Die ökumenische Jesus-Bruderschaft in Gnadenthal

Familien im Kloster: Eine Glaubensgemeinschaft auf Lebenszeit

Veröffentlicht am 23.10.2022 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Hünfelden ‐ Nonnen und Mönche richten in Klöstern ihr Leben ganz auf Gott aus. Doch lässt sich so auch als Familie leben? Im Kloster Gnadenthal bilden Familien mit zölibatären Brüdern und Schwestern zusammen eine ökumenische Lebensgemeinschaft.

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Inmitten von Kuhweiden, Streuobstwiesen, und Weizenfeldern liegt Gnadenthal. Eine schmale Landstraße führt in das Dorf im hessischen Taunus-Gebirge. Am Ortsrand plätschert der Wörsbach, den Dorfkern schmücken Fachwerkhäuser, in ihrer Mitte eine alte Klosterkirche. Im Mittelalter lebten hier Zisterzienserinnen. Ihre Tradition des Betens und Arbeitens hat heute eine besondere Lebensgemeinschaft aufgenommen: Seit 1969 leben in Gnadenthal Familien gemeinsam mit Ordensbrüdern und -schwestern ihren Traum von spiritueller Gemeinschaft.

Die Geschichte der Jesus-Bruderschaft reicht in das Jahr 1961 zurück. Damals gründeten zwei zölibatäre Brüder in Ostfriesland die ökumenische Gemeinschaft, eine Schwesternschaft zog bald nach. 1968 gründete sich der Familienzweig. Mit dem Kauf eines Hofs in Gnadenthal im darauffolgenden Jahr war ein Ort für das Zusammenleben gefunden. Heute gehören der Lebensgemeinschaft 65 Mitglieder an, davon leben 40 Erwachsene in der Familiengemeinschaft. Die Kinder gehören noch nicht dazu, sie können sich erst im Erwachsenenalter dazu entscheiden, der Jesus-Bruderschaft beizutreten.

Der jüngste Bewohner ist zwei Jahre alt, die älteste Bewohnerin 89

Christina Schlösser und Simeon Ulandowski sind seit 2020 Anwärter der Familiengemeinschaft. Während der drei- bis siebenjährigen Anwartschaft prüfen sie, ob das gemeinschaftliche Zusammenleben für sie als Familie geeignet ist. Mit ihrer Tochter und den beiden Söhnen lebt das Ehepaar im nahegelegenen Bad Camberg auf der "Goss", einem Wohnhof der Familiengemeinschaft. Zwölf Parteien leben dort, die Hälfte davon als Teil der Kommunität, die übrigen Bewohner sind ihr freundschaftlich verbunden. Das Wohnprojekt ist ein Mehrgenerationenhaus: Der jüngste Bewohner ist zwei Jahre alt, die älteste Bewohnerin 89.

Bild: ©Privat

Christina Schlösser und Simeon Ulandowski

Der 38-jährige Ulandowski ist in der Jesus-Bruderschaft aufgewachsen. Zwei Jahre alt war er, als seine Eltern in die Kommunität eintraten. Als Jugendlicher lebte er in den Gemeinschaftshäusern im thüringischen Volkenroda und im sächsischen Hennersdorf. Die 40-jährige Schlösser stammt aus Bad Camberg. Auch sie kannte die Gemeinschaft daher schon als Kind. 2002 lernten die beiden sich kennen, als Schlösser ein Freiwilliges Ökologisches Jahr im Kloster Volkenroda absolvierte. Für das Paar stand bald fest, dass sie gerne der Lebensgemeinschaft beitreten würden. 2009 zogen sie nach Bad Camberg, zwei Jahre später auf die "Goss".

Die Familien der Jesus-Bruderschaft eint der Wunsch nach gemeinschaftlichem Zusammenleben. Im Keller lädt eine Kapelle zum gemeinsamen Gebet ein, im Wohnzimmer kann zusammen gefeiert werden. "Unsere Wohnungstür steht grundsätzlich offen", erzählt das Paar. Gastfreundschaft spiele eine große Rolle. Mit den anderen Familien treffen sie sich regelmäßig zum Mittagessen oder Abendgebet. Jeden Montag bilden sie mit fünf weiteren Paaren einen Hauskreis. Dort sprechen sie über das, was sie in ihrem Alltag bewegt, über Ärger und Freude im Job, über die Kinder. Oder sie gestalten inhaltliche Abende. Bald ist etwa eine Reihe zum Alten Testament geplant.

Leben, Arbeit, Gebet

Leben, Arbeiten und Beten. Angelehnt an den benediktinischen Grundsatz "Ora et Labora" prägen diese drei Grundpfeiler das Leben der Gemeinschaft. Im Brüderhaus in Gnadenthal wird das anschaulich: Das Erdgeschoss beherbergt die größte Kapelle des Ortes. Darüber befinden sich die Schlafräume der Brüder, im Keller wird gearbeitet, im Zentrum vom Arbeiten und Leben steht das Gebet. Während in den Anfangszeiten der Jesus-Bruderschaft viele der Mitglieder in Gnadenthal arbeiteten, gehen heute gerade die Familien meist außerhalb der Kommunität ihren Berufen nach.

Bild: ©katholisch.de/chb

Der Altarraum der Brüderhauskapelle.

Neben dem Job und den Kindern noch Zeit für die Gemeinschaft zu finden, ist allerdings nicht immer einfach. Christina Schlösser ist Referentin für Kommunikation und Veranstaltungsmanagement in der Katholischen Hochschulgemeinde Frankfurt am Main. In der Jesus-Bruderschaft engagiert sie sich ehrenamtlich, etwa in der Kinder- und Jugendarbeit, bei den Familienfreizeiten oder als Familienbegleiterin. Außerdem ist sie Teil eines Arbeitskreises für Missbrauchsprävention und im Digitalteam der Gemeinschaft. "Und ich passe in der Zeit auf die Kinder auf", sagt Ulandowski und grinst verschmitzt. Er arbeitet als Kommunikationsberater in Frankfurt. Zum monatlichen Konventabend, bei dem sich die gesamte Gemeinschaft in Gnadenthal trifft, schafft es für gewöhnlich nur einer der beiden.

Die Jesus-Bruderschaft prägt das Dorfbild Gnadenthals. Die Zisterzienserinnenkirche aus dem Jahr 1235 bildet den Ortskern. Im ehemaligen Kreuzgang hört man heute die Kühe der Biolandwirtschaft, deren Stall sich gleich dahinter befindet und die auch von der Jesus-Bruderschaft betrieben wird. Es riecht nach Tierfutter und Kuhmist. Eine Gruppe Kinder läuft vom Nehemia-Hof die Straße hoch zum Dorfplatz. In der Begegnungsstätte sind regelmäßig Schulklassen oder Firmgruppen zu Gast. Einmal den Hügel hinauf geht es zum Haus der Stille, in dem Besucher den von Arbeit und Gebet geprägten Tagesrhythmus der Gemeinschaft mitleben können. In den umliegenden Häusern leben die zölibatären Brüder und Schwestern, die ehelos bleiben, um sich so ganz der Nachfolge Jesu widmen zu können. Die Autos auf der Autobahn in der Nähe sind nicht zu hören, auch keine Züge, stattdessen nur das Krächzen der Krähen und das Rauschen der Blätter im Wind. Hier und dort sieht man einen Traktor über das Feld fahren, den Pflug hinter sich herziehend. Die Ruhe des Dorfes findet sich in der Spiritualität der Gemeinschaft wieder.

Die Kapelle spiegelt das Glaubensverständnis wider

Es ist Dienstagmittag, 12 Uhr. Vor dem Altar der Brüderhauskapelle leuchtet eine Kerze. Auf den Stühlen, die im Halbkreis darum herum aufgestellt sind, haben die Brüder und Schwestern Platz genommen, dazwischen Gäste aus dem Haus der Stille. Einer der Brüder stimmt einen Psalmgesang an. Etwa 20 Menschen nehmen am täglichen Mittagsgebet teil, die berufstätigen Familien feiern oft nur den Sonntagsgottesdienst mit. Die Anordnung in der Kapelle spiegelt das Glaubensverständnis der Jesus-Bruderschaft wider: Jesus Christus als das Licht in ihrer Mitte. "Je näher wir an die Kerze herankommen, desto enger stehen wir beisammen", sagt Simeon Ulandowski. Ein liebendes Gottesbild präge die Gemeinschaft. Er blättert im Gebetsbuch. "Denn nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt", zitiert er aus dem Johannesevangelium. Der Glaube sei ein Geschenk an die Menschen und solle in ihren Herzen Frucht bringen.

Bild: ©katholisch.de/chb

Das Dorf Gnadenthal in Hessen.

In ihrer mehr als 60-jährigen Geschichte ist die Gemeinschaft aber auch durch Krisen gegangen. 1978 musste der damalige Leiter die Jesus-Bruderschaft wegen spirituellem und sexuellem Missbrauch verlassen. Eine weitere finanzielle und personelle Krise durchlebte sie Anfang der 2000er Jahre. Der Betrieb stand damals kurz vor der Insolvenz, der Leitung Machtmissbrauch angelastet. 2004 ordnete sich die Gemeinschaft grundlegend neu. Die Verantwortung verteilte sich auf mehrere Schultern, Entscheidungsverfahren wurden demokratisiert, betriebliche und geistliche Leitung strikt voneinander getrennt. Ein Konzept zur Prävention von Missbrauch entsteht aktuell unter professioneller Begleitung. "Es gibt heute viele Sicherungssysteme, um Machtmissbrauch zu verhindern", sagt Dieter Walter. Der 83-Jährige gehört zu den ersten Mitgliedern der Familiengemeinschaft und hat alle Höhen und Tiefen in Gnadenthal miterlebt.

In der Kommunität sind die Glaubensgeschwister oft zugleich auch Nachbarn, Arbeitskollegen oder Vorgesetzte. "Es ist wichtig, offen und vertrauensvoll mit den unterschiedlichen Rollen umzugehen", sagt Christina Schlösser. Dass sie sich ihre Glaubensgeschwister in der Regel nicht aussuchen, sieht Ulandowski auch als Vorteil. "Unsere älteren Geschwister sind uns da ein Vorbild", sagt er. "Die haben in der Anfangszeit viel gestritten, haben sich aber auch wieder versöhnt."

Jung und alt, Zölibat und Ehe

"Versöhnt leben in der Vielfalt" ist auch ein Leitspruch der Jesus-Bruderschaft: Jung und Alt, im Zölibat und in der Ehe, katholisch und evangelisch. Für Schlösser und Ulandowski gehört das Miteinander der Konfessionen zum Familienalltag: Sie ist katholisch, er evangelisch. Die einzelnen Mitglieder der Jesus-Bruderschaft bleiben in ihren Kirchen. "Gerade die Älteren halten die Beziehung zu ihrer Ortsgemeinde hoch", sagt Schlösser. Für die Jüngeren werde die Konfession zunehmend unwichtiger, sie suchten mehr nach ökumenischer Gemeinschaft. Den Sonntagsgottesdienst feiern alle gemeinsam in der Brüderhauskapelle in Gnadenthal. Der Ritus des Gottesdienstes richtet sich nach dem jeweiligen Zelebranten. "Natürlich gibt es unterschiedliche Ansichten, zum Beispiel in Bezug auf das Abendmahl", erzählt Ulandowski. "In der Praxis muss jeder für sich entschieden, ob er zum Beispiel als Katholik am evangelischen Abendmahl teilnimmt, beziehungsweise der katholische Priester, ob und wie er evangelische Geschwister zur Eucharistiefeier einlädt."

Das Miteinander der Generationen und Konfessionen schätzt Christina Schlösser besonders in Gnadenthal. "Mit den verschiedenen Familien gemeinsam auf dem Weg zu sein", beschreibt sie den Zusammenhalt. Das Versprechen einer lebenslangen Zugehörigkeit trägt die Gemeinschaft und unterscheidet sie von einer normalen Ortspfarrei. "Das ist die gegenseitige Zusage: Wir machen das zusammen, mit allen Herausforderungen", sagt Simeon Ulandowski. "Da entstehen großes Vertrauen und große Sicherheit, darauf können wir etwas Gutes bauen."

Von Christina Bartholomé