue sich darauf, dorthin zurück zu kehren. Vom Weihnachtsmarkt auf dem Berg kann man unten im Tal den Giebel von Peerebooms Haus erkennen.

Jeder im Ort ist betroffen

Dort im Tal, wo im Juli die Wassermassen wüteten, plätschert nun in Schleifen die Ahr entlang. Die Häuser, die noch stehen, sind weitgehend entkernt und viele noch nicht oder nur provisorisch bewohnbar. Dazwischen klaffen immer wieder große Lücken, wo Häuser von den Fluten weggespült oder stark beschädigt abgerissen wurden. Anfang Dezember ist das Tal eine große Baustelle, Schmutz und Dreck hinterlassen Spuren im ganzen Dorf. 740 Einwohner hat Schuld. 144 seien offiziell von der Flut betroffen, sagt der Vize-Bürgermeister Rene Haas. "Wobei im Prinzip jeder im Dorf betroffen ist, auch wenn nicht jeder seine Existenz verloren hat."

An vielen Häusern im zerstörten Ortskern im Tal stehen geschmückte Weihnachtsbäume zwischen Dreck und Schlamm vor entkernten Häusern. Freiwillige Helfer, darunter Geflüchtete, haben in den vergangenen Tagen vor jedem betroffenen Haus einen Tannenbaum aufgestellt und mit Kugeln und Lichterketten geschmückt. Wenn es dunkel wird, leuchten nun in den zerstörten Ortsteilen neben den grellen Flutlichtstrahlern auch die Weihnachtsbäume in warmem Gelb.

Einen solchen Weihnachtsbaum hat auch Olaf Justen auf seinem Grundstück in der Ahrstraße stehen. "Aber ohne Lichterketten, weil Licht in der Adventszeit bedeutet Hoffnung und die gibt es für mein Baugrundstück nicht", sagt er. Sein Haus ist mit der Flut weggeschwommen, wie sie hier sagen. Eine Baugenehmigung für das Grundstück direkt an der Ahr bekommt er nicht mehr. Und bis feststeht, wo er stattdessen bauen kann, dauert es. Schuld sei weiterhin sein Zuhause, sagt er, aber "es ist jetzt ein anderes".

Bild: ©KNA/Anna Fries

1.300 Pakete werden an die Menschen verschenkt.

Ein paar Schritte neben den Weihnachtsmarkt-Ständen parkt ein LKW, vor dem Menschen Schlange stehen. Ein Team aus der Gegend um Öhringen in Baden-Württemberg verteilt Geschenke: 1.300 Pakete in Schuhkartongröße haben sie mitgebracht, gespendet von Privatpersonen und Firmen, sagt Organisatorin Daniela Kern-Herwerth vom Racing-Team Öhringen. Die Päckchen sind nach Alter sortiert, enthalten Geschenke und eine persönliche Karte.

Ein Zuhause für den Kopf

Zwei Jungs stehen vor der Rampe des LKW, sieben und neun Jahre alt. Die Familie aus Bad Münstereifel lebt aktuell in einer Ferienwohnung, ihr Haus ist durch das Hochwasser unbewohnbar, berichtet Vater Mathias Hufschmiedt. Die Ferienwohnung sei zu klein, der jüngste Sohn schlafe im Flur, aber irgendwie gehe es. Aktionen wie der Weihnachtsmarkt oder die Geschenke, "das bringt etwas Helles in diese fiese und dunkle Zeit", sagt er. Handwerker für die Renovierungsarbeiten habe er zum Glück. "Aber die allein reichen nicht", meint er. Es fehle ein Zuhause für den Kopf. Hufschmiedt spricht von einer "mentalen Obdachlosigkeit".

Neben dem Geschenke-LKW plaudern Rolf Kern aus Öhringen und Michael Schweitzer aus Schuld. Sie kennen sich seit 20 Jahren über den Rennsport, sind befreundet. Nach der Flut zogen Kern und das Rennsport-Team aus Baden-Württemberg los, kauften Gummistiefel, Schaufeln, Lebensmittel und Medikamente und lieferten einen LKW mit Hilfsgütern bei Schweitzer in Schuld ab. Mit der Geschenke-Aktion wollten sie jetzt zu Weihnachten den Menschen eine kleine Freude machen, sagt Kern.

Jetzt kommt das Warten

Wie viele lebt auch Schweitzer mit Partnerin aktuell in einer Baustelle – immerhin im eigenen Haus. "Die Schäden sind da und der Dreck ist auch immer noch da. Und durch den Dreck fahren wir jeden Morgen und jeden Abend, da kannst du nie ganz abschalten", beschreibt er die Lage. "Aktionen wie diese Geschenk-Kartons, das ist etwas für die Seele, das zieht hoch, dann hat man wieder ein Lächeln im Gesicht." Er spricht von einem Gänsehaut-Moment – bei einer ansonsten angespannten Grundstimmung im Dorf.

Nach Wochen, in denen viele Menschen über ihre Grenzen hinaus arbeiteten, heißt es nun für viele warten: dass Handwerker Zeit finden, Anträge bearbeitet und Gelder ausgezahlt werden. "Wir sind an einem Punkt, wo die Verwaltungen das Sagen haben. Das geht alles seinen Gang, aber eben recht langsam", sagt Bürgermeister Helmut Lussi.

Ein bisschen Normalität

Jeder geht mit der Ausnahmesituation anders um. Einige sind motiviert, ihr Zuhause oder ihren Betrieb wieder aufzubauen, andere verunsichert, weil zugesagte Unterstützungsgelder noch nicht ankamen. Wieder andere enttäuscht, weil es zuerst hieß, ihr Haus könne renoviert werden, es dann aber doch abgerissen werden musste. Dann gibt es Haushalte, die vor dem Hochwasser bereits durch die Pandemie in eine finanzielle Schieflage geraten waren und nun keine Perspektiven sehen.

Der Weihnachtsmarkt löst zwar keine Probleme, aber er gibt ein Stück Alltag, Normalität zurück – und genau das wünschen sie sich hier. "Die meisten Menschen haben Sehnsucht, dass ein bisschen Alltag stattfindet in der Katastrophe", sagt Pfarrer Rainer Justen. Das biete ein wenig Ruhe und Verlässlichkeit.

"Es war nicht einfach und es ist nicht einfach", meint Küsterin Resi Weiler. Das Hochwasser hat die Schreinerei ihrer Familie stark beschädigt, die schweren Maschinen weggespült. Tagelang hat Weiler zuletzt den Weihnachtsmarkt mit aufgebaut, stand den freiwilligen Helfern zur Seite und hat überlegt, wie das kleine Fest corona-konform stattfinden könne. "Wir brauchen ein Stück Normalität, ohne die denkt man den ganzen Tag darüber nach", sagt Weiler. Im Moment trage der Gedanke, dass es irgendwann besser werde – und der Zusammenhalt und die anhaltende Hilfe von außen.

Von Anna Fries

Die Autorin

Anna Fries ist Redakteurin der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Aktion #jetzthoffnungschenken

Die Zahlen sind erschreckend: Jede vierte Person in Deutschland fühlt sich einsam. Und es sind nicht nur ältere Menschen betroffen. Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. Dabei reichen oft nur kleine Gesten wie ein Lächeln, ein freundliches Wort, ein offenes Ohr oder etwas Zeit, um seinem Gegenüber Hoffnung zu schenken. Mit der Aktion #jetzthoffnungschenken will das Katholische Medienhaus in Bonn gemeinsam mit zahlreichen katholischen Bistümern, Hilfswerken, Verbänden und Orden im Advent 2021 einen Beitrag gegen Einsamkeit leisten. Erfahren Sie mehr auf jetzthoffnungschenken.de.