Seit fast 400 Jahren pilgern Menschen zur Muttergottes

Wie ich den Wallfahrtsort Kevelaer nach 20 Jahren neu erlebt habe

Veröffentlicht am 25.10.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Kevelaer ‐ Unser Autor war als Kind im niederrheinischen Marienwallfahrtsort Kevelaer. Jetzt ist er als Erwachsener noch einmal dorthin gefahren. Dabei hat sich nicht die Stadt an sich verändert, sondern seine Wahrnehmung.

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Es war an einem Sonntag im Oktober, irgendwann in meiner Grundschulzeit. Ich war eigentlich an einem – wie ich meinte – völlig normalen Sonntag als Messdiener eingeteilt. Doch mir nichts, dir nichts, fand ich mich in einem Reisebus wieder, auf dem Weg ins niederrheinische Kevelaer. So kam ich als Kind das erste Mal in einen der größten Marienwallfahrtsorte Deutschlands. 20 Jahre später bin ich nun wieder da und mache mich auf spirituelle Spurensuche.

Mein Rundgang beginnt – genau wie damals – am Kreuzweg in der Nähe des Bahnhofs. Als Kind war ich kein großer Fan davon: An jeder Station fast die gleichen Gebete – und der Ablauf war mir als aufmerksamem Kommunionkind mehr als vertraut. So schleppte ich mich dann hinter dem Pfarrer und vor der Gemeinde her. Als Messdiener hatten wir nichts zu tun – "mitsingen und mitbeten", pflegte unser Pfarrer da immer zu sagen.

Heute empfinde ich völlig anders: Der Kreuzweg, den gut begüterte Einheimische im 19. Jahrhundert angelegt haben, liegt ruhig in einem Park. Auf einem gewundenen Weg kann ich den Leidensweg Jesu auf Sandsteinskulpturen nachverfolgen, die in kleinen Backsteinkapellen stehen – stilistisch alle recht ähnlich, aber keine ist wie die andere. Von Station zu Station werde ich ruhiger. Zwischen ganz schlicht und recht pompös mit bunten Mosaikverzierungen ist alles dabei. Der Clou, den ich als Kind überhaupt nicht auf dem Schirm hatte: Der Weg beginnt zwar in einem Park, geht aber mit den letzten Stationen in den Friedhof der Stadt über. Jesus wird als dort zu Grabe getragen, wo auch die Menschen begraben liegen. Die letzte, modern hinzugefügte Station – die Auferstehung – wendet sich dann wieder der Stadt zu. Eigentlich ein schönes Zeichen der Hoffnung, das Leben Jesu mit dem Leben der Menschen zu verbinden. Diese Art der Anlage führt aber auch dazu, dass der Park mit dem Kreuzweg ein Teil des Alltagslebens ist: Kevelaerer gehen hier mit ihren Hunden Gassi und unterhalten sich. Mehrmals kommen mir Leute entgegen und nicken mir zu. Hier grüßt man sich noch.

Bild: ©katholisch.de/cph

Der Kreuzweg liegt malerisch in der Natur.

Danach gehe ich die Straße hinunter in die Stadt. Als Kind ist mir das alles größer vorgekommen, doch es ist nur ein Steinwurf bis ins Kevelaerer Zentrum – einer malerischen Kleinstadt: Kleine Läden in historischen Häusern, Stuckfassaden, immer mal wieder mit einer Heiligenfigur geschmückt. Jede dieser Straßen führt sternförmig in Richtung des Kapellenplatzes – dem Zentrum der Kevelaerer Wallfahrt: Um Weihnachten 1641 soll der Händler Hendrick Busmann aus Geldern an einer Straßenkreuzung beim Gebet zum ersten Mal den Ruf "An dieser Stelle sollst du mir ein Kapellchen bauen!" gehört haben. In den Tagen danach soll er ihn noch zwei weitere Male gehört haben. Seiner Frau erschien ein halbes Jahr später das Bild der Muttergottes als "Consolatrix afflictorum", also "Trösterin der Betrübten". Der Marientitel stammt aus der Lauretanischen Litanei. Das Bild – eine Nachbildung des Marienbildnisses in der Kathedrale von Luxemburg – war ihr kurz zuvor zum Kauf angeboten worden. Sie kaufte es. Das Original steht bis heute in Luxemburg.

Am 1. Juni 1642 wurde dann an ebenjener Wegkreuzung ein Bildstöckchen mit ebenjenem Kupferstich eingeweiht. Seit 1654 steht an diesem Ort die Gnadenkapelle im Zentrum des Ortes, bis heute mit dem gleichen Kupferstich. Wichtig zu wissen: In dieser Zeit gehörten Kevelaer wie auch Luxemburg zu den Spanischen Niederlanden, befanden sich also im gleichen Staat. Das 17. Jahrhundert war eine bewegte Zeit in der Stadt, immerhin herrschte der Dreißigjährige Krieg. Kevelaer lag an einer Landesgrenze und immer wieder wurde es überfallen, verwüstet und geplündert. Dabei wurden auch mehrmals Einwohner getötet. Die Marienfrömmigkeit fiel also auf fruchtbaren Boden.

Kleiner als eine Postkarte

Heute ist das Zentrum der Stadt von der Wallfahrt geprägt: Neben der Gnadenkapelle um das Marienbildnis stehen auf dem Kapellenplatz die Marienbasilika, neben der sich noch weitere kleine Kapellen befinden, sowie die Kerzenkapelle. Daneben steht hier noch prominent das alte Priesterhaus, um den Platz herum haben sich Devotionalienhändler niedergelassen.

Ich gehe zuerst ins Zentrum des Geschehens, in die Gnadenkapelle. Anders als in Kindertagen bin ich nicht mehr davon überrascht, wie klein das eigentliche Bild ist. Denn der Kupferstich ist ein wenig kleiner als eine Postkarte. Da ich aber heute nicht mit einer Gruppe und zudem an einem Wochentag da bin, habe ich endlich Zeit, die "Trösterin der Betrübten" mal aus der Nähe zu betrachten, ohne von einem Strom von Gläubigen vorwärts geschoben zu werden. Die Erkenntnis: Man sieht dem kleinen Bildchen die Jahrhunderte an. Die Farbe ist an einigen Stellen ab, es wirkt ein wenig abgegriffen. Das steht im krassen Gegensatz zu dem Goldschmuck, von dem es in der kleinen Kapelle umgeben ist, Spenden von Pilgern. Eigentlich ist das ein schöner Eindruck: Inmitten so vieler Kostbarkeiten und frommen Kitsches ein kleines, billiges Bildchen, ein Andachtsbild für Leute aus dem Volk, normale Alltagsmenschen. Die stehen auch heute davor, genau wie ich, und schauen. Es ist sehr ruhig an diesem Tag, ich sehe die gleichen Leute immer wieder. Ein älteres Ehepaar aus den Niederlanden kommt irgendwann auf mich zu und fragt, warum das hier eigentlich ein Wallfahrtsort ist. Da hatten sie die Kirchen schon von innen gesehen.

Das ist einer der Eindrücke, die ich hier gleich bekommen habe: Vergleicht man Kevelaer mit Fatima oder Medjugorje, ist die Stimmung hier deutlich weniger fromm aufgeheizt, es geht ruhiger, alltäglicher zu. Hier wendet sich die Spiritualität lediglich in ihren sehr traditionellen Formen nach außen, so ist die ganze Stadt etwa voller Kerzen. Affirmative, charismatische, nach außen gerichtete Religiosität sehe ich hier nicht so sehr. Das kommt mir entgegen: Es ist ein Ort zum Runterkommen.

Bild: ©katholisch.de/cph

Für Fans von Gold und Glamour hat die Marienbasilika viel zu bieten.

Die größte Überraschung für mich ist die Marienbasilika. Im 19. Jahrhundert gebaut, gänzlich ausgemalt und voller Bilder, hat sie mich als Kind regelmäßig überwältigt. Das tut sie heute nicht mehr. Zweifellos: Es ist eine wunderschöne, farbenreiche, beinahe kitschige Kirche – aber riesig ist sie nicht. Sie wirkt so, weil die anderen Kirchen der Kleinstadt noch kleiner sind. Jede größere Pfarrkirche einer deutschen Großstadt kann es in Sachen Quadratmeter mit der Wallfahrtsbasilika aufnehmen.

Heute erkenne ich hier vielmehr Zeichen der Zeit: Man hat im 19. Jahrhundert hier zeitgenössische Päpste verewigt – und sich erkennbar viel Mühe gegeben, alles so mittelalterlich wie nur möglich aussehen zu lassen. Die Deckengemälde, die Fenster – alles atmet den Geist der Vergangenheit, auch zur Erbauungszeit schon. Das passt zum Historismus, der in dieser Zeit eine damals als "gute alte Zeit" beschworene Epoche zitierte. Heute ist es für mich eine Mischung aus Wimmelbild und Eskapismus. Denn mit viel Wohlwollen sieht die Basilika von innen ein wenig aus wie die Kathedrale von Siena – und diese Assoziation mit Italien fühlt sich im windigen niederrheinischen Herbst gut an.

Bild: ©katholisch.de/cph

In der Kerzenkapelle geben zahlreiche Schilder Zeugnis von Pilgergruppen.

Als Nächstes besuche ich die Kerzenkapelle. Draußen kann man selbst Kerzen anzünden, die Stände sind heute nur zu einem kleinen Teil belegt. Drinnen stehen große Wallfahrtskerzen und -Schilder von Gruppen, die sie Kevelaer gespendet haben. Spannend dabei ist eine Gleichzeitigkeit von Geschichte und Gegenwart: In der Kapelle stehen nur Kerzen aus dem aktuellen Jahr, dementsprechend ist das Signet des Heiligen Jahres omnipräsent. Die Schilder dagegen sind aus allen Zeiten und geben einen Überblick, wer schon alles hier war: Das Schild einer Gruppe aus Amsterdam aus dem Jahr 1690 hängt hier neben einem aus Anholt 1841, ein paar Meter weiter kommen dann noch Brauweiler 1765 und Coesfeld 1953. Wer die Kirche besucht, ist also eingebettet in die Geschichte wie auch das Heute.

Mal wieder frischer Wind

Ebenjenes Heute fällt mir jetzt deutlich mehr in den Blick als es als Kind der Fall war. Als Kind war der Kapellenplatz für mich ein großes Wimmeln: Viele Leute, alle auf dem Weg von einer Kirche in die nächste. Heute fallen mir andere Sachen auf. Auch am Kapellenplatz stehen einige Ladenlokale leer, Kneipen und Hotels haben geschlossen. Die Krise der Innenstädte, sie ist auch hier fühlbar. In den Devotionalienläden wird viel Altbekanntes verkauft, das altbekannt präsentiert wird. Der frische Wind, die neuen Impulse – davon könnte Kevelaer mal wieder ein paar gebrauchen. Momentan lebt man hier noch von der Vergangenheit. Das zeigt sich am Publikum, das in seiner überwiegenden Mehrheit jenseits der 50 ist. So walken etwa zwei Frauen an mir vorbei durch die Innenstadt. Die eine sagt zur anderen: "Ich hab' gleich richtig Bock auf ein Stück Kuchen." Das beschreibt die Stimmung schon sehr gut.

Bild: ©katholisch.de/cph

Der Künstler Bert Gerresheim hat den verbrannten Korpus genommen und an einen Lebensbaum gehängt.

Zum Abschluss gehe ich dahin, wo auch früher mit meiner Gemeinde immer die Abschlussmessen gefeiert wurden: In die St.-Antonius-Kirche. Sie liegt etwas abseits des Kapellenplatzes und ist deutlich weniger üppig geschmückt als die anderen Kirchen der Stadt. Das hat einen einfachen Grund: Das Gebäude aus dem beginnenden 20. Jahrhundert brannte 1982 fast vollständig ab. So ist die Kirche heute ein Gemisch der neugotischen Reste der alten Kirche mit moderner Architektur. Als Kind fand ich es immer schade, dass wir nicht in einer der schönen, alten Kirchen Gottesdienst gefeiert haben. Heute sehe ich die Details. So verweben sich die alten und neuen Teile zu einem ganz besonderen Ganzen. Hier der weite, moderne Raum, da die engen alten Gänge. In der Mitte des Altarraums wird das auf die Spitze getrieben. Der Korpus des Kruzifixes hing schon in der alten Kirche, er überstand das Feuer zwar, aber verstümmelt und völlig verkohlt. Der Künstler Bert Gerresheim hat diesen Korpus genommen, wie er war, und an einen Lebensbaum gehängt. Das sagt etwas aus über Durchhaltewillen, Achtung der Vergangenheit und Blick in die Zukunft. Es ist ein Impuls, der nachhallt.

Was bleibt ist ein Wallfahrtsort, der im Gegensatz zu anderen spürbar einen Gang runterschaltet, ruhiger und meditativer ist als andere. Mal eben eine Kerze anzünden, innehalten, das geht hier sehr gut. Eine Qualität, die in der oft hektischen Gegenwart schon ihresgleichen sucht.

Von Christoph Paul Hartmann