Warum ist KI für Papst Leo die Soziale Frage unserer Zeit?
Mit seinem Papst-Namen will Leo XVI. an seinen Vorgänger Leo XIII. anknüpfen. Wie einst die erste industrielle Revolution die Kirche im 19. Jahrhundert herausforderte, sieht der Papst heute mit der Künstlichen Intelligenz (KI) neue Herausforderungen für die Verteidigung der Menschenwürde, der Gerechtigkeit und der Arbeit. Schon für Papst Franziskus war KI ein wichtiges Thema – aber dass sein Nachfolger das Thema so zentral an den Anfang des Pontifikats stellt, überrascht. Die katholische Sozialethikerin und KI-Expertin Anna Puzio erklärt im katholisch.de-Interview, was diesen Papst anders macht – und vor welchen Herausforderungen die katholische Soziallehre angesichts der Künstlichen Intelligenz heute steht.
Frage: Frau Puzio, der neue Papst setzt sich in die Tradition des Begründers der päpstlichen Soziallehre, Leo XIII. Ausdrücklich nennt Leo XIV. die Entwicklungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz als eine neue industrielle Revolution, auf die die Kirche reagieren muss. Hat Sie das überrascht, dass KI so früh so zentral in diesem Pontifikat vorkommt?
Puzio: Papst Leo XIV. hat das Thema selbst und von sich aus ganz früh auf die Agenda gesetzt, das ist das Überraschende. Es hätte ja auch viele andere drängende Fragen der Sozialethik gegeben, die er hätte ansprechen können. Das unterscheidet ihn von seinem Vorgänger, für den das Thema nach und nach und von außen kam und eines von vielen war.
Frage: Dennoch war das Thema schon bei Franziskus wichtig, zuletzt hat das Glaubensdikasterium ein großes Grundsatzdokument dazu veröffentlicht. Erwarten Sie jetzt etwas Neues, Anderes vom neuen Papst?
Puzio: Es beginnt ganz persönlich: Leo war mit einer Smartwatch zu sehen. Er hatte selbst Accounts bei Facebook und "X". Er schaut nicht von außen auf technische Entwicklungen, sondern bringt selbst ein Grundverständnis aus der eigenen Medien- und Techniknutzung heraus mit. Das heißt nicht, dass sich die Soziallehre der Kirche unter Leo hinsichtlich der Digitalität grundsätzlich von seinen Vorgängern unterscheiden muss. Ich denke aber, dass er – gerade, weil er sich auf Leo XIII. beruft – Fragen der sozialen Ungerechtigkeit, die durch Künstliche Intelligenz verschärft wird oder neu entstehen, noch mehr in den Mittelpunkt stellt, und dass er die Auswirkungen von neuen Technologien auf die Bedeutung von Arbeit und die Arbeitenden betont.

Dr. Anna Puzio arbeitet als Theologin, Philosophin und Ethikerin an der University of Twente (Niederlande) und University of California in Berkeley (USA).
Frage: In den lehramtlichen Verlautbarungen zum Thema wird bisher in erster Linie auf die Anthropologie abgehoben, also eher ein systematischer als ein praktischer Ansatz gewählt. Kann man so handfesten Realitäten sinnvoll begegnen?
Puzio: Das Instrumentarium der Soziallehre muss weiterentwickelt werden, das steht fest. Die Soziallehre der Kirche entwickelt sich immer weiter. Schon bei Franziskus konnte man sehen, wie eine radikale Technikkritik einer mehr differenzierten Sicht gewichen ist. Dies muss weitergeführt werden. Jetzt wäre es darüber hinaus in der Tat an der Zeit, eine stärker praktische Orientierung in den kirchlichen Technikdiskurs zu bringen. Die Kirche kann die technologischen Entwicklungen nicht nur von außen analytisch betrachten. Sie ist ja selbst Teil dieser Welt und lebt ihre religiösen Praktiken in der Digitalisierung und damit auch im Kontext von KI. Da bin ich gespannt, welche Schwerpunkte Papst Leo hier setzen wird, ob das bei aller Technikaffinität überhaupt schon in seinem Horizont ist, wie religiöse Chatbots, Avatare und Roboter heute schon genutzt werden. Hier wird noch sehr viel experimentiert – ohne dass das schon mit theologischer Expertise durchdacht wäre. Viele religiöse Technologien sind noch gar nicht gut genug, um in der Praxis eingesetzt zu werden.
Frage: Bei Papst Franziskus war die Kritik nicht auf Ebene der Anwendung der Technik, sondern auf Ebene der Beziehungen – da ging es nicht darum, was ein guter religiöser Chatbot ist, sondern dass es stattdessen echte menschliche Beziehungen braucht.
Puzio: Wenn man sich bisher in der Theologie mit Relationalität befasst hat, dann ging es um die Beziehung zwischen Menschen oder zwischen Menschen und Gott. Die Frage ist aber auch, ob und wie Technologien Beziehungen begleiten und unterstützen können oder ob sie zur Isolierung von Menschen beitragen. Hier braucht es die Reflexion, wie Menschen sich zu Technik in Beziehung setzen – und wie Menschen zur Technik in Beziehung gesetzt werden: KI-Systeme als tatsächlich existierende Produkte sind kein neutrales Werkzeug, sondern in der Regel interessengeleitet mit einer ökonomischen Zielsetzung entwickelt. Da sind dann nicht Beziehungen von Menschen der Fokus, sondern die Maximierung von Nutzungszeiten. Letztlich geht es also um das Schaffen von Abhängigkeiten. Zugleich ist die Technik nicht darauf festgelegt: Dieselbe Technologie kann etwa auch für verantwortungsvolle Soziale Robotik eingesetzt werden, in der Bildung, in der Altenpflege, in der Therapie.

"Rerum novarum" aus dem Jahr 1891 ist die erste Sozialenzyklika eines Papstes. Seither haben die Päpste die Sozialverkündigung der Kirche im Spiegel der Herausforderungen der Zeit weiterentwickelt.
Frage: Die katholische Soziallehre hat mit ihren Prinzipien ein bewährtes Instrumentarium, um mit solchen Entwicklungen umzugehen: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl, später kamen Nachhaltigkeit und die Option für die Armen dazu. Kommt man mit diesen Prinzipien den Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz bei, oder braucht es Ergänzungen?
Puzio: Die Sozialprinzipien werden immer weiter entwickelt und in neuen Kontexten auch neu interpretiert. Daher sind die bewährten Sozialprinzipien grundsätzlich Werkzeuge, auf die man zurückgreifen kann. Ich denke aber, dass es den anthropozentrischen Beziehungsbegriff zu weiten gilt. Es geht in der Soziallehre schon länger nicht mehr nur isoliert um den Menschen, sondern auch um seine Verortung in der Welt, in der Natur, etwa in Beziehung zu Tieren und Ökosystemen. So braucht es jetzt eine Weitung auf Beziehungen zu Technologien. Diese Beziehungen sind in ihrer je eigenen Besonderheit zu betrachten. Es geht also nicht darum, zwischenmenschliche Beziehungen zu ersetzen, sondern das menschliche Beziehungsgeflecht insgesamt in seiner Diversität und Pluralität wahrzunehmen. Wenn wir etwa in der Pflege oder in der Begleitung von Menschen mit Autismus "soziale Roboter" einsetzen, dann gilt es, das nicht von vornherein nur als defizitär im Vergleich zu Beziehungen zu Menschen zu sehen, sondern die Besonderheiten dieser Beziehungen zu erfassen.
Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, hier von "Beziehungen" zu sprechen? Oder sollte diese Bezeichnung nicht für Menschen reserviert bleiben?
Puzio: Natürlich stellt sich die Frage, was Beziehungen eigentlich sind – im Sinne von Weltverhältnis könnte alles als Beziehung gedeutet werden – und welche davon normativ bedeutsam sind. Mit Blick auf die Umweltethik hat sich heute schon die Sicht etabliert, dass es etwa zu Tieren tatsächlich Beziehungen gibt, die eine tiefe Bedeutung für Menschen haben. Das kann man zunächst wertfrei feststellen und dann beginnen, diese Beziehungsformen auch als Beziehungen kritisch zu würdigen.
Frage: Bisher wurde von Papst Leo nur das Thema KI und soziale Gerechtigkeit markiert, ausformuliert ist noch nichts. Womit rechnen Sie? Worauf hoffen Sie?
Puzio: Ich denke, er wird – auch vor dem Hintergrund seiner Zeit als Bischof in Peru – einen Blick auf soziale Ungerechtigkeiten, auf die Schere zwischen Arm und Reich richten. Globale Gerechtigkeit wird sicher ein Thema sein. Gespannt bin ich, ob er auch die Geschlechterfrage in den Blick nimmt: Frauen und Männer nutzen Technik anders, sind unterschiedlich durch technische Entwicklungen betroffen und Frauen sind in Technologien unterrepräsentiert. Verschiedene Personengruppen werden durch Technologien diskriminiert, zum Beispiel queere Personen oder Menschen mit Behinderungen. Gerechtigkeit zu schaffen heißt, den Blick auf Vulnerabilität zu lenken, auf Stimmen, die bislang im Technikdiskurs nicht gehört werden. Ich hoffe auch, dass in Kontinuität zu Papst Franziskus Technik- und Umweltethik zusammengedacht wird: Es braucht einen Blick dafür, welche Konsequenzen Technologien für die Umwelt haben.
Frage: Und speziell bei der Künstlichen Intelligenz?
Puzio: Mit Blick speziell auf die Künstliche Intelligenz wäre ein Ansatz wichtig, der KI nicht als entkörperlichtes, abstraktes Gegenüber, sondern als materielle Industrie in den Blick nimmt, an der viele Menschen und Umwelt beteiligt sind und ausgebeutet werden . "Die KI" als Akteur gibt es nicht, es handelt sich um ein komplexes gesellschaftliches System aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Vulnerabilitäten. Dieses Geflecht zu verstehen und zu gestalten ist jetzt die Aufgabe der Sozialethik.