Ein Hexenwerk

Auf Anregung der romantischen Dichter Clemens Brentano und Achim von Arnim begannen die beiden Sprachwissenschaftler Jakob und Wilhelm Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts die Märchen, Erzählungen und Sagen zu sammeln, die noch Generationen zuvor durchaus geläufig waren und in Vergessenheit zu geraten drohten.
Denn die alte Tradition der am Herd- und Kaminfeuer weitergegebenen Erzählung ging zusehends verloren. Buchstäblich im letzten Moment bewahrten die Gebrüder Grimm wahre Schätze an zauberhaften Geschichten und Figuren für die Nachwelt und begründeten und prägten damit die moderne Märchenkultur.
Gekrönte Frösche und Mädchen mit Kopftuch
katholisch.de-Redakteur und Moderator Peter Philipp erinnert sich an seine Kindheit mit den Gebrüdern Grimm.
Für meine Schwester und mich erfolgte der erste Zugang zu den Märchen natürlich über die Bilder in unserem Märchenbuch. Hexen mit gekrümmten Lockfingern und Warze auf der Nase, gekrönte Frösche, Körbchen schwingende Mädchen mit rotem Kopftuch, den Wolf im Gefolge und die von Zwergen umringte Prinzessin machten uns Kinder neugierig und aufgeregt.
Sicher wurden uns die Märchen zunächst von Eltern und Großeltern vorgelesen, doch erinnere ich mich vor allem, dass ich schon bald meiner älteren Schwester in den Ohren lag, mir bestimmte Geschichten immer und immer wieder vorzulesen. Die Faszination der Märchen für Kinder liegt unter anderem darin begründet, dass in ihnen chaotische, unvorhersehbare, von Ur-Ängsten geprägte Welten klar strukturiert werden, am Schluss das Gute die Oberhand behält und eine vertrauenerweckende Ordnung hergestellt wird.
Im Dezember 1812 erschien zuerst nur ein kleinerer erster Teil der Kinder- und Hausmärchen, der bis 1813 um einen zweiten Teil anwuchs in einer Auflage von gerade einmal 900 Exemplaren. Doch erweiterten die Gebrüder Grimm ihre Sammlung stetig, formten vieles um, glätteten hier und da verschiedene Geschichten und folgten damit den Anregungen von Kritikern und dem Publikumsgeschmack.
Die Märchen prägten ganze Generationen
Im Jahre 1819 konnte die vollständige zweibändige Ausgabe dann in zweiter Auflage erscheinen. Die für Kinder gedachte illustrierte „Kleine Ausgabe“ mit etwa 50 Märchen kam erstmals 1825 auf den Markt und war schließlich ein voller Erfolg. Zu Lebzeiten der Grimms umfasste diese Ausgabe zehn Auflagen.
Die Bedeutung dieser Märchensammlung kann man nicht hoch genug einschätzen, denn in ihr ist die literarische Vorstellungswelt ganzer Generationen gespiegelt und geprägt. Kaum eine mythische Gestalt, die nicht in dieser Sammlung grundlegend zu finden ist, und kaum ein thematischer Konflikt in Literatur und artverwandter Kunst, der nicht in Grundzügen eine Entsprechung in diesem reichhaltigen Fundus hätte.
Schematisch und strukturell bieten Märchen mit ihrer klaren Trennung in Gut und Böse und ihrer zuverlässigen Moralität eine perfekte Folie zum Aufbau guter Geschichten. Andersherum zeigt die Kulturgeschichte, dass die Geschichten, die die Gebrüder Grimm vor 200 Jahren herauszugeben begannen, einfach nicht kaputt zu kriegen sind. Weder die unzähligen sprachlichen Bearbeitungen, die die Texte „kindgerechter“, „harmloser“ oder „zeitgemäßer“ machen sollten, noch Adaptionen in Filmen von Walt Disney über die Pro7-Märchenstunde bis zum aktuellen Jean d’Arc-Schneewittchen von Rupert Sanders.
Märchen funktionieren. Ich kann nicht sagen, wie unser Märchenbuch in die Familie kam – aber ich kann sagen, wo es hingekommen ist: es ist an die nächste Generation weitergegeben worden und noch kürzlich las ich meinen bereits jugendlichen Nichten und Neffen daraus vor. Erst hörten sie mir zu, weil sie mir einen Gefallen tun wollten, dann musste ich weiterlesen, um ihnen einen Gefallen zu tun.
Von Peter Philipp