Philosophie und Theologie vor der Frage nach dem Leid

Warum?

Veröffentlicht am 31.03.2015 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Katastrophen

Trier ‐ Wann immer sich eine schwere Naturkatastrophe oder ein schweres Unglück ereignet, bei dem eine Vielzahl von Menschen ums Leben kommt, stellt sich die Frage nach dem "Warum?". Dabei geht es in erster Linie gar nicht um die Suche nach faktischen Erklärungen, wie der Literaturtheoretiker Terry Eagleton in seinem Buch "Das Böse" feststellt.

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Im Falle des furchtbaren Flugzeugabsturzes, der sich vor wenigen Tagen in den Alpen ereignet hat, scheint man ja inzwischen den Grund zu kennen. "Warum?", schreibt Eagleton, "heißt nicht: 'Was war die Ursache?' Es ist mehr Klage als Frage. Ein Protest gegen einen quälenden Mangel an Logik in der Welt. Eine Reaktion auf eine offenbar rohe Sinnlosigkeit der Dinge."

Bild: ©Privat

Werner Schüßler ist Theologe und Philosoph. Seit 1999 ist er Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Uni Trier

Bekanntlich sind es meist Großereignisse wie etwa das Erdbeben von Lissabon von 1755, die beiden Weltkriege, der Holocaust oder auch der 11. September, die diese Frage aufwerfen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass sie sich in der Sache schon stellt – um mit Dostojewski zu sprechen –, wenn auch nur ein unschuldiges Kind stirbt.

Diese sogenannte Hiobsfrage wird thematisiert, seit es Menschen gibt. Mythos, Kunst, Literatur, Religion, Philosophie – sie alle haben durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder versucht, eine Antwort auf diese brennendste aller Menschheitsfragen zu geben. Bis heute ist diese Frage nicht verstummt, rührt sie doch letztlich an das tiefste Geheimnis des Seins. "Warum, Gott", so hat es der bekannte Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini einmal formuliert, "warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?"

Wie ist das Unheil mit einem allmächtigen und allgütigen Gott zu vereinbaren?

Die Philosophie behandelt diese Frage gewöhnlich unter dem auf den deutschen Philosophen Leibniz (1646-1716) zurückgehenden Begriff der "Theodizee". Allerdings geht es dabei weniger um das konkrete Leid, sondern vielmehr um die allgemeinere Frage, wie das für jeden erfahrbare Unheil und Böse in der Welt mit einem allmächtigen und allgütigen Gott zu vereinbaren ist. Einem Gott, der nach christlichem Verständnis sogar ein Gott der Liebe ist. Leibniz selbst antwortet darauf mit dem heiligen Augustinus, dass dem Übel kein positiver, sondern nur ein privativer Charakter zukommt. So wird das Übel als ein Mangel an Gutem begriffen. Mit dieser sogenannten Privationslehre wird nicht die Realität des Übels geleugnet, sondern nur dessen Substanzcharakter verneint – fiele das Übel doch sonst auf Gott selbst zurück als dessen Urheber.

Spätestens seit Kant vertritt man in dieser Frage aber nicht selten eine agnostische Position, die man allegorisch im alttestamentlichen Hiobbuch ausgedrückt sieht; es geht dann nur noch um das "Begreifen der Unbegreiflichkeit" (Karl Jaspers). Oder aber man streicht eines der beiden göttlichen Attribute, entweder die Allmacht (so Hans Jonas) oder die Allgüte. Dann stellt sich das Problem nicht mehr in seiner eigentlichen Schärfe. Es bleibt aber die Frage, ob ein so verstandener Gott wirklich noch Gott ist.

„Die philosophische Theodizee bietet keine Antwort auf das konkrete Leid.“

—  Zitat: Werner Schüßler

Aber eines sei gesagt: Die philosophische Theodizee bietet keine Antwort auf das konkrete Leid, wie es Menschen jeden Tag und allerorts erfahren. Theologisch wird hier nicht selten auf die Geheimnishaftigkeit Gottes oder das Leiden Jesu Christi verwiesen. Mögen diese Hinweise ohne Zweifel auch ihren Sinn haben, so werden sie in einer ganz konkreten Leidenssituation nur den Wenigsten tröstlich erscheinen.

Hier kann vielleicht ein erneuter Blick auf das biblische Buch Hiob weiterhelfen, in dem deutlich wird, dass Leidende und Trauernde auch klagen, ja sogar Gott anklagen dürfen. Aber auch das ist, wie der französische Philosoph Paul Ricœur (1913-2005) zu Recht betont, noch nicht das letzte Wort in dieser Schrift, wird doch am Ende des Hiob-Buches deutlich, dass es Hiob gelingt, Gott ohne Grund zu lieben. Aber wer wird schon von sich sagen können, dass er dieses Wort zu jeder Zeit und unter allen Umständen einlösen könnte.

Frankl: Leiden gehört zum Wesen des Menschen

Wenn es um die Bewältigung eines ganz konkreten Leids geht – ganz gleich, ob es sich hierbei um physisches Leid wie Schmerzen oder um psychisches Leid wie Trauer handelt –, kann die "Pathodizee" des Wiener Psychiaters und Psychotherapeuten Viktor E. Frankls (1905-1997) eine gute Hilfestellung geben. Er ist der Begründer der sogenannten Logotherapie und Existenzanalyse. Den Hintergrund dieses Versuchs einer "Rechtfertigung des Leids" bildet Frankls anthropologisches Menschenbild, dem zufolge der Mensch das Wesen ist, das sich sowohl von sich selbst als Leibwesen distanzieren als auch sich selbst transzendieren kann auf anderes hin.

Frankl zufolge ist es geradezu "das Wesen des Menschen […], ein leidender zu sein: homo patiens". Und doch muss dieses Leiden (Schmerzen, Trauer) nicht notwendig in Leere und Verzweiflung führen, kann doch menschliches Leben niemals wirklich sinnlos werden. Das ist gewiss eine steile These, aber ich denke, dass man dieser durchaus etwas abgewinnen kann.

"Wer [...] nach dem Sinn des Leidens fragt," schreibt Frankl, "der geht daran vorbei, daß das Leiden selber eine Frage ist, daß [...] wir es sind, die da gefragt werden, daß der leidende Mensch, der Homo patiens, der Befragte ist: er hat nicht zu fragen, sondern er hat zu antworten, er hat die Frage zu beantworten, er hat die Prüfung zu bestehen – er hat das Leiden zu leisten." Das heißt, für Frankl liegt im "Wie" des Leidens das "Wozu" des Leidens. Es kommt also auf die Haltung an, "auf die Einstellung zum Leiden".

Als mit Freiheit ausgestattete Wesen sind wir Frankl zufolge unserem Schicksal gegenüber nie blind ausgeliefert, sondern können uns von diesem immer auch "distanzieren", also ihm gegenüber Stellung nehmen. Das heißt: Die Situation kann ich in einem solchen Fall zwar nicht mehr ändern, aber meine Einstellung dazu. Den Sinn des Leidens an sich kann der Mensch nicht fassen, aber es ist ihm möglich, den Sinn für sich zu fassen. Frankl zufolge ist der leidende Mensch sogar zu höchster Sinnerfüllung in der Lage, kann diese sich sogar selbst noch im Scheitern vollziehen. Denn hier geht es nicht mehr nur um Erfolg oder Misserfolg, sondern um Erfüllung oder Verzweiflung. Und nur der Mensch verzweifelt, dem eines über alles geht.

"Wir können mit Gott nicht handeln"

Frankls Leben bewahrheitet diese These, war er doch aufgrund seiner jüdischen Herkunft in verschiedenen Konzentrationslagern, verlor seine Ehefrau und seine ganze Familie. Und doch hat er seinen Glauben an Gott nicht aufgegeben mit der Begründung, dass dieser "bedingungslos" sei: "Ist er bedingungslos", so schreibt er, "so wird er auch standhalten, wenn sechs Millionen dem Holocaust zum Opfer gefallen sind, und ist er nicht bedingungslos, so wird er – um mich der Argumentation von Dostojewski zu bedienen – angesichts eines einzigen unschuldigen Kindes, das im Sterben liegt, aufgegeben; denn handeln können wir mit Gott nicht, wir können nicht sagen: Bis zu sechstausend oder von mir aus einer Million Holocaust-Opfer erhalte ich meinen Glauben an dich aufrecht; aber von einer Million aufwärts ist nichts zu machen, und – es tut mir leid – ich muß meinen Glauben an dich aufkündigen."

Was können wir von Frankl lernen? Ich denke, es sind zwei Aspekte. Zum einen: Auf die zu Anfang genannte Frage: "Warum?" gibt es bei einem solch tragischen Unglück wie das des Flugzeugabsturzes keine Antwort. Frankl würde aber an die Trauernden appellieren, dass es ihnen möglich ist, trotz dieses Leids Sinn finden zu können. Und zum anderen, dass der Glaube an Gott nicht an bestimmte Bedingungen geknüpft werden kann.

Von Werner Schüßler

Zur Person

Werner Schüßler ist Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Trier.

Das Buch Hiob

Das Buch Hiob im Alten Testament erzählt von übergroßem Leid, das der zunächst fromme, rechtschaffene und mit Reichtum gesegnete Hiob erfahren muss: Nach und nach kommen die "Hiobsbotschaften" über den Verlust seines gesamten Besitzes, dann sterben alle seine Kinder, schließlich wird er selbst todkrank. Hiob beginnt Gott anzuklagen. Auf die leidenschaftliche Frage nach dem "Warum?" erhält er jedoch keine Antwort. Weil Hiob seinem Gott trotz all der Trauer die Treue hält und ihn nicht verflucht, erlöst Gott ihn schließlich und gibt ihm noch mehr zurück, als er vorher verloren hat. (bod)