Liturgie heute nicht nur Spiegel urchristlicher Mahlfeiern

Kranemann: Eucharistie lebt vom Miteinander – nicht von Anonymität

Veröffentlicht am 30.10.2025 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Bonn ‐ Viele erleben die Messe als formales Ritual ohne Nähe. Doch Liturgie braucht Begegnung, sagt der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann im katholisch.de-Interview – und erklärt, wie Eucharistie wieder Gemeinschaft stiften kann.

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Die Eucharistiefeier habe ihren Charakter als Ort persönlicher Begegnung verloren, kritisierte kürzlich die Bibelwissenschaftlerin Hildegard Scherer. Aus der lebendigen Mahlgemeinschaft der frühen Christen sei vielerorts eine formalisierte Liturgie geworden, in der Nähe und Austausch kaum noch Platz hätten. Doch stimmt das wirklich? Der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann meint, die Eucharistiefeier bereite nach wie vor Raum für persönliche Begegnung – allerdings nur, wenn sie auch gewollt und gestaltet werde. Im Gespräch mit katholisch.de erklärt er, warum Liturgie von Begegnung lebt, was sie gegen Vereinsamung bewirken kann – und wie sie heute wieder gemeinschaftlicher gefeiert werden könnte. 

Frage: Professor Kranemann, hat die Eucharistiefeier ihren Charakter der "persönlichen Begegnung" eingebüßt? Wie würden Sie als Liturgiewissenschaftler diesen Befund einordnen? 

Kranemann: Die Eucharistiefeier lässt grundsätzlich heute persönliche Begegnung zu: in der Art und Weise, wie Menschen zusammenkommen, im gemeinsamen Beten, in Riten wie dem Friedensgruß, in der Art und Weise der Kommunion, natürlich bei dem, was vor und nach dem Gottesdienst geschieht. Aber Begegnung muss gewollt sein und zugelassen werden. Eucharistie geht nicht in anonymem Nebeneinander auf. Eine andere Frage ist, wie tief solche Begegnung reicht. Und die konkreten Umstände spielen eine Rolle: Wie versammeln sich Menschen zur Eucharistie? Wie gehen sie miteinander, mit Ämtern und Rollen um? Ein liturgischer Raum kann Begegnung fördern, aber auch verstellen. Wie groß ist die Gemeinschaft, die feiert? Großgemeinden, wie sie mehr und mehr entstehen, fördern eher Anonymität. Liturgie kann nicht die Defizite an persönlicher Begegnung beheben, die im sonstigen kirchlichen Leben fehlen. Nicht zuletzt: Wollen Menschen überhaupt persönliche Begegnung? Persönliche Begegnung lässt sich nicht verordnen, sie muss Menschen ein Anliegen sein.  

Frage: Inwiefern spiegeln heutige liturgische Formen noch die gemeinschaftsorientierte Praxis der urchristlichen Mahlfeiern wider?

Kranemann: Die heutige Liturgie ist nicht einfach ein Spiegel urchristlicher Mahlfeiern. Unterschiedliche kulturelle Zeiten und Räume trennen bei allem, was verbindet. Man muss sich zudem von der Vorstellung lösen, es habe jemals ein goldenes Zeitalter der Liturgie gegeben. Auch das Neue Testament berichtet ja nicht nur von gelingender Liturgie, wenn man etwa an die Gemeinde in Korinth denkt. Trotzdem werfen diese Mahl- und Eucharistiefeiern der Frühzeit und ersten Jahrhunderte Fragen an die Gegenwart auf.  

Frage: Die wären… ?

Kranemann: Durch einen anderen Umgang etwa mit Brot und Brotbrechung oder mit der Kelchkommunion kann die Mahlfeier deutlicher aus sich sprechen. Eine Zeichenhandlung wie die Brotbrechung und die Kommunion dieses dann geteilten Brotes wäre ein deutliches Zeichen "gemeinschaftsorientierter Praxis", auch das Kommunizieren in Kommunionkreisen. Aber ist überhaupt im Blick, dass solche rituellen Handlungen performativ, also aus sich heraus, Gemeinschaft, letztlich Christusgemeinschaft, schaffen? Ein zu gewohnheitsmäßiger Umgang mit Liturgie übergeht schnell solche Zusammenhänge.  

Der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann
Bild: ©Universität Erfurt (Montage: katholisch.de)

Benedikt Kranemann ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Erfurt.

Frage: Welche liturgiegeschichtlichen Entwicklungen haben denn dazu geführt, dass die Eucharistie stärker ritualisiert und weniger als Begegnungsereignis erlebt wird? 

Kranemann: Historisch haben die immer stärkere Klerikalisierung der Eucharistie, also letztendlich die Fixierung aller Handlungen auf den Priester, und Verschiebungen in Theologie und Frömmigkeit von einem Feiergeschehen hin zu einem liturgischen Formalismus Wirkung gezeigt. Lange kam es nicht mehr auf ein wie auch immer geartetes Begegnungsereignis an, sondern auf den korrekt vollzogenen Ritus. Dahinter trat alles andere zurück. Dann war beispielsweise die genaue Rezitation des Canons, des Hochgebets, entscheidend, aber nicht Mahl, Kommunion der Gläubigen, Begegnung. Das hat sich so sehr in Frömmigkeit und Mentalität eingegraben, dass es bis heute nicht gänzlich überwunden ist.  

Frage: Warum ist es überhaupt wichtig, dass es in der Eucharistiefeier persönliche Begegnung gibt? Kann man sich nicht auch einfach anonym in eine Messe setzen? 

Kranemann: Ja, wer das möchte, kann natürlich anonym an der Messe teilnehmen. Aber letztlich braucht Liturgie das Miteinander. Das gemeinsame Hören, Beten, Mahlhalten zielt auf Gemeinschaft in und mit Christus. Es geht um Kirche, geht insbesondere auch um das, was an Ermutigung zur Lebensgestaltung und zum Engagement aus dieser gemeinschaftlichen Feier entsteht. Deshalb müssten die Verantwortlichen für eine Eucharistiefeier den Anspruch haben, eine solche glaubens- und lebensdienliche Gemeinschaft und eine entsprechende Liturgie zu fördern. Wo das gänzlich fehlt, hat es Liturgie noch schwerer, akzeptiert zu werden, als sie es ohnehin schon hat. Dann steht der Vorwurf der Lebensferne im Raum, und das nicht ohne Berechtigung.

Frage: Sie sprechen damit fast schon ein gesellschaftliches Problem an – Einsamkeit… 

Kranemann: Mir ist Folgendes wichtig: Wir diskutieren über Einsamkeit von Menschen als eines der großen gesellschaftlichen Probleme. Was lässt sich kirchlicherseits auch durch den Gottesdienst an Hilfe anbieten? Wollen Menschen in einer Messe wirklich anonym bleiben oder suchen sie dort vielleicht doch Gemeinschaft? Persönliche Begegnung in der Liturgie als ein Mittel gegen Einsamkeit als soziales Übel – auch das wäre eine Überlegung wert. 

Frau teilt die Kommunion aus
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

"Die heutige Liturgie ist nicht einfach ein Spiegel urchristlicher Mahlfeiern. Unterschiedliche kulturelle Zeiten und Räume trennen bei allem, was verbindet", sagt Kranemann.

Frage: Könnte man sagen, dass die heutige Eucharistiefeier mehr Sakrament als Mahlgemeinschaft geworden ist – und ist das überhaupt ein Gegensatz? 

Kranemann: Nein, Sakrament und Mahlgemeinschaft sind kein Gegensatz. Dieses Mahl wird im Glauben an und in der Hoffnung auf die sakramentale Gegenwart Christi gefeiert. Die sakramentale Mahlgemeinschaft erinnert an die Hingabe Jesu Christi, feiert die Präsenz Christi im Hier und Jetzt und hält das Mahl in der Erwartung auf die Vollendung bei Gott. Aber passt die Performance der Liturgie theologisch? Welches Bild von Gemeinschaft und Kirche entsteht in der Feier? Dabei reicht nicht der Blick auf die Gebetstexte, vielmehr ist gerade das Ritual wichtig. Wird Gemeinschaft um den gegenwärtig geglaubten Christus deutlich? Kommen bei aller Formalisierung und Stilisierung, die beim Ritual "Messfeier" nicht zu vermeiden ist, Mahlelemente zum Tragen? Lässt die Brotkommunion erahnen, dass es hier um Brot geht? Gibt es eine Kelchkommunion? In welcher Weise kommen die Kommunizierenden im Raum zusammen? Vor Ort muss überlegt werden, wie das, was gewichtig als Mahl-Gemeinschaft bezeichnet wird, zur Erfahrung gebracht werden kann. 

Frage: Neutestamentlerin Scherer sieht in schrumpfenden Gemeinden eine Chance, die ursprüngliche Gemeinschaftsform wiederzuentdecken. Wie bewerten Sie diese Perspektive aus liturgiewissenschaftlicher Sicht? 

Kranemann: Dass die Gemeinde schrumpft, die sich zum Gottesdienst versammelt, ist bedauerlich. Mittlerweile ist die Eucharistiefeier auch in der Kirche vielerorts die Veranstaltung einer Minderheit. Das liegt auch daran, dass Begegnung fehlt und Menschen den Eindruck haben, dass sie persönlich mit ihrem Leben und Alltag keine Rolle spielen. Aber in der kleinen Gottesdienstgemeinde kann eine Chance liegen, die längerfristig Liturgie und Gemeinschaft vielleicht sogar stärken kann. Es kann sich ein anderes Bewusstsein für ein Miteinander entwickeln. Diejenigen, die kommen, können intensiver in das Geschehen der Liturgie einbezogen werden.  

Frage: Wie? 

Kranemann: Es sind andere Formen der Versammlung möglich. Das Gegenüber von Priester und Gemeinde, das weder für eine Versammlung noch für Gemeinschaft förderlich ist, kann aufgebrochen werden. Es ist mehr Konzentration und damit mehr Ruhe und Besinnung möglich. Die Chancen, die in der kleineren Liturgiegemeinde liegen, gilt es zu entdecken, ohne sich mit der Existenz in der eigenen "Blase" zufriedenzugeben.

„Wir diskutieren über Einsamkeit von Menschen als eines der großen gesellschaftlichen Probleme. Was lässt sich kirchlicherseits auch durch den Gottesdienst an Hilfe anbieten?“

—  Zitat: Benedikt Kranemann

Frage: Was müsste sich strukturell oder pastoral ändern, damit Eucharistie wieder stärker als Ort der persönlichen Begegnung erfahrbar wird? 

Kranemann: Begegnung bedeutet Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft braucht mehr und breitere Verantwortung vor Ort für die Liturgie. Das fördert Interesse, Identifikation, Sensibilität für die Feier. Es geht nicht ohne Beteiligung vieler. Seit dem Beginn des Synodalen Weges ist über Beteiligung breit diskutiert worden. Ich sehe nicht, dass sich in der Liturgie wirklich etwas verändert hat. Aber wo ein Team, wo viele für die Eucharistie verantwortlich sind, gibt es per se eine andere Grundlage für Gemeinschaft. Eucharistie muss dort, wo das nicht schon geschieht, und es gibt ja sehr gute Beispiele, konsequent auf Gemeinschaft hin reflektiert und dann ebenso konsequent entsprechend gefeiert werden. Aber noch einmal: Das bekommen nur die in den Blick, die nicht allein auf die verbale Seite der Liturgie schauen, sondern insbesondere auf die Riten, den Raum, auch das Miteinander fördernde Singen. Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Liturgie allein in unserem Land sind so vielfältig, dass man vor Ort diskutieren muss, was persönliche Begegnung fördern kann. Aber es lohnt sich, wenn Liturgie heute Menschen ansprechen und zusammenbringen soll. 

Von Mario Trifunovic