Wer war zuerst da: Gott oder die Gesellschaft?

"Es gibt ein Aug', das alles sieht, auch wenn's in dunkler Nacht geschieht." Dieser Satz war noch bis vor einigen Jahrzehnten in der christlichen Erziehung sehr geläufig. Mit der Vorstellung eines alles überwachenden Gottes sollte kleinen und großen Gläubigen vor Augen geführt werden, warum sie sich an die Gebote des himmlischen Vaters – und meist wohl auch der irdischen Eltern – zu halten hatten. Doch nicht nur in der Kindererziehung, auch in ganzen Gesellschaften spielt die Angst vor Strafe und die Freude über Belohnung durch einen allmächtigen Gott bis heute eine wichtige Rolle – und das seit knapp 5.000 Jahren, wie ein Forscherteam um den in Oxford lehrenden Anthropologen Harvey Whitehouse herausgefunden hat.
In einem Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift "Nature" geben die Wissenschaftler die Antwort auf eine der großen Fragen der Religionsgeschichte: Wie hat sich die Vorstellung einer göttlichen Macht entwickelt, die als moralische Instanz verstanden wird, da sie die Taten der Menschen nach ihrem Tod positiv oder negativ sanktioniert? Dazu haben die Forscher in einer groß angelegten Studie mehr als 400 entwickelte Gesellschaften der vergangenen 10.000 Jahre analysiert. Anhand von 55 kulturellen und sozialen Variablen, wie Bevölkerungszahl, Sozialstruktur und Währungssystem verglichen sie unterschiedliche Kulturen in 30 Regionen der Erde. Dabei fanden sie heraus, dass es einen einheitlichen Zeitpunkt gibt, ab dem eine Verknüpfung von Moral mit religiösen Vorstellungen auftritt: In der Regel kamen diese Überzeugungen etwa 100 Jahre nach dem Zeitpunkt auf, ab dem eine Kultur zu einer sogenannten "Megagesellschaft" mit mehr als einer Million Einwohnern herangewachsen war.

Das Auge Gottes blickt auf die Menschen herab und sieht ihre guten, aber auch ihre schlechten Taten. Diese Vorstellung hatte in der christlichen Erziehung lange einen wichtigen Platz.
Die Forscher nehmen an, dass der Grund für das Entstehen moralisierender Religionen in ihrer Funktion als gesellschaftlicher Kitt liegt. Der Glaube an ein übernatürliches Wesen, das moralisches Handeln fordere, habe "die Kooperation zwischen Fremden in großen Gruppen vereinfacht", schreiben sie. Denn in den antiken "Megagesellschaften" kannten sich die Menschen nicht mehr persönlich und entstammten oft unterschiedlichen Ethnien – anders als in vorausgegangenen kleinen und homogenen Gemeinschaften, in denen eine Vielzahl persönlicher Beziehungen eine weitaus größere Bedeutung hatte. Eine gemeinsame religiöse Basis könnte das Misstrauen zu Unbekannten gemindert und damit komplexe Gesellschaften erst ermöglicht haben, glauben Whitehouse und seine Kollegen. Zudem sei die Angst vor einem strafenden Gott eine Abschreckung für potentielle "Sozialschmarotzer" gewesen, die sich ohne eine religiöse Motivation nicht zur Mitarbeit am Gemeinwesen hätten bewegen lassen.
Wer Strafe im Jenseits fürchtet, verhält sich zu Lebzeiten anständig
Auch in nicht so weit entwickelten Gesellschaften und bei Naturvölkern gab es religiöse Vorstellungen. Doch diese hätten eher im Glauben an die Geister der Ahnen, Naturwesen und Gottheiten ohne moralische Ansprüche an die Menschen bestanden, nehmen die Wissenschaftler an. Besonders in den letzten Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte hätten sich gemeinsam mit komplexen Gesellschaften moralisierende Transzendenzvorstellungen entwickelt. "Das erste Auftreten moralisierender Götter in unserer Probe war in Ägypten, wo das Konzept einer übernatürlichen Vollstreckung von Ordnung um 2.800 vor Christus dokumentiert ist", schreiben die Anthropologen. Darauf folgte die Verbreitung von Religionen mit starker Bindung an die Moral auf dem Gebiet der heutigen Staaten Irak, Türkei und China. Wobei nicht immer eine oder mehrere Gottheiten – im Fachjargon "Big Gods" genannt – im Mittelpunkt standen. Wie etwa im Buddhismus, der mit der moralischen Instanz des Karma einen Tun-Ergehen-Zusammenhang kennt.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass vor dem Auftreten der jeweiligen Moral-Religion die Zunahme der sozialen Komplexität der Gesellschaften in der Regel fünfmal größer gewesen sei als danach. Dadurch sehen sie ihre These bestätigt, dass die Entwicklung komplexer Sozialsysteme eine Voraussetzung für das Entstehen von moralisierenden Religionen ist. "Diese Religionen könnten eine kulturelle Anpassung repräsentieren, die nötig war, um die Kooperation in solchen Gesellschaften aufrechtzuerhalten, nachdem sie einmal eine gewisse Größe überschritten hatten", glauben die Wissenschaftler. Denn wer Strafe im Jenseits fürchte, verhalte sich zu Lebzeiten auch in unübersichtlichen Gesellschaften anständig und beachte meist die sozialen Spielregeln – ganz ohne die direkte Kontrolle etwa durch die Stammesmitglieder des eigenen Naturvolks.

Im ägyptischen Totenbuch wird die Jenseitsvorstellung der antiken Hochkultur am Nil anschaulich dargestellt: In einem Totengericht wird über die Lebensleistung des Verstorbenen geurteilt.
Doch es gibt nicht nur Lob für die Studie der Anthropologen, die die große religionsgeschichtliche Frage geklärt zu haben scheint, was zuerst da war: Gott oder die Gesellschaft. Kritiker werfen ihnen vor, aus ungesicherten Annahmen vorschnelle Schlüsse zu ziehen. So sei keineswegs klar bewiesen, dass Urvölker nicht doch Moral und Religion verknüpft hatten. Es könnte schlichtweg einfach nicht überliefert worden sein, da diese Kulturen keine Schrift entwickelt hatten und somit keine Aufzeichnungen hinterlassen konnten. Weiter wird dem Forscherteam vorgehalten, dass einige ihrer Datensätze offen für gegensätzliche Interpretationen seien. Der Historiker Edward Slingerland schlägt deshalb vor, dass sich Spezialisten unterschiedlicher Fachgebiete mit bestimmten Ergebnissen der Studie näher befassen sollten.
Schließlich bleibt die Frage, was die Ergebnisse für die hochentwickelten westlichen Gesellschaften bedeuten, in denen sich immer weniger Menschen als religiös definieren. Fehlt nun also der soziale Kitt durch die "Big Gods"? Auch die Wissenschaftler um Whitehouse wissen darauf keine Antwort. Doch sie schauen etwa auf die Europäische Union und ihr großes Potential, das Vertrauen von Menschen verschiedener Länder untereinander zu stärken. Und sie fragen sich, ob es andere Formen einer positiven Überwachung menschlichen Handelns durch moralische Instanzen geben darf. Ihre Studie regt zum Nachdenken darüber an, was unsere Gesellschaft eigentlich zusammenhält.