Nahost-Experte zur Lage der Christen in den Palästinensischen Gebieten

Advent in Kriegszeiten im Heiligen Land

Veröffentlicht am 03.12.2023 um 12:00 Uhr – Von Steven Höfner – Lesedauer: 

Wien ‐ Die schwindende Präsenz von Christen im Heiligen Land ist dramatisch. Auch jetzt in den Tagen vor Weihnachten sind sie voneinander getrennt. Der Nahost-Experte und Politologe, Steven Höfner, über die Situation der Menschen im Westjordanland in Zeiten des Krieges.

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Es sind nur noch wenige Wochen bis zu den Weihnachtsfeiertagen. In normalen Zeiten würden jetzt in Jerusalem allmählich die Adventsfeierlichkeiten beginnen und ihren Höhepunkt mit der Prozession des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem zur Geburtskirche nach Bethlehem am Tag vor Heiligabend feiern.

Ost-Jerusalem und seine Altstadt sind seit dem Sechstagekrieg von Israel annektiert, Bethlehem liegt im besetzten Westjordanland, der Weg dahin führt über die Sperranlage und Checkpoints. Und schon in normalen Zeiten zeigt der Weg, der eigentlich eine feierliche Begehung sein sollte, die Lebensrealität der christlichen Gemeinden: Die Christen des Heiligen Landes sind voneinander getrennt.

Seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel und dem anschließenden Kriegsausbruch hat sich diese Situation verschärft. In Gaza leben weniger als 1.000 Christen; sie sind dort eingeschlossen und den Bombardements ausgesetzt. Mit der Explosion im anglikanischen Al-Ahli-Krankenhaus und dem Angriff auf das Grundstück der griechisch-orthodoxen St.-Porphyrius-Kirche wurden auch die christlichen Gemeinden Gazas empfindlich getroffen. Im Schatten des Gaza-Kriegs verstärkt sich zudem die schon seit Jahren prekäre Entwicklung der Christen in Ost-Jerusalem und im Westjordanland. Vor diesem Hintergrund haben die Kirchenvertreter Jerusalems neben wiederholten Forderungen nach einem humanitären Waffenstillstand Mitte November in einer gemeinsamen Stellungnahme alle Feierlichkeiten abgesagt und zu Gebeten für die Leidenden aufgerufen.

Exodus der Christen aus dem Heiligen Land 

Der gegenwärtige Krieg ist nicht die erste Zäsur: Die schwindende Präsenz von Christen im Heiligen Land ist dramatisch. Machten sie vor 100 Jahren noch 20 Prozent der Jerusalemer Bevölkerung aus, sind es heute weniger als zwei Prozent; in Bethlehem ist der Anteil der Christen von schätzungsweise 86 Prozent 1948 auf zwölf Prozent gesunken. Das liegt einerseits an der Geburtenrate christlicher Familien, die unter dem Durchschnitt der muslimischen Mehrheitsgesellschaft liegt, andererseits an der höheren Emigrationsrate unter Christen. Der Exodus der Christen aus dem Heiligen Land hat bereits im Zuge des Krieges von 1948 eingesetzt, viele weitere sind angesichts der immer wieder eskalierenden Gewalt des Nahostkonflikts in die Diaspora geflohen. Heute macht die christliche Bevölkerung in den Palästinensischen Gebieten mit etwa 47.000 Menschen nur noch ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Bild: ©rparys/Fotolia.com

Für Christen im Heiligen Land ein wichtiger Ort: Die Grotte unterhalb des Hauptaltars der Geburtskirche wird als Geburtsort Jesu verehrt.

Neben der alltäglichen Konfrontation mit der Militärbesatzung verlassen viele Christen ihre Heimat auch aufgrund der schlechten ökonomischen Perspektiven. So sind in Bethlehem schon mit der Corona-Pandemie die sonst üblichen Touristen- und Pilgerströme mit Ziel Geburtskirche – ein Hauptwirtschaftsfaktor der Stadt – abrupt zum Erliegen gekommen. Besitzer von Geschäften und Restaurants hat das besonders hart getroffen, viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Nach der Pandemie hat sich die Situation nur langsam entspannt. Der jetzige Gaza-Krieg aber schafft eine Situation, die noch schwieriger ist: nicht nur die Touristenströme fallen aus, auch die Bewegungsfreiheit innerhalb des Westjordanlands und nach Israel, und damit andere bestehende Wirtschaftsströme, sind durch Sperrungen aufgrund der Kriegssituation noch eingeschränkter als sonst. Viele Palästinenser sagen, die aktuelle wirtschaftliche Lage sei noch schlimmer als zu Pandemiezeiten.

Auch die politische Gemengelage und die israelische Besatzung spielen schon lange eine zentrale Rolle für die Abwanderung christlicher Palästinenser. Sie nimmt zum Beispiel Einfluss darauf, wie christlicher Glaube gelebt werden kann. Zu Ostern, wenn die Grabeskirche Sehnsuchtsort christlicher Palästinenser ist, wollen auch Christen aus dem Westjordanland nach Jerusalem reisen. Von Bethlehem sind es nur etwa zehn Kilometer, doch der Weg ist mit großen Hürden verbunden: Die israelische Sperranlage verläuft zwischen beiden Städten und trennt so die wichtigsten christlichen Zentren voneinander. Palästinenser müssen auf dem Weg einen israelischen Checkpoint überqueren und brauchen dafür eine Genehmigung. In den vergangenen Jahren wurde mehrfach christlichen Gruppen aus dem Westjordanland die Einreise verweigert.

Wo Palästinenser wohnen und sich bewegen können, hängt von ihrer Identitätskarte ab 

Die israelische Besatzung hat auch Auswirkungen auf das alltägliche Leben: Wo Palästinenser wohnen dürfen und wie frei sie sich bewegen können, hängt ungeachtet der Religionszugehörigkeit von ihrer Identitätskarte (ID) ab, die ihnen je nach Heimatort ausgehändigt wird. Palästinenser aus dem Westjordanland besitzen eine West Bank ID. Nur mit Genehmigung dürfen sie nach Israel oder Ost-Jerusalem reisen, dort aber nicht wohnen. Palästinenser aus Ost-Jerusalem hingegen besitzen eine Jerusalem ID. Diese erlaubt es ihnen, in ihrer Heimatstadt zu wohnen und sowohl innerhalb Israels wie auch ins Westjordanland ohne vorherige Genehmigung zu reisen. Ein Familienzusammenschluss zwischen christlichen Palästinensern aus Ost-Jerusalem und Bethlehem bedarf allerdings aufgrund der administrativen und geografischen Abtrennung einer Genehmigung, die nur in seltenen Fällen erteilt wird. Diese Segregation wirkt sich auf die Entwicklung der christlichen Gemeinden aus; die Schwierigkeiten bzw. Unmöglichkeiten der Familienzusammenführung in der eigenen Heimat sind ein weiterer Auswanderungsgrund.

In Ost-Jerusalem berichten die christlichen Gemeinden der Altstadt schon seit Jahren, dass Anhänger jüdischer fundamentalistischer Gruppen immer übergriffiger werden. So gab es seit Anfang des Jahres eine Welle von Hassgewalt gegen Christen und ihre Heiligtümer. In der Geißelungskapelle auf der Via Dolorosa wurde eine Christus-Statue zerstört, ein Friedhof wurde geschändet, Geschäfte und Restaurants christlicher Besitzer in der Nähe des Neuen Tors attackiert, im armenischen Viertel tauchten Graffiti in hebräischer Sprache auf: "Tod den Christen", "Tod den Armeniern" und "Tod den Arabern". Rund um das Jaffa-Tor, dem Eingang zum orthodoxen christlichen Viertel der Jerusalemer Altstadt, sind Grundstücke der griechisch-orthodoxen Kirche mittlerweile im Besitz einer jüdischen Siedlerbewegung. Dem vorausgegangen war ein jahrelanger Rechtsstreit über einen Jahrzehnte zurückliegenden Verkauf der Grundstücke durch einen Kirchenangestellten an die Siedlerorganisation, der ohne Genehmigung der Kirche stattgefunden haben soll. In einer Mitteilung prangerte das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Jerusalem "expansionistische Praktiken" jüdischer Extremisten an, die sich gezielt gegen christliche Kirchen in Jerusalem richteten.

Bild: ©KNA

Hiyam Marzouqa ist Chefärztin des Caritas Baby Hospitals in Bethlehem. Es ist das einzige Kinderkrankenhaus im Westjordanland.

Auch die anderen Kongregationen fürchten um die christliche Präsenz und den multikonfessionellen Charakter der Altstadt. Die Kirchenoberhäupter haben sich zusammengeschlossen, um mittels der Kampagne "Protecting Holy Land Christians" auf die prekäre Lage aufmerksam zu machen. Die Präsenz von Christen am Ursprungsort des Christentums ist historische Realität, jedoch keineswegs für die Zukunft gesichert. Palästinensische Christen müssen sich dabei zwischen zwei Fronten behaupten: Zum einen werden sie von national-religiösen jüdischen Extremisten bedroht, im Westjordanland und im Gaza-Streifen befürchten sie jedoch eine zunehmende Islamisierung. Auch wenn die überwältigende Mehrheit palästinensischer Christen derzeit keine Diskriminierung durch Muslime erfährt, werden religiöse salafistische Gruppen und der politische Islam als potenzielle Gefahr wahrgenommen. Es gab Berichte über fundamentalistische islamische Kräfte, die, etwa in Bethlehem, dazu aufrufen, Geschäfte und Grundstücke von Christen aufzukaufen.

Die Aussicht auf Frieden in weite Ferne gerückt

Obwohl der Anteil der christlichen Bevölkerung schwindet, prägt sie mit ihren Einrichtungen das gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Leben in den Palästinensischen Gebieten. Christliche Organisationen sind der drittgrößte Arbeitgeber im Westjordanland mit mehr als 9000 Mitarbeitern. Damit sind sie besonders wichtig für die palästinensische Wirtschaft. Insgesamt gibt es 296 mit den Kirchen verbundene Einrichtungen, die meisten davon in Ost-Jerusalem und Bethlehem. Sie sind besonders im Gesundheits- und Bildungswesen tätig. Etwa 1,9 Millionen Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen profitieren jedes Jahr von dem Angebot solcher Einrichtungen – unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, sozialem Status oder politischer Überzeugung. Das nun oft heraufbeschworene Szenario, christliche Gemeinden könnten bei dem Tempo des Rückgangs innerhalb einer Generation aus der Region komplett verschwinden, wirkt dadurch umso gravierender.

Die tragende humanitäre und entwicklungspolitische Rolle der Christen im Heiligen Land sind ein wesentlicher Eckpfeiler für Verständigung, Stabilität und Deeskalation in der Region. Doch die Aussicht auf Frieden – auch unter den Religionen – ist insbesondere in Anbetracht der extrem angespannten Lage im Westjordanland und dem jüngsten Gaza-Krieg in weite Ferne gerückt. Die Herausforderungen, vor denen Christen in den Palästinensischen Gebieten stehen, sind nicht von den ortsspezifischen politischen Gegebenheiten zu trennen. Deshalb muss auch die Dimension des israelisch-palästinensischen Konflikts benannt werden, wenn es um die Christen im Heiligen Land geht: Die unterschiedlichen Parteien ringen aus historischen, politischen oder religiösen Gründen um ihre Präsenz in diesem Territorialkonflikt. Doch je stärker der Konflikt sich religiös und ideologisch auflädt, desto weniger wird er sich mit politischen bzw. diplomatischen Mitteln lösen lassen. Insbesondere in Jerusalem, wo Religion und Politik untrennbar miteinander verwoben sind, ist unter Anbetracht der jüngsten Vorfälle zu befürchten, dass die religiösen Interessen dominanter werden und damit mehr Gewalt gerechtfertigt werden könnte. Das schwächt die Kräfte, die sich für eine politische und vor allem friedliche Lösung des Konflikts einsetzen.

Von Steven Höfner

Zur Person

Steven Höfner ist Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah im Westjordanland. Nach den Angriffen der Hamas-Terroristen hat er mit seiner Familie das Land verlassen und befindet sich zur Zeit mit seiner Familie in Wien.