Sechster Teil der Reihe zum Dekalog

"Du sollst nicht töten!": Das fünfte Gebot

Veröffentlicht am 05.05.2019 um 14:46 Uhr – Von Till Magnus Steiner – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Bibel verbietet das Töten – so scheint es zumindest in den Zehn Geboten zu stehen. Doch warum erlauben andere alttestamentliche Gesetze die Tötung eines Menschen? Das ist ein Spannungsfeld, dem sich jede Gesellschaft stellen muss.

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Mord oder Totschlag? Das fünfte Gebot, das im Hebräischen nur aus zwei Wörtern besteht, definiert nicht, was verboten wird. Doch die Sprache ist eindringlich. Voran steht die Verneinung: Nicht! Und darauf folgt nur noch ein Wort – und es ist weder das typisch verwendete Wort für "töten", noch das für "erschlagen". In der antiken, jüdischen Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, genannt Septuaginta, wird die Bedeutung dieses Wort vereindeutigt: "Nicht sollst du morden!". Es gibt in den alttestamentlichen Gesetzen eben auch ein erlaubtes Töten: das Töten von Tieren für Nahrung und zu Opferzwecken, das Töten von Menschen aus Notwehr, im Krieg und bei der Vollstreckung der Todesstrafe. Das fünfte Gebot verbietet scheinbar eine bestimmte Art des Tötens, die im Hebräischen mit dem Wort רָצַח (gesprochen: razach) ausgedrückt wird.

Allein der Umstand, dass es sich um ein Gebot handelt, legt den Schluss nahe, dass eine absichtliche und zu verurteilende Tötung verboten ist. Doch die Verwendung des Verbs רָצַח an anderen Stellen im Alten Testament führt zu einem anderen Verständnis. Im Buch Deuteronomium wird im 19. Kapitel das Recht der sogenannten Asylstädte entfaltet. Im israelitischen Gesetz ist die Einrichtung von drei oder sechs Orten im Land vorgesehen, die einen Totschläger vor der Blutrache ohne Gerichtsverfahren schützen sollen: "Dann kann jeder, der einen Menschen getötet hat, in diese Städte fliehen" (Dtn 19,3). Der folgende Gesetzestext unterscheidet dann zwischen einer unabsichtlichen und einer absichtlichen Tötung. Nur im Falle des Vorsatzes bieten die Asylstädte für den Totschläger keinen Schutz.

Steintafeln mit den Zehn Geboten
Bild: ©stock.adobe.com/jorisvo

Moses hält die Steintafeln mit den Zehn Geboten Gottes in seinen Händen.

An diesem Gesetz wird deutlich, dass dem im fünften Gebot verwendeten Wort noch keine Verurteilung zugrundliegt, sondern das Motiv über das Leben des Täters entscheidet. Deutlich wird dies in einer anderen Fassung des Gesetzes im Buch Numeri: "Der HERR sprach zu Mose: Rede zu den Israeliten und sag zu ihnen: Wenn ihr über den Jordan nach Kanaan zieht, dann sollt ihr einige Städte bestimmen, die euch als Asylstädte dienen. Dorthin kann einer fliehen, der einen Menschen unabsichtlich erschlagen hat" (Num 35,9–11). Das hebräische Wort רָצַח beschreibt das Faktum der Tötung, ob dies jedoch unabsichtlich oder absichtlich geschehen ist, sagt es nicht aus. Daher sollte man das fünfte Gebot im Deutschen auch nicht mit "Du sollst nicht morden!" übersetzen. Mord meint ein vorsätzliches Tötungsdelikt.

Wer darf nicht getötet werden?

Das Gebot ist bewusst offen formuliert. Es legt nicht mal fest, wen es zu töten verbietet. Dies wird leicht ersichtlich, wenn man es mit einem Gesetz im Buch Exodus vergleicht: "Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, hat den Tod verdient" (Ex 21,12). In diesem Gesetz wird eine Tat benannt: Jemand erschlägt einen Mitmenschen. Und eine Rechtsfolge wird klar benannt: die Todesstrafe. Das fünfte Gebot hingegen ist eine kategorische Aufforderung, niemanden zu Tode zu bringen. Wie ein Blick in das Erste Buch der Könige zeigt, schließt das verwendete Verb רָצַח auch die billigende Inkaufnahme des Todes eines Anderen ein.

Der Prophet Elija soll dem König Ahab darin verkünden: "So spricht der HERR: Hast du gemordet und auch in Besitz genommen? Weiter sag ihm: So spricht der HERR: An der Stelle, wo die Hunde das Blut Nabots geleckt haben, werden Hunde auch dein Blut lecken" (1 Kön 21,19). Aber König Ahab hatte weder Nabot selbst umgebracht, noch seinen Tod in Auftrag gegeben, noch hatte er überhaupt die Absicht, ihn zu töten. Und dennoch wird er von Gott für den Tod Nabots verantwortlich gemacht. Als dieser dem König seinen Weinberg nicht übereignen wollte, verfiel der König in eine Depression und ließ seine Frau Isebel gewähren. Sie organisierte einen Justizmord an Nabot, der dessen Weinberg in den Besitz König Ahabs brachte. Auch wenn der König selbst nichts zum Tod Nabots beigetragen hat, wird er von Gott sozusagen der Übertretung des fünften Gebots angeklagt. Er hat Nabots Tötung nicht verhindert.

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Video: © Mediaplus X und Bernward Medien

Jede Gesellschaft braucht ihre Regeln, denn ohne sie läuft alles drunter und drüber. Das "katholische Grundgesetz" bilden die Zehn Gebote.

Mit dem nur zwei Worte umfassenden fünften Gebot lässt sich kein Recht sprechen. Es definiert auch keinen Rechtsfall. Es ist scheinbar fast nichtssagend. Und gerade darin hat es seinen grundlegenden Wert als eine Art Grundgesetz: Der Mensch hat ein Recht auf Leben! In diesem Gebot geht es nicht um die Schuldfrage, nicht um die Motive der Tat – es geht nicht einmal um die Frage, wo die juristische Grenze zwischen erlaubt und unerlaubt zu setzen ist. In einer Vielzahl von Fällen erlauben die alttestamentlichen Gesetze die Tötung eines Menschen. Doch dem voraus steht das fünfte Gebot, das dem Schutz des menschlichen Lebens verschrieben ist. So steht es in einem Spannungsfeld, dem sich jede Gesellschaft aussetzen muss: Wann ist eine Tötung erlaubt und wann nicht? Texte wie das Gesetz zu den Asylstädten in Deuteronomium 19 und die Erzählung vom Weinberg und Tod Nabots sind in diesem Sinne Kommentare zum fünften Gebot – und das Gebot bleibt auch heute noch kommentarbedürftig.

Von Till Magnus Steiner