Nur noch 2 der 10 aufgeführten Gruppen haben engere Kirchenbindung

Milieu-Studie: Kirche verliert "nostalgisch-bürgerliche Mitte"

Veröffentlicht am 08.02.2023 um 12:46 Uhr – Lesedauer: 

Linz ‐ Eigentlich stand die "nostalgisch-bürgerliche Mitte" der Kirche nahe: Nun jedoch hat sie diese Gruppe in Österreich verloren, sagt eine neue Studie. Eine engere Kirchenbindung gibt es demnach nur noch in 2 von 10 aufgeführten Gesellschaftsgruppen.

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Die Kirche in Österreich hat laut der "Sinus-Milieu-Studie 2022" eine Gesellschaftsgruppe verloren, die ihr eigentlich nahe steht: die "nostalgisch-bürgerliche Mitte". Die Studie, die Menschen mit ähnlichen Werten und vergleichbarer sozialer Lage in Gruppen ("Milieus") zusammenfasst, gebe auch Herausforderungen für die Seelsorge auf, sagte der Vize-Geschäftsführer des durchführenden Marktforschungsinstituts Integral, Martin Mayr, der Linzer "KirchenZeitung". Im Wesentlichen verfügten noch zwei der zehn aufgeführten Gruppen über eine engere Kirchenbindung: das "konservativ-etablierte" und das "traditionelle Milieu". Beide machten ungefähr 21 Prozent der österreichischen Bevölkerung über 14 Jahre aus. Früher habe auch die bürgerliche Mitte mit rund 14 Prozent dazugehört. Das sei "jetzt nicht mehr so", so Mayr.

Diese "nostalgisch-bürgerliche Mitte" sehe wahrscheinlich auch die Kirche ähnlich dem Staat als Institution, die versagt habe und sie nicht verstehe, sagte der Marktforschungsexperte. Diese Gruppe habe das Gefühl, dass "die Kirche sie nicht ernst nimmt"; viele hätten sich daher von ihr verabschiedet. Einen "ganz starken Auslöser" für dieses Verhalten ortet Mayr in der Corona-Pandemie. Die Kirche müsse der "nostalgisch-bürgerlichen Mitte" viel mehr das Gefühl geben, "dass sie ihre Anliegen aufgreift und dass ihre Meinungen und Werte etwas sind, das zählt".

Insgesamt sei das "traditionelle Milieu" von 14 Prozent im Jahr 2011 auf aktuell 10 Prozent gesunken, erläuterte der Marktforscher. Diese Menschen lebten "im Wesentlichen die Wertewelt der 1950er Jahre, die von Pflicht und Sparsamkeit geprägt ist". Ein Großteil sei über 60 Jahre alt; es falle auf, dass in dieses Milieu kaum mehr junge Leute nachwüchsen. Mittelfristig werde "diese Wertewelt aus der Gesellschaft verschwinden", so der Experte. Dass sich in dieser Gruppe ein erheblicher Teil der Kirchgänger befänden, sei eine Herausforderung für die Kirche: "Dieser Teil der Kirchgängerinnen und Kirchgänger wird unweigerlich weniger und weniger. Das ist die Demografie."

Was Kirche tun muss

Kirchen müssten heute viel mehr versuchen, die einzelnen Milieus auf unterschiedliche Weise anzusprechen, zeigt sich Mayr überzeugt. Für die "adaptiv-pragmatische Mitte" wäre etwa die Familienpastoral ein Angebot. Die beiden Zukunftsmilieus der "progressiven Realisten" und "kosmopolitischen Individualisten" seien eher über punktuelle Projekte ansprechbar, zum Beispiel im Sozialbereich. Sie stünden aber der Institution Kirche und deren Moralkodex speziell bei Genderfragen oder Geschlechter-Identität "sehr ablehnend" gegenüber, betonte der Marktforscher.

Pfarreien könnten von der "Sinus-Milieu-Studie" profitieren, wenn sie sich Verständnis über die Vielfalt der Menschen verschafften, die in ihr leben, und sich bewusst würden, "wie unterschiedlich sie ticken", so Mayr. Er empfehle jeder Pfarrei eine "milieusensible Pastoral". Als breite Trends, die sich im Vergleich zur letzten Erhebung 2011 noch verfestigt haben, macht Mayr die Themen Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Ökologie aus. Diese hätten in den vergangenen fünf Jahren auch in der jungen Zielgruppe noch einmal deutlich an Fahrt aufgenommen. Im Zuge dieser Trendwende sei sogar eine neue Lebenswelt entstanden: die "progressiven Realisten".

Eine zweite große Veränderung betreffe die Mitte der Gesellschaft. Das Milieu, das noch 2011 als "systemstabilisierend" gewirkt habe, gebe es in dieser Form nicht mehr, erläuterte Mayr: "Diese 'bürgerliche Mitte' hat die Entscheidungen der Regierungen mitgetragen und hat die Gesellschaft damit sehr stabilisiert." Aktuell fühlten sie sich aber von den Entscheidungsträgern nicht ernst genommen. Teile dieser Gruppe seien "so kritisch geworden, dass sie alles ablehnen, was von oben kommt". Diese Menschen verbinde der Wunsch nach gesicherten Verhältnissen, der mit Abstiegsangst und Überforderung "zusammenprallt", so der Experte. (KNA)