Christine Schultis und ihr Absturz an den Rand der Gesellschaft

Armut ist ein Vollzeitjob

Veröffentlicht am 09.08.2015 um 00:01 Uhr – Von Janina Mogendorf – Lesedauer: 
Armut ist ein Vollzeitjob
Bild: © privat
Soziales

Bonn ‐ Christine Schultis lebte mit Mann und Kindern in Berlin ein Leben auf der Überholspur. Bis ihr Mann sich von ihr trennte, sie ihren Job verlor und vor dem Nichts stand. Im Gespräch mit katholisch.de erzählt sie, wie sie dieser Lebenssituation begegnete.

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Christine Schultis Geschichte beginnt in Berlin, wo sie um die Jahrtausendwende ein Jet-Set-Leben inmitten der Schönen und Reichen führt. Mit ihrem damaligen Mann betreibt sie ein erfolgreiches Fotostudio, kleidet sich in "Marc Cain" und bewegt sich perfekt gestylt zwischen Vernissagen und Empfängen der Berliner Upperclass. Ein Leben auf der Überholspur, das vor die Wand fährt, als ihr Mann mit Designer-Drogen anfängt und sich in ein junges Model verliebt.

"Da saß ich plötzlich alleine in Berlin, mit drei Kindern. Lotta war noch ein Säugling. Mit einem Schlag war ich nicht nur den Mann los, sondern auch meinen Job." In der Not zeigt sich, wer ein echter Freund ist. Christine Schultis macht die bittere Erfahrung, dass es in Berlin kaum jemanden gibt. "16 Jahre hatte ich dort gelebt und musste nun feststellen, dass ich fast nur oberflächliche Kontakte hatte. Beziehungen, die darauf ausgelegt waren, sich gegenseitig von Nutzen zu sein."

Hartz IV für Mutter und Kinder

Zusätzlich zu allem Übel bleibt von Anfang an meistens der Unterhalt aus. "Seit unserer Trennung hat mein Ex-Mann nur sehr selten Unterhalt für die Kinder gezahlt. Für mich selbst noch nie und das, obwohl zwei unserer Kinder behindert sind. Sein Geschäft ging insolvent und ab da lag er finanziell anscheinend immer unter der Grenze", erzählt Christine Schultis. "Trotzdem jettet er nach New York, macht regelmäßig Urlaub und lebt in einem neuen Haus im Bauhaus- Stil, das allerdings auf seine Freundin läuft." Mehr Nachforschung von Seiten der Ämter hätte sie sich gewünscht. Stattdessen läuft es für die Mutter und ihre drei Kinder auf Hartz IV hinaus.

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Viele offizielle Internetseiten von Ministerien und Behörden informieren arbeitslose und verschuldete Menschen. Auch Betroffene schildern ihre Sicht der sozialpolitischen Entwicklungen und geben Tipps auf ihren Internetseiten.

Weg aus Berlin, zurück in die Heimat

In dieser Situation sieht sie nur eine Möglichkeit: Nach 16 Jahren zurück in die Heimat, den "schönsten Flecken Deutschlands" zwischen Schwarzwald und Kaiserstuhl. Auch wenn dort niemand auf sie wartet. "Mein Mann und ich hatten alle Brücken hinter uns abgebrochen, als wir gemeinsam fortgingen." Eine einzige Freundin gibt es noch, nach all den Jahren, von ihren Eltern und Schwiegereltern erwartet sie keine Unterstützung und trotzdem: "Ich musste einfach weg aus der trubeligen Hauptstadt. Mir war ziemlich schnell klar, dass ich auf Hartz IV angewiesen sein werde und auf dem Land ist alles überschaubarer. Die Kinder stehen hier unter einer besseren sozialen Kontrolle."

Bald merkt Christine Schultis, dass die Familie mit dem Hartz-IV-Satz nicht auskommen wird. "Ich musste etwas dazuverdienen, es hat hinten und vorne nicht gereicht." Also schwingt sich die junge Mutter nachts zwischen drei und sechs aufs Fahrrad und fährt Zeitungen aus, während ihre Söhne - damals beide im Grundschulalter - zu Hause schlafen. Baby Lotta legt sie zwischen die Zeitungen in ihrem Anhänger. "Dort schlief sie dann oder sie schrie - je nachdem", erzählt sie unaufgeregt und man hört zwischen den Zeilen: Ich hatte keine Wahl.

Lotta ist drei Jahre alt, als ein neuer Mann in Christines Leben tritt. "Er war meine große Jugendliebe gewesen", erzählt sie. Lange hatte sie nichts von ihm gehört, während er mit seiner Frau und drei Kindern im Süddeutschen lebte. Nach seiner Scheidung meldet er sich bei ihr und die alten Gefühle flammen wieder auf. Gestärkt beginnt Christine Schultis eine Umschulung zur Mediengestalterin, die ihr Spaß macht. Es scheint bergauf zu gehen, beruflich und privat eröffnen sich neue Perspektiven, da passiert es: Kurz vor der Abschlussprüfung erkrankt ihre Tochter Lotta an Windpocken.

Eine arme Frau zählt Geld in ihrer Hand.
Bild: ©picture alliance / ZB

Der Hartz-IV-Satz reicht für Christine Schultis und ihre Familie auch in ihrer Heimat im Schwarzwald hinten und vorne nicht aus. (Symbolbild)

Aus der harmlosen Kinderkrankheit entwickelt sich eine Hirnhautentzündung. "Ein halbes Jahr war ich mit Lotta immer wieder im Krankenhaus", erinnert sich Christine an die schwere Zeit. Als sie entlassen wird ist klar: Lotta wird niemals alleine leben können, sie ist schwerbehindert. Ihre Augen sind stark geschädigt, ihre Sehkraft wird immer mehr nachlassen. "Eines Tages wird sie blind sein." Es ist diese Diagnose, die Christine Schultis nach Monaten des Bangens den Rest gibt. Sie erleidet einen Bandscheibenvorfall. Die Ausbildung zur Mediengestalterin schließt sie nicht mehr ab.

"Damals ist eine Welt für mich zusammengebrochen"

Die Beziehung zu ihrem zweiten Mann läuft immer schlechter. "Unter anderem fühlte er sich überfordert mit dem Kind, das plötzlich so viel Aufmerksamkeit brauchte." Als Lotta sechs Jahre alt ist, kommt Nesthäkchen Greta zur Welt. "Wir waren eine richtige Patchwork-Familie. Greta hat sieben Geschwister. Wenn die Kinder meines Mannes zu Besuch kamen, hatten wir ein volles Haus", erzählt Christine Schultis. Was in Familien-Komödien immer fröhlich rüberkommt, wird in der Realität zu einer großen Belastungsprobe. Christine und ihr zweiter Mann reiben sich auf, zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen und Zugehörigkeiten der Familienmitglieder. "Meine Kinder, deine Kinder, unser Kind - irgendwann ging es nicht mehr", sagt sie. Es kommt zur Trennung und Christine Schultis bleibt mit vier Kindern zurück.

"Damals ist eine Welt für mich zusammengebrochen", erinnert sie sich an ihren geplatzten Traum. Zwar zahlt ihr zweiter Mann für Greta, für Christine und die anderen bleibt jedoch wieder nur Hartz IV. "Es war eine harte Zeit. Wir hatten wirklich zu kämpfen, aber ich wollte meinen Kindern nie das Gefühl geben, dass wir uns nichts leisten können." Wie andere Kinder auch sollten sie die Möglichkeit haben, ein Instrument zu lernen, eine Sportart auszuüben und sich ehrenamtlich zu engagieren. Mit Sozialhilfe alleine wäre das jedoch niemals möglich gewesen.

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Diese Geschichte hat viel mit Scham zu tun. Eine Geschichte, in der Menschen in Mülleimern wühlen, kommt nicht ohne Scham aus. Geld spielt ebenfalls eine Rolle - sehr viel Geld und erschreckend wenig. Vor allem aber erzählt diese Geschichte von Stolz. Vom Stolz darauf, selbstbestimmt gegen die eigene Armut zu kämpfen und der Gesellschaft nebenbei noch einen Dienst zu erweisen. Es geht um Flaschensammler - und um eine Gesellschaft, die sich für die Armut ihrer eigenen Mitglieder schämt.

Also erwärmt Christine Schultis Schallplatten im Backofen und formt daraus Schüsseln. Aus Altkleidern näht sie Taschen und Deko und verbringt die Samstage mit ihren Kindern am Flohmarktstand. Von Frühling bis Herbst zieht die Familie durch Wald und Feld. Sie ernten Äpfel, Birnen und Kirschen von Gemeindebäumen, machen Suppe und Pesto aus Bärlauch und Limonade aus Holunderblüten. Das alles zu kaufen, hätten sie sich nicht leisten können. Den Weg zur Tafel im Nachbarort kennt Christine im Schlaf. "Da bin ich jahrelang mit den beiden Mädchen im Fahrradhänger hingefahren. Dreimal die Woche, neun Kilometer ein Weg bei Wind und Wetter."

Unterstützung kommt von der katholischen Frauengemeinschaft

Hilfe kommt von Freunden, die sie einladen und auch aus der Gemeinde. Als die Kinder zur Erstkommunion gehen, erkennt die Gemeindereferentin die schwierige Lebenssituation. Über die Katholischen Frauengemeinschaft (kfd) kommt Unterstützung, leise und unauffällig. "Dafür bin ich dankbar, denn ich habe nie nach außen gezeigt, wie groß die Probleme waren", sagt Christine Schultis. Und auch gegenüber ihren Kindern klagt sie nicht. Auch wenn die Bürokratie sie manchmal in den Wahnsinn treibt.

Als die großen Söhne alt genug sind, beginnen sie zu jobben, um sich ihre Hobbys zu finanzieren. Alles, was über hundert Euro hinausgeht, wird von der Sozialhilfe abgezogen. Dazu muss die Familie jeden Monat die Abrechnungen ans Jobcenter schicken. Zurück kommen dicke Pamphlete, in denen die neue Berechnung dargelegt wird. "Die haben dreißig Seiten geschickt, obwohl es um meistens um Differenzbeträge von fünf Euro ging", sagt Christine kopfschüttelnd. "Allein was diese Neuberechnung monatlich gekostet haben muss. Das Geld hätten wir gut gebrauchen können."

Eine junge Frau sitzt verzweifelt in einem Mantel auf einem Treppenabsatz in einem Treppenhaus.
Bild: ©picture alliance

Tagsüber sucht Christine Schultis nach kreativen Lösungen für ihre Misere, nachs kommen die Ängste. (Symbolbild)

Vor allem, weil zwischendurch wirklich keines mehr da war. "Dann bin ich mit den Kindern zu IKEA essen gegangen, weil ich wusste, ich kann mit der IKEA-Karte bezahlen und es wird nicht vor dem 20. des nächsten Monats abgebucht." Während Christine Schultis tagsüber nach kreativen Lösungen sucht, kommen nachts die Ängste. Um ihren Kindern Dinge bieten zu können, die für andere alltäglich sind, spart sie an sich selbst. "In einem Sommer hatte ich kein einziges Kleid, da habe ich Schürzen zu zwei Euro gekauft und sie zusammengenäht. Noch heute fragen mich Leute, wo ich das schöne Kleid her habe", schmunzelt sie.

Irgendwann wird der Druck zu groß

Weil die Familie augenscheinlich gut klar kommt, die Kinder in die Schule gehen und gute Leistungen bringen, fallen die Schultis durchs Raster des Jugendamtes. "Wie lange musste ich kämpfen, um einen Familienhelfer zu bekommen", erinnert sie sich. "Es hieß immer, sie brauchen das nicht, bei ihnen läuft doch alles." Wie viel Kraft es sie kostet, alles am Laufen zu halten, zeigt sich 2011. Christine Schultis bricht mit einem epileptischen Anfall zusammen, kommt ins Krankenhaus. "Es war, als hätte sich mein Computer runtergefahren. Ich war sieben Tage die Woche im Versorgungsmodus gewesen und immer allein verantwortlich." Irgendwann ging es nicht mehr. "Ich hatte immer große Angst davor, dass mir etwas passieren könnte. Denn wohin sollen meine Kinder gehen, wenn ich nicht mehr da bin." Auch die Kinder selbst wollten eine Antwort darauf, denn sie hatten Sorge, man könne die Familie im Ernstfall auseinander reißen.

Ihr ältester Sohn Timon, damals 18, übernimmt die Verantwortung, während Christine Schultis im Krankenhaus liegt. "Er hat immer viel mittragen müssen. Fühlte sich als Mann im Haus." Das sei die Gefahr, bei älteren Kindern von Alleinerziehenden. "In dieser Situation wurde den Brüdern auch klar, dass sie irgendwann einmal die Verantwortung über ihre behinderte Schwester übernehmen müssen", seufzt sie.

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Ein Familienhelfer, der endlich vom Amt bewilligt wird, fängt die Familie in der Krisensituation auf. "Er war ein Segen für uns. Er hat mir geholfen, Lotta endlich als ein behindertes Kind zu akzeptieren, und die nötigen schriftlichen Anträge in die Wege zu leiten. Wir machten gemeinsame Ausflüge, führten lange Gespräche. Uns als kleine Familie zu spüren, trotz des Altersunterschiedes, hat uns allen gut getan und uns näher gebracht."

Die große Wende zum Guten

Die große Wende kommt 2012. Christine Schultis erhält eine Arbeitsgelegenheit (AGH). Das ist ein gemeinnütziger, öffentlich finanzierter Arbeitsplatz, der Langzeitarbeitslose bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt helfen soll. Seither arbeitet sie im Tafelgarten, ein Projekt von 48° Süd - Zentrum für neue Arbeit, in der nach biologischen Richtlinien Gemüse für die Tafeln im Landkreis angebaut wird. Seit eineinhalb Jahren ist die 51-Jährige als Projektleiterin eingesetzt und das bedeutet ihr viel. "Diese Arbeit bringt mir Wertschätzung, ein regelmäßiges Gehalt, ein Team, einfach ganz viel Spaß und nie hätte ich gedacht, dass ich nochmal so viel Energie aus mir rausholen kann", sagt sie und ist dankbar dafür, dass ihre Vorgesetzten ihr Potential gesehen und Vertrauen in sie gesetzt haben.

"Wenn ich heute mit schmutzigen Händen aus der Gärtnerei komme und mich mit der Frau vergleiche, die ich in Berlin war, muss ich sagen, dass ich im wahrsten Sinne viel geerdeter bin. Die letzten Jahre waren eine harte Schule, aber ich habe es geschafft und kann die Welt heute mit anderen Augen sehen, bin viel offener geworden für die Realität." Immer wieder  war Christine Schultis arbeitslos. Und doch ist sie es nie gewesen. Denn eins dürfte nach ihrer Geschichte klar sein: Armut ist ein Vollzeitjob.

Von Janina Mogendorf