Nicht nur populistisch: So vielfältig sind religiöse Influencer
Zwar gehen die Mitgliederzahlen der Kirchen zurück, andernorts wird Religion dagegen präsenter: im Internet. Religiöse Influencer sprechen dort über ihren Glauben – aber nicht nur das. Besonders bekannt werden Content Creator, wenn sie polarisieren und etwa gegen die liberale Gesellschaft anreden. Doch ist das ein Phänomen der gesamten Szene? Die Bochumer Religionssoziologin Anna Neumaier forscht gemeinsam mit Jan Philipp Hahn von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zu religiösen Influencern. Im katholisch.de-Interview räumen beide mit Klischees auf und betonen die Vielfalt.
Frage: Frau Neumaier, welche Bedeutung haben religiöse Influencer?
Neumaier: Natürlich sind das Internet und die Sozialen Medien ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, sie durchdringen im Grunde, wie wir unsere Welt konstruieren, wie wir unsere Sozialbeziehungen pflegen, welche Informationen uns erreichen. Das gilt auch zunehmend für Religion. Da verschiebt sich mit dem nächsten Generationswechsel auch etwas: Als ich 2008 promoviert habe, habe ich Foren zu religiösen Themen erforscht. Das war damals noch eine kleine Gruppe, die sich da versammelt hat. Heute hat das ganz andere Dimensionen. Ähnlich ist die Funktion: Diese Orte sind für manche Leute eine Ergänzung zu einer Einbindung in eine Gemeinde, in eine christliche Gemeinschaft. Für andere Leute ist es aus verschiedenen Gründen ein Ersatz.
Frage: Herr Hahn, was macht die Anziehungskraft von Influencerinnen und Influencern aus?
Hahn: Da haben wir in der Analyse vor allem zwei Cluster herausgefiltert: Da sind zum einen jene, die nicht nur ein religiöses Deutungsangebot der eigenen Gegenwart liefern, sondern das auch mit politischen Ansichten verknüpfen. Das ist in vielen Fällen sehr attraktiv, weil da nicht nur eine Antwort darauf geliefert wird, an was man glauben und wie man sich verhalten sollte. Sondern es werden gesellschaftliche und politische Positionen gleich mitgeliefert – Stichworte hierfür sind etwa Familienkonzepte, Schwangerschaftsabbrüche oder queere Menschen.
Frage: Was gibt es darüber hinaus?
Hahn: Viele religiöse Influencer verbinden ihren Glauben und ihre theologischen Ansichten mit einer Art Erfolgsnarrativ. Im Moment ganz prominent in den Medien ist etwa der Jesus-Glow, wo junge Frauen zeigen, wie die Hinwendung zum Glauben an Jesus Christus sich positiv auf ihr Äußeres niederschlägt, wie sie auf einmal strahlen. Bei Männern wird das dann etwa mit deren Bodybuilding-Aktivitäten verbunden. Es geht also um einen körperlichen oder charakterlichen Fortschritt durch den Glauben.
Die Bochumer Religionssoziologin Anna Neumaier forscht gemeinsam mit Jan Philipp Hahn von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zu religiösen Influencern.
Frage: Was macht die digitale Vermittlung mit dem Glauben?
Hahn: Das kommt sehr darauf an. Es gibt natürlich jene Accounts, die eine ganz starke Jesusfrömmigkeit propagieren und aus dem evangelikalen Bereich kommen. Akteure aus dem evangelikalen und charismatischen Umfeld sind in sozialen Medien überrepräsentiert, aber sie sind auch nicht die einzigen. Genauso gibt es landeskirchliche Pfarrpersonen, die von ihrem Glauben erzählen, orthodoxe Kirchenvertreter und Katholiken. Was dabei allerdings auch auffällt: Die Herkunftstradition, die Konfessionalität verliert an Gewicht. Es geht vielmehr vom Individuum aus: Was funktioniert für mich persönlich? Das sind Fragen, die sich Content Creatoren und Rezipientinnen und Rezipienten stellen – da steht die eigene Tradition hintenan.
Neumaier: Natürlich gibt es einen Trend hin zu gewissen Erzählweisen. Die Inhalte müssen irgendwie narrativ so aufbereitet werden, dass es schnell catcht. Also am Anfang muss man hängenbleiben, das belohnt auch der Algorithmus. Oder man muss an Trends anschließen, zum Beispiel auf Tiktok an den entsprechenden Audioclip. Was darüber hinaus viele Creatoren verbindet ist eine sehr persönliche Herangehensweise an den Glauben, den vielleicht mit der eigenen Lebensführung zu belegen oder darzustellen. Also Religion wird sehr subjektiviert dargestellt. Das deckt sich mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen: Die Privatisierung von Religion, die Subjektivierung von Religion. Man selbst ist der Referenzpunkt und das trifft sich dann am besten mit einer Kommunikation, die ähnlich funktioniert. Ausnahmen gibt es natürlich immer: hochintellektuellen Content gibt es auch. Das ist aber nichts für eine breite Nutzerschaft. Die Bedürfnisse der Rezipientinnen und Rezipienten haben auch damit zu tun, wo sie im Leben stehen, ob sie in der lokalen Kirchengemeinde aktiv sind.
Frage: Es geht also um Identifikationsmuster?
Neumaier: Fragen nach der Lebensführung im Glauben, Sexualitätsfragen, Identitätsfragen und so weiter spielen da eine Rolle, die in der Gemeinde vor Ort vielleicht nicht adressiert werden. Religiöse Online-Nutzung ist immer ein Puzzlestein in einem größeren Feld der Auseinandersetzung mit Glauben und Religion. Das kann bis zu ganz praktischen Ansätzen gehen: Wie kann das Gebet in den Alltag integriert werden, oder das Bibellesen? Da leben Influencer mit ihrem Angebot vor, wie das gehen kann und die Zuschauer können das übernehmen oder für den eigenen Alltag anpassen.
Hahn: Die meisten religiösen Influencer liefern ein vielschichtiges Identitätsangebot, bei dem Religion meistens, aber nicht immer die primäre Dimension ist. Viele weibliche Influencerinnen zeigen etwa ihr Church Outfit oder wie sie mit ihrer Mutter zum Kaffee trinken gehen. Da werden identitätsrelevante Versatzstücke aneinandergereiht und miteinander kombiniert.
Frage: Zahlenmäßig sind die Accounts, die gegen Minderheiten wettern und scheinbar einfache Antworten auf komplexe Themen anbieten, deutlich erfolgreicher als liberalere Accounts. Steht das nicht für eine Schlagseite bei religiösen Influencern?
Neumaier: Selbst kleinere Accounts haben oft eine deutlich größere Zuschauerzahl als viele Gemeindepredigten. Man muss ja nicht jeden Account mit den Kardashians vergleichen. Natürlich ist das Potenzial viel größer. Aber auch die kleineren Accounts muss man sehen, sonst verengt man das Bild. Natürlich belohnen Algorithmen indirekt häufig polarisierenden Content. Schlicht ist aber nicht per se schlecht – man kann auch davon lernen, Themen zielgruppengerecht und interessant aufzubereiten.
Hahn: Nicht alle Influencer haben ihre enorme Reichweite mit religiösen Inhalten aufgebaut. Manche waren schon vorher queerfeindlich und haben sich erst zu späterem Zeitpunkt dem Thema Religion zugewandt. Auch Sportler, die über Religion sprechen, sind wegen ihrer Erfolge groß geworden, nicht wegen ihrer religiösen Inhalte. Da muss man also differenzieren.
„Vornehmlicher geht es um eine Art Stabilisierung der religiösen Identität, von etwas, das man vielleicht innerlich schon fühlt, aber sich durch den Content weiter bestärkt wird.“
Frage: Ändert sich denn der Glaube dadurch, dass man sich viel Content von Influencern ansieht?
Neumaier: Das ist die große Blackbox, die auch noch nicht gut erforscht ist. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es wahnsinnig schwer ist, an die Rezipientinnen und Rezipienten ranzukommen, aus technischen, sozialen und allen denkbaren Gründen. Ich glaube aber, das vorherrschende Muster ist, dass die Leute auf der Suche sind nach etwas, das sie bestätigt, wo sie stehen. Vornehmlicher geht es um eine Art Stabilisierung der religiösen Identität, von etwas, das man vielleicht innerlich schon fühlt, aber sich durch den Content weiter bestärkt wird. Wiederum der Hinweis: Ja, der Algorithmus begünstigt teils reißerische, populistische Inhalte. Aber es gibt eben auch andere Fälle – zum Beispiel queere Menschen, die in Sozialen Netzwerken die Repräsentation sehen, die es bei ihnen vor Ort nicht gibt. So hilft der Austausch im Internet, die eigene Identität zu verhandeln und neu zu betrachten.
Frage: Kommen so auch bislang religionsferne Menschen zum Glauben?
Neumaier: In Follower-Studien sieht man, dass knapp über 80 Prozent derjenigen, die online religiösem Content folgen, in irgendeiner Weise auch offline in religiösen Communities aktiv sind. Es ist eher die Ausnahme, dass Menschen rein im Online-Bereich ihre religiöse Identität ausleben. Bei denen handelt es sich oft um Leute, soweit zeigen das qualitative Studien, die diesen Kontakt mal hatten und verloren haben, etwa wegen eines Umzugs. Da sind die Umstände oft ganz verschieden.
Frage: Die Landschaft der religiösen Influencer hat also eine große Bandbreite.
Hahn: Das Szene religiöser Influencer ist deutlich bunter, als es oft den Anschein hat. Da ist nicht nur eine Zielgruppe und es gibt nicht notwendigerweise eine Korrelation mit rechten oder illiberalen Haltungen. Diese Vielfalt muss man wahrnehmen und ernst nehmen.
