Pater Karl Wallner über Berufungen und Priesterzahlen

"Die katholischen Milieus sind weggebrochen"

Veröffentlicht am 25.07.2016 um 00:01 Uhr – Von Björn Odendahl – Lesedauer: 
"Die katholischen Milieus sind weggebrochen"
Bild: © KNA
Kirche

Heiligenkreuz ‐ Konservativ? Progressiv? Für Pater Karl Wallner, Rektor der Hochschule des Stifts Heiligenkreuz, sind das überholte Kategorien. Mit katholisch.de hat er über Berufungen und Priesterzahlen gesprochen.

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Frage: Pater Wallner, als wir vor kurzem über die sinkende Zahl der Priesteramtskandidaten in Deutschland geschrieben haben, haben Sie bei Facebook mitkommentiert und von "Milieus, die austrocknen" gesprochen. Was meinen Sie damit?

Wallner: An unserer Hochschule stellen wir fest, dass die meisten unserer neuen Theologiestudenten noch nicht "eingewurzelt" sind. Die Inkulturation in ein christliches, katholisches Leben ist mangelhaft. Denn die katholischen Milieus sind einfach weggebrochen. Es fehlen die Familien, in denen man schon als Kind das Beten lernt. Auch die Pfarrei, in der man den Pfarrer im Zentrum eines kleinen gesellschaftlichen Kosmos mit sinnerfüllender Tätigkeit erlebt, existiert kaum noch. Ich habe nicht das Gefühl, dass es keine Berufenen mehr gibt, sondern dass wir neue Milieus schaffen müssen, wo Berufungen wachsen können.

Frage: Und Ihre Hochschule ist so ein Ort?

Wallner: Davon bin ich überzeugt. Bei uns in Heiligenkreuz ist die Zahl der Theologiestudenten in den letzten Jahren von 60 auf über 300 gestiegen. 170 davon sind Priesteramtskandidaten. Das liegt vor allem daran, dass wie ein "Gesamtpaket" für junge Leute anbieten, die das Gefühl haben, von Christus gefunden worden zu sein - aber noch nicht wissen, wie sie ihm nachfolgen sollen. Viele kommen zu uns, weil sie von gewissen Erlebnissen und Glaubenserfahrungen inspiriert wurden: zum Beispiel von Weltjugendtagen mit dem Papst oder von charismatischen Events. Und nicht wenige kommen aus den Freikirchen zu uns. Wir haben ein breites Spektrum von Leuten aus gut katholischen Familien bis hin zu solchen, die über den Satanismus zum Glauben an Christus gefunden haben.

Bild: ©Stift Heiligenkreuz

Pater Karl Wallner OCist ist Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz. Außerdem ist er Jugendseelsorger des Stifts Heiligenkreuz.

Frage: Und warum kommen diese jungen Menschen ausgerechnet zu Ihnen? Wie sieht das "Gesamtpaket" in Heiligenkreuz aus, das anderswo fehlt?

Wallner: Was wir haben, ist ziemlich einzigartig. Das ist ein altes Kloster mit über 90 Mönchen mitten im Wienerwald und dennoch in der Nähe einer Großstadt wie Wien. Wir haben die verschiedensten Jugend- und Gebetsgruppen, apostolisch wie auch charismatisch. So decken wir hier quasi das gesamte katholische Spektrum ab. Schauen Sie sich im Vergleich dazu die anderen Hochschulen an: Dort holen sich die Studenten ihre Vorlesung ab und gehen danach wieder hinaus in die säkulare Welt, in der Gott nicht vorkommt und Christus keine Rolle spielt. Und in der dir deine Familie heute häufig davon abrät, Priester zu werden. Hier hat sich dagegen ein Milieu entwickelt, in dem man den Glauben lernen und Sakramente praktizieren kann. Ein Milieu, in dem man Gleichgesinnte findet, die für die Kirche etwas tun wollen und die auf der Suche nach ihrer Berufung sind.

Frage: Da würde ich dagegen halten, dass sich Priesteramtskandidaten an anderen Hochschulen auch in katholischen Milieus bewegen: etwa mit gleichgesinnten im Studium, im Priesterseminar und in ihrer Pfarrei…

Wallner: Ich spreche auch nicht explizit von Theologiestudenten, die bereits Priesteramtskandidaten sind. In den jeweiligen Seminaren wird sicher gute Arbeit geleistet, auch wenn es dort mittlerweile oft ausdünnt. Ich beziehe mich auf die fast 140 Studenten bei uns, die noch nicht zu den Kandidaten gehören. Die sind hier, weil sie auf der Suche sind und das entsprechende Milieu brauchen, um katholisch "einzuwurzeln". Viele von denen entdecken dann erst während des Studiums ihre Berufung und werden schließlich noch Priester. Und andere gehen Richtung Ehe und Familie, was auch ganz okay ist.

Frage: Erst einmal müssen sich die jungen Menschen aber für ein Theologiestudium entscheiden. Wo kommen die Studenten überhaupt her, wenn es keine entsprechenden Milieus mehr gibt?

Wallner: Teilweise kommen sie noch aus den klassischen katholischen Milieus. Vereinzelt können Pfarreien dort noch ein prägendes Leben gestalten, da die Jugendarbeit funktioniert und es einen guten Pfarrer oder Kaplan gibt, den sich die Jugendlichen zum Vorbild nehmen. Allerdings dünnen die Pfarreien in der Zeit der Säkularisierung aus. Wir bemerken dafür einen Zuwachs bei den Studenten, die durch religiöse Großevents inspiriert sind. Die wollen dann aber – weil sie eben nicht aus der klassischen katholischen Familie kommen – neben dem Theologiestudium auch eine katholische Vertiefung.

„Das ist Schwachsinn. Konservativ und progressiv sind Kategorien aus den 1960er Jahren.“

—  Zitat: Pater Karl Wallner über den Ruf des Stifts Heiligenkreuz

Frage: Sehen Sie keine Gefahr darin, wenn sich Ihr Nachwuchs zunehmend aus den charismatischen Gruppierungen rekrutiert? Erst vor kurzem hat der Vatikan ja Gehorsam von diesen Gemeinschaften gefordert…

Wallner: Nein, das Problem sehe ich nicht. Der Antagonismus existiert ja bereits seit dem 4. Jahrhundert, als das Ordensleben entstanden ist: Auf der einen Seite steht die "petrinische Kirche", bestehend aus dem Papst und den Bischöfen. Sie ist eher ein Leitungs- und Ordnungsprinzip. Auf der anderen Seite sorgte und sorgt ein paulinisches Element immer für Überraschungen und Aufbrüche. Früher waren es vor allem die Orden, heute sind es die "Movimenti" oder Eventerfahrungen. Das heißt nicht, dass ich nicht mehr auf die Pfarreien setze. Aber solange es dort an einer dynamischen Fruchtbarkeit fehlt, muss man akzeptieren, dass der liebe Gott abseits von diözesanen Strukturreformen und Pastoralkonzepten sein eigenes Ding macht.

Frage: Sie haben vorhin gesagt, dass die Theologiestudenten sich an vielen Hochschulen ihre Vorlesung nur abholen und dann wieder in die säkulare Welt entschwinden. Besteht bei Ihnen umgekehrt nicht die Gefahr einer "Wagenburg"-Mentalität? Die Rückkehr in die säkulare Welt könnte für Ihre Studenten dann ja ein Kulturschock werden.

Wallner: Das höre ich meist von den Leuten, die eifersüchtig sind auf uns in Heiligenkreuz. Dem widerspreche ich. Man muss nur unsere Studenten anschauen: Die kommen aus dieser Welt, haben oft schon Studien hinter sich und sind aus dem säkularen Milieu. Keine Weltflüchtlinge. Sie kommen nicht, um sich abzukapseln, sondern um in dieser Atmosphäre im Glauben und im theologischen Wissen zu wachsen. Es ist biblische Tradition, dass man in dem Augenblick, wo man von Gott getroffen wird, das Recht hat, in eine "Oasen"-Situation zu gehen. Paulus zieht sich für drei Jahre zurück, bevor er sein Apostolat startet. Fast alle Heiligen haben es ähnlich getan. "Oase" bedeutet aber nicht Ghetto. Die jungen Leute müssen einfach in Ruhe Wurzeln entwickeln, um in der Welt des 21. Jahrhunderts als gläubige Christen bestehen zu können.

Frage: Dennoch hat Heiligenkreuz ja den Ruf, eher konservativ und bewahrend zu sein...

Wallner: Das ist Schwachsinn. Konservativ und progressiv sind Kategorien aus den 1960er Jahren. Unsere Gesellschaft ist postmodern, postchristlich und vielleicht schon bald postsäkular. Was soll da progressiv oder konservativ überhaupt bedeuten? Die Jugendlichen, die in Massen zu uns kommen, halten uns für cool, weil wir gregorianischen Choral singen. Wir sind damit in die Pop-Charts eingestiegen. Aber die 68er-Generation denkt noch immer in diesen Kategorien von progressiv und konservativ, ohne zu begreifen, dass für junge Menschen diese Kategorien nicht mehr gelten. Das sind antiquierte Oma-und Opa-Kategorien, die uns in Vorurteilen zementieren und entsprechend blockieren. Ich plädiere dafür, dass wir einfach schauen, wo es in der Kirche heute Fruchtbarkeit gibt und das dann auch vorbehaltlos als Wink des Heiligen Geistes akzeptieren.

Bild: ©photo 5000/fotolia.com

Das Stift Heiligenkreuz ist ein Kloster der Zisterzienser bei Heiligenkreuz im Wienerwald in Niederösterreich. Daran angegliedert ist eine Hochschule, die den Namen "Benedikt XVI." trägt.

Frage: Mir ging es weniger um gregorianische Choräle, als vielmehr um Inhalte der kirchlichen Lehre, die heute von vielen jungen Menschen abgelehnt werden. Sind ihre Studenten auch so oder sehnen die sich nach klaren Regeln?

Wallner: Die Jugendlichen, die zu uns kommen, sind nicht anders als alle anderen. Aber sie bekommen ein Angebot, das ihnen sagt: "Nur weil alle so leben, muss das nicht der beste Weg sein. Du kannst mit der Gnade Gottes auch eine andere Lebensform wählen, die den Geboten Gottes entspricht." Ich bin aber keinem der jungen Leute böse, wenn er Sünder ist. Das sind wir ja alle. Es war ja immer das katholische Prinzip: Den Sünder lieben, aber auch die Sünde benennen. Jeden Monat kommen 300 Jugendliche zu unserer Jugendvigil. Und das sind richtige Jugendliche ab 15, nicht zusammengetriebene Firmlinge. Das sind junge Menschen dieser Zeit mit allen üblichen moralischen Belastungen – aber sie schätzen das Angebot der Beichte und erleben es vielfach als Befreiung.

Frage: Nun gibt es aber eben nur ein Heiligenkreuz. Was ist ihr Lösungsvorschlag?

Wallner: Unsere Hochschule kann in der Tat nicht die Kirche im gesamten deutschen Sprachraum retten. Ich erzähle nicht deshalb so viel von uns, weil wir stolz sind. Wir wissen ja selbst nicht wirklich, warum es bei uns so gut läuft. Vielleicht verwendet uns Gott ein bisschen als Antidepressivum. Und vielleicht taugen die Erfahrungen, die wir hier machen, doch auch als Anregung für den einen oder anderen. Lassen wir bitte Vorurteile und Kategorisierungen weg. Schauen wir, wo Kirche lebt. Und fragen wir offen, warum das so ist. Wir müssen Orte und Milieus fördern, wo Glaube heute auch in einer gewissen Lässigkeit und Coolness wachsen kann. Das dürfen nicht immer starre Orte sein. Bei uns ist um das geprägte monastische Leben eine sehr offene Szene des Katholischen gewachsen, in deren Mittelpunkt die Hochschule mit ihrer Priesterausbildung steht. Wir müssen offen sein für das Dynamische – und dabei am besten noch katholisch bleiben. (lacht)

Von Björn Odendahl