Straßenkunst zwischen Subkultur und Vermittlungsstrategie

Kunst oder Vandalismus? Graffiti an und um Kirchen

Veröffentlicht am 16.08.2025 um 12:00 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Für die einen ist es ein Angriff, für die anderen ein künstlerisches Statement: Zu Graffiti und Street Art gibt es ganz verschiedene Meinungen. Die Kirche bewegt sich zwischen beiden Polen: Mal bedeutet ein Graffiti hohe Kosten, mal ein neues Highlight.

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Ein für uneingeweihte nichtssagendes Buchstabenkürzel, schnell auf eine Ziegelwand gesprüht: Das ist das Bild, das viele Menschen von Graffiti haben. Als Vandalismus, als hässlich, als Schmutz. Da geben ihnen viele Fälle recht, wenn auch nicht alle.

Natürlich gibt es sie, die vielen Meldungen, wenn eine Kirche mal wieder Ziel von Sprayern geworden ist: Gebäude der Kirchengemeinde St. Marien in Osnabrück wurden immer wieder besprüht, an die Hannoveraner Marktkirche sprayten Unbekannte "Bigotterie" – und der Staatsschutz ermittelte. In Wurzen wurde sogar von einem Graffiti-Serientäter berichtet, der es auf Kirchen abgesehen hatte.

Aber das ist nicht das ganze Bild, denn Graffiti hat viele Gesichter: Tags wollen vor allem die Präsenz des Sprühenden oder seiner Gruppe zeigen, Writings sind dagegen künstlerisch ambitionierter, da geht es um die Ästhetik. Darüber hinaus gibt es in der Street Art auch größere, aufwändigere Malereien, die figürlich sind. Irgendwo dazwischen sind die Stencils – also Schablonen, mit denen Bilder einfach und schnell massenhaft verbreitet werden können. Das Sprühen auf der Straße hatte also schon immer mehr als nur eine künstlerische Intention, es geht auch um Soziales und Politik. Letzteres wird vor allem in Lateinamerika spürbar. In Chile sprayte etwa die Brigada Ramona Parra als künstlerisch verlängerter Arm der Kommunistischen Partei Chiles gegen die Diktatur des Pinochet-Regimes an.

Mit der Kunst gegen das Unrecht

Von dieser Tradition hat sich der Graffitikünstler und Sozialarbeiter Mika Springwald inspirieren lassen, der immer wieder im kirchlichen Raum den Glauben mit der Sprühflasche ausdrückt. "Es ist die ganz klassische Sozialarbeiter-Krankheit: Man will 'mal eben' mit Jugendlichen was sprühen und bunt machen. Dann merkt man ganz schnell, dass das nicht 'mal eben' geht", sagt er. "Künstler der Brigada Ramona Parra waren mal bei uns in Osnabrück und ich habe mit ihnen ein Projekt gemacht. Über sie bin ich zum Sprühen gekommen." Für ihn der entscheidende Punkt: Sich mit Mitteln der Kunst kritisch gegen Unrecht zu stellen.

Deshalb hat er bis heute Verständnis, wenn sich Leute etwa an Tags stören, sagt er: "Da geht es ja eher darum, dass man sich traut, etwas Illegales zu machen." Ihm falle es da schwer, eine künstlerische Note zu finden. Ihm geht es um etwas Anderes: Man müsse ja nicht illegal arbeiten, aber die Themen der Subkultur durchaus mitnehmen: Ungleichheit, die Perspektive benachteiligter Menschen. Da biete sich die Kirche an. "Wir müssen wieder lernen, die Sozialverbände als Teil der Kirche wahrzunehmen. Denn Kirche, das ist nicht nur Gottesdienst." In jeder Gemeinde gebe es Menschen am Rand. "Gerade als Kirche haben wir die Aufgabe, sie aufzufangen und zu erreichen." Auch an Flächen komme man, mit Dialog: "Wenn man nett fragt, gibt es fast in jeder Gemeinde eine Fläche, wo man sprühen kann."

Springwald macht regelmäßig Street Art-Projekte mit Jugendlichen in Schulen und Akademien, auch im christlichen Bereich. Er sieht darin einen Weg, junge Leute für existenzielle Fragen zu interessieren. "Die Sprühdose hat immer noch den Hauch der Illegalität, das will jeder ausprobieren", sagt er. Von der Methode könne er dann in seinen Kursen auf tiefere Themen kommen. "Fundamente des Glaubens kann man auch sprühen!" Wichtig sei es ihm, dass am Ende jedes Kurses die jungen Leute etwas mit nach Hause nehmen und an die Wand hängen könnten. "Das steht für: Das habe ich gemacht." Das positive Erlebnis mit der Kirche bleibe, auch wenn es nur noch wenig andere Verbindungen gebe. "Wenn wir an das Thema Graffiti nur mit Ängsten herangehen, brauchen wir uns um die Wände unserer Kirchen bald keine Sorgen mehr zu machen. Denn dann ist niemand mehr da, der sie braucht."

Bild: ©Privat, Montage: katholisch.de

Street Art-Künstler Mika Springwald mit seinen Werken.

Nicht mit Angst, sondern mit viel Mut ist die Kirche im Kehler Stadtteil Goldscheuer an das Thema Graffiti herangegangen. Die kleine Kirche "Maria, Hilfe der Christen" aus den 1960er Jahren stand Anfang des 21. Jahrhunderts schon vor dem Aus: Renovierungsbedarf und zu wenige Gottesdienstbesucher. Doch anstatt aufzugeben, überlegte sich die Pfarrei etwas Neues: Der Künstler Stefan Strumbel gestaltete die Kirche im Street-Art-Stil um. Ein großes, poppiges Marienbildnis beherrscht nun die Orgelempore, die Kreuzigungsgruppe über dem Altar wird von rosafarbenen Strahlen umrahmt. Daneben LED-Lichter und Comic-Sprechblasen. Nach anfänglicher Skepsis steht die Gemeinde heute hinter dem Projekt.

"Die Leute hier sind richtig stolz auf ihre Kirche", sagt Gemeindereferentin Elisabeth Humpert, die schon seit Jahren an und mit der Kirche arbeitet. "Sie erzählen sogar im Urlaub davon." Der Bau habe nicht mehr den Charme einer Turnhalle, sondern sei einladend. "Die Menschen haben hier wieder eine Heimat gefunden und kommen häufiger zum Gottesdienst." Auch die Gottesdienste an sich hätten sich verändert: Durch den offenen und fröhlichen Raum stimme das Umfeld, das Angebot sei vielfältiger geworden. Man feiere regelmäßig abends Andachten, auch ökumenische Gottesdienste seien häufiger geworden. "Natürlich wollen auch viel mehr Menschen als früher hier heiraten oder ihre Kinder taufen lassen."

Von der Kunst zum Glauben

Auch viele Gruppen kommen, so Humpert. Darunter seien einige, die sich in erster Linie für die Kunst interessieren. "Das führt bei so mancher Firm- oder Studierendengruppe aber auch dazu, dass sie sagen: 'Jetzt sind wir schonmal hier, jetzt wollen wir auch eine Andacht oder einen Gottesdienst.'"

Für die Menschen vor Ort ist die Kirche deutlich selbstverständlicher geworden als zu Anfang. Gab es in den ersten Jahren noch eine Art ehrenamtlichen Wachdienst, der Acht gab, dass niemand Unsinn in der Kirche treibe, ist das Vertrauen mittlerweile gewachsen. Die Kirche mitsamt ihrer Street Art-Ausstattung ist unbewacht.

Dass das auch zu Unfällen führen kann, mussten die Kölner erleben: An der dortigen Cäcilienkirche brachte der Schweizer Künstler Harald Naegeli 1980 mit einer Sprühdose ein Skelett an, "Totentanz" nannte er seine zunächst illegal entstandene Arbeit als Referenz an historische Vorbilder. Als ikonisches Graffiti war sie dort Jahrzehnte sichtbar – bis Mitarbeitende der Stadtreinigung sie vergangenes Jahr beim "Saubermachen" ganz erheblich beschädigten. Was früher illegaler Schmutz war, soll nun aufwändig restauriert werden.

Von Christoph Paul Hartmann