Polnischer Erzbischof Henryk Muszynski kritisiert einseitiges Geschichtsdenken

Ex-Primas: Holocaust-Gesetz befeuert Antisemitismus

Veröffentlicht am 19.07.2018 um 15:45 Uhr – Lesedauer: 
Polen

Poznan ‐ Polens sogenanntes Holocaust-Gesetz wird seit Monaten international diskutiert. Durch die Debatte sei der Antisemitismus zu einem aktuellen Problem geworden, so der emeritierte Erzbischof Henryk Muszynski.

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Der frühere Primas Polens, Erzbischof Henryk Muszynski, hat das sogenannte Holocaust-Gesetz kritisiert. Wegen des Gesetzes und der Diskussion darüber sei der Antisemitismus wieder ein aktuelles Problem in Polen geworden, sagte Muszynski der Wochenzeitung "Przewodnik Katolicki". "Alte Dämonen begannen wieder aufzuwachen: Das Vertrauen vieler Tausend Menschen wurde überstrapaziert und die Arbeit vieler Jahrzehnte wurde angegriffen," so der 85-Jährige, der innerhalb der Polnischen Bischofskonferenz für den Dialog mit den Juden zuständig war. Zuvor sei Antisemitismus im historischen Kontext diskutiert worden und nur in den seltensten Fällen habe sie sich auf die aktuelle Situation bezogen.

Die im Februar verabschiedete Gesetzesnovelle sah neben Geldstrafen auch bis zu drei Jahre Haft vor, wenn jemand unter anderem "öffentlich und entgegen den Fakten" dem polnischen Volk oder Staat die (Mit-)Verantwortung für von Nazi-Deutschland begangene Verbrechen zuschreibt. Kritiker befürchteten eine Behinderung von Holocaust-Überlebenden und Forschern, die an die Beteiligung von Polen am deutschen Völkermord an den Juden erinnern. Ende Juni entschärfte die Regierung das Gesetz, sodass keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr drohen. Zivilrechtlich kann man weiterhin belangt werden.

Besorgnis über Hetze gegen Juden und Muslime

Der emeritierte Erzbischof von Gniezno sagte in dem Interview, dass die Polen zwar an Geschichte interessiert seien, aber eine "einseitige Sicht" auf sie hätten und ihr historisches Gedächtnis häufig widersprüchlich sei. In der Geschichte des Landes gebe es "wundervolle und lobenswerte Taten", aber auch "niederträchtige und unchristliche Momente", so Muszynski. Die Angst vieler Landsleute vor Fremden erklärt er damit, dass die Polen sich seit den Teilungen als Opfer sehen und "keine ausreichend tiefe und etablierte Identität haben". Der Verteidigungswille sei so stark, "dass wir bereit sind, einen fiktiven Feind zu erschaffen, der ein jeder ist, der anders denkt, anders glaubt, anders ist als wir".

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Muszynski zeigte sich besorgt über radikale Polen, die gegen Juden oder Muslime hetzten, insbesondere über junge Menschen, die von den historischen Lasten ihrer Eltern und Großeltern frei sein sollten. "Diejenigen, die heute Juden und Muslime ablehnen, die diese Menschen bewerten und Urteile fällen, haben wahrscheinlich nie einen Juden oder Muslim getroffen," sagte der Ex-Primas. Ein Lebensumfeld, in dem radikale Meinungen und von einigen Medien bediente Propaganda vorherrschten, sei verantwortlich für ihre Aggression und Angst.

Der Erzbischof sprach zudem von großen Fortschritten in der Beziehung der Kirche zum Judentum. Die Konzilserklärung "Nostra aetate" aus dem Jahr 1965 sei "eine echte kopernikanische Revolution", die zum Dialog geführt habe. Zuletzt hätten 25 orthodoxe Rabbiner aus verschiedenen Teilen der Welt eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sie schreiben, dass das Christentum ein Geschenk für die Völker sei. "Aus religiösen und wissenschaftlichen Gründen ist die Zeit des Antisemitismus längst vorbei," sagte Muszynski. (luk)