Eine Ordensfrau als Freundin – für Inge Rawe veränderte das viel

Schwester Ursula Hertewichs Gesicht ist von der Sonne gebräunt, ihre braunen Unterarme bilden einen starken Kontrast zu ihrem strahlend weißem Ordensgewand. Auf der Terrasse des Kloster Arenbergs in Koblenz sitzt der 49-jährigen Dominikanerin Inge Rawe gegenüber. Die Kleidung der 71-Jährigen strahlt weniger. Grau- und Brauntöne scheinen ihr zu gefallen. Der einzige Farbtupfer ist ein knallgrünes Taizé-Kreuz, das sie um den Hals trägt. "Die Kette habe ich ihr geschenkt", erzählt Schwester Ursula mit breitem Lächeln.
Vor vier Jahren kreuzten sich die Wege der beiden hier im Kloster Arenberg. Für die Ordensfrau ist dieser Ort ihr Zuhause. Seit 19 Jahren wohnt sie hier mit knapp 40 anderen Dominikanerinnen. Ihr Alltag folgt der getakteten Struktur des Klosters: feste Gebetszeiten, gemeinsame Mahlzeiten und dazwischen die Arbeit im Gästehaus. Dort gibt sie Seminare und steht den Gästen des Klosters als Seelsorgerin zur Verfügung. Außerdem kümmert sie sich um die Ausbildung der Novizinnen – wenn es denn welche gibt.
Das Kloster Arenberg beheimatet 40 Dominikanerinnen und hat Platz für bis zu 100 Gäste.
Rawes Alltag dagegen hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder verändert. Heute ist sie Rentnerin, engagiert sich ehrenamtlich und lebt mit ihrem Ehemann im Hunsrück. Jahrzehntelang arbeitete sie als selbstständige Psychotherapeutin. Sie pendelte oft zwischen dem Hunsrück und Köln, wo ihre Eltern gewohnt haben. Freundschaften und Beziehungen haben häufig nur für Lebensabschnitte gehalten. Auch wenn sie ihre Arbeit geliebt hat, war die Konfrontation mit den Traumata ihrer Klienten nicht immer einfach. "Ich sehe das Glas eher halb leer als halb voll", sagt Rawe. Nachdem 2019 ihr Vater starb, fühlte sie sich ausgebrannt. Nun war sie es auf einmal selbst, die Hilfe suchte – und landete dabei im Zuhause von Schwester Ursula.
Das Kloster Arenberg kannte Rawe schon aus den Schwärmereien ihrer Klienten. Eigentlich habe sie mit Kirche so gar nichts am Hut, sagt die 71-Jährige. Als Jugendliche ging sie auf Wunsch ihrer Eltern zwar zur Konfirmation, doch ihre Verbindung zum Glauben war danach schnell wieder vorbei. Das "Wellnesskloster Arenberg", wie sich das Gästehaus nennt, klang in ihren Ohren aber nicht so religiös – also beschloss sie, es auszuprobieren und buchte eine Auszeit im Kloster.
„Ich wollte die Grenzen hier austesten.“
Während ihres Aufenthalts ging sie – wie viele der anderen Gäste auch – zu einem Seelsorgetermin bei Schwester Ursula. "Ich wollte die Grenzen hier austesten", sagt sie heute mit einem verschmitzten Lächeln. In ihrem Kopf tat sich eine lange Liste voller Vorurteile gegenüber Ordensleuten auf: moralisierend, eng in ihrem Blick auf die Welt, lebens- und lustfeindlich. Also konfrontierte sie die fremde Schwester mit ihrer ganzen Lebensgeschichte, unverblümt und ohne Schonung. Rawe erzählte von ihren zwei Scheidungen, ihrer Drogenvergangenheit, ihren Jahren im sozialistischen Aktivismus und ihrer Distanz zur Religion. "Wenn sie nur mit der Wimper gezuckt hätte, wäre ich weg gewesen", macht sie auch heute noch deutlich. Anders als erwartet, kam von der Dominikanerin aber kein verurteilender Blick, keine unpassenden Ratschläge. Sie fühlte sich gehört und gesehen. "Ich bin dahingeschmolzen wie Butter", erinnert sie sich. Man merkt, dass sich auch vier Jahre später ein Kloß in ihrem Hals bildet, wenn sie diese Geschichte erzählt.
Auch Schwester Ursula erinnert sich noch genau an dieses erste Treffen. Der Termin startete wie jedes der unzähligen Seelsorgegespräche, die sie Jahr für Jahr in ihrem Büro führt. "Es kommt schon mal vor, dass ich Gäste besonders sympathisch finde", erzählt die Ordensfrau. "Aber dieses Gespräch war irgendwie magisch." Das Nicht-Katholischsein, die Scheidungen, das war ihr völlig egal. "Ich war fasziniert von dieser Powerfrau und ihrem Kampf für Gerechtigkeit", sagt sie. Trotz aller Unterschiede spürte sie sofort eine tiefe Verbindung. Nach dem ersten Zusammentreffen ging aber erstmal jede wieder zurück in ihren Alltag.
Das erste Zusammentreffen wirkt bei beiden nach
Doch schon einen Monat später kehrte Rawe zurück nach Arenberg – und suchte erneut das Gespräch mit Schwester Ursula. Die Treffen der beiden wurden länger und verließen die professionelle Ebene der Seelsorge. Vom anfänglichen Siezen wechselten die zwei Frauen zum freundschaftlichen Du. Auch Schwester Ursula fühlte sich bei der über zwanzig Jahre älteren Rawe geborgen und teilte immer mehr aus ihren Leben. "Wenn man sich in unserem Alter kennenlernt, dann hat man sich wirklich viel zu erzählen", sagt die 71-Jährige. Über Monate hinweg sahen sie sich regelmäßig – und wuchsen immer enger zusammen.
Die langen und tiefen Gespräche sind von Anfang an das Besondere an ihrer Freundschaft. Ob im Klostergarten oder beim Plätzchenbacken in Rawes Küche – beide hören einander lange zu. Die Blicke hängen dabei an den Augen der jeweils anderen. Vielleicht gerade, weil immer wieder die Unterschiede zwischen den beiden deutlich werden. Rawe erzählt beispielsweise von ihrer Jugend in den 70ern, von "Sex, Drugs and Rock’n’Roll", wie sie sagt. Schwester Ursula berichtet von ihrem Aufwachsen, geprägt von klassischer Musik, kirchlicher Jugendarbeit und dem Gefühl nie richtig dazuzugehören. Dennoch gibt es auch Parallelen: Beiden ist es wichtig, sich zu engagieren. Ob in der linken Szene oder in der Kirche – beide wollen eine gerechtere Welt.
Auch beruflich näherten sich die beiden Frauen an. "Die Theologie und die Psychologie sind sich eigentlich sehr ähnlich", erklärt Rawe. Dass sie das erkannt hat, verdankt sie den vielen Erklärungen von Schwester Ursula. Wenn sie etwa über den Umgang mit der eigenen Vergangenheit sprechen, zitiert Ursula eine Stelle aus dem Johannesevangelium: Jesus heilt einen Gelähmten und sagt ihm, er solle seine Bahre nehmen und gehen. "Die Geschichte bedeutet für mich, dass der Mann sein altes Leben nicht "abschneiden" muss. Das, was ihn so lange getragen hat, wird noch einmal besonders gewürdigt", erklärt die Ordensfrau. Rawe, die sich nie näher mit Religion befasst hat, hört dann aufmerksam zu. "Ich war in diesem Aspekt ein unbeschriebenes Blatt", gibt sie zu. Doch viele von Schwester Ursulas Gedanken über Glauben und Spiritualität berührten sie tief – und stießen etwas in ihr an.
„Freundschaften kann man nicht machen, die bekommt man geschenkt.“
Schon kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen entwickelte sich die Idee, gemeinsame Kurse im Kloster anzubieten. Wenn sie etwa mit den Kursteilnehmern über Furcht sprechen, dann ergänzen sich die Psychotherapeutin und die Seelsorgerin perfekt. Rawe geht inzwischen im Kloster regelmäßig ein und aus. "Ich mag diese Gemeinschaft hier wirklich", sagt sie. Die Rentnerin begleitet auch zwei ältere Mitschwerstern von Schwester Ursula therapeutisch. Das Kloster Arenberg ist für die beiden der zentrale Ort ihrer Freundschaft geworden. Das ist auch wichtig für Schwester Ursula, die durch die Klostergemeinschaft stark an diesen Ort gebunden ist. "Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, geht nicht immer", erzählt sie.
Rawe und Schwester Ursula haben jeweils einen Menschen gefunden, der ihnen einen Einblick in eine andere Welt gibt. Rawe hat gelernt, das Glas häufiger halb voll zu sehen. Ihre Vorurteile gegenüber Ordensleuten wurden verworfen. Durch Schwester Ursula hat sie den katholischen Glauben ganz anders kennen- und liebengelernt. An Pfingsten hat sie sich sogar firmen lassen. Natürlich war Schwester Ursula ihre Firmpatin. "Diese Freundschaft deckt wirklich einen Aspekt ab, den meine Ehe nicht abdecken kann", erzählt sie. Für Schwester Ursula ist der Kontakt zu Rawe eine wichtige Abwechselung. Sie hilft ihr einen Außenblick auf das enge Zusammenleben im Kloster zu bekommen. Auch von Rawes therapeutischem Wissen kann sie viel für ihre Arbeit als Seelsorgerin mitnehmen. Für Schwester Ursula steht fest: "Freundschaften kann man nicht machen, die bekommt man geschenkt." Und diese Freundschaft ist für beide ein besonderes Geschenk.