Was jenseits synodaler Prozesse zu tun wäre

Schüler und Kirche trennen Welten

Veröffentlicht am 18.06.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Vor Kurzem hatten Religionslehrer die Bischöfe zu umfassenden Reformen in der Kirche aufgerufen. Für Ludger Verst treffen die Forderungen nicht den Kern des Problems. Er plädiert für einen Unterricht, der die Glaubenswege von Schülern wichtiger nimmt als die Schwerfälligkeiten einer Kirche.

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Kaum einer in der katholischen Kirche, der in diesen Tagen nicht von der Hoffnung lebt. Von der Hoffnung, ein "synodaler Prozess" könne die inneren und äußeren Probleme der Kirche wirkungsvoll bearbeiten. So beginnt auch der Offene Brief des Bundesverbandes der katholischen Religionslehrerinnen und -lehrer an Gymnasien (BKRG) mit einem entsprechenden "Prolog". Er zitiert das Synodendokument "Unsere Hoffnung" von 1975: Die Welt brauche und suche die Sprengkraft gelebter Hoffnung. In diesem Sinn sei "die Frage nach unserer Gegenwartsverantwortung und Gegenwartsbedeutung die gleiche wie jene nach unserer christlichen Identität: Sind wir, was wir im Zeugnis unserer Hoffnung bekennen?"

So zielgerichtet der BKRG die Gretchenfrage christlicher Kommunikation direkt an den Anfang seiner Initiative stellt, so fundiert der Vorstoß in Richtung Bischöfe selbst sein mag: Braucht es die strategische Verknüpfung mit dem, was da vielleicht irgendwann "synodaler Prozess" genannt werden mag, abgesehen davon, dass es immer gut ist, wenn in gemeinsamer Sache möglichst viele an einem Strang ziehen?

Schaut man sich das Positionspapier des Verbandes genauer an, fällt vor allem die Sorge um entsprechende Rahmenbedingungen für die eigene fachliche Partizipation und Kommunikation ins Auge, was im hierarchischen Gefüge der katholischen Kirche eine berechtigte Sorge ist. Aber gerade hier scheinen mir die fachlichen, insbesondere religionspädagogischen Energien falsch ausgerichtet. Religionslehrerinnen und -lehrer müssten, so selbstverständlich sie durch ihre "Missio" zwar kirchlich beauftragt, aber nicht — zumindest die beamteten — kirchlich bedienstet sind, gar nicht in den Tonus rectus kirchlicher Krisenstimmung einstimmen, indem sie erklären, sich von ihm abheben zu wollen. Der Brief bekundet eine Abhängigkeit vom "Apparat", die im Grunde nicht besteht.

Dies stimmt nicht wenige ärgerlich. Denn es wäre eben genau dies einzulösen, was dem Brief selbst optimistisch vorangestellt wird: "Die Welt braucht keine Verdopplung ihrer Hoffnungslosigkeit durch Religion; sie braucht und sucht (wenn überhaupt) das Gegengewicht, die Sprengkraft gelebter Hoffnung."

Eine Schülerin steht im Religionsunterricht an der Tafel.
Bild: ©KNA

"Wie kann ein konfessioneller Religionsunterricht an die grundsätzlich anzunehmende religiöse Disposition bei Schülern anschließen?" Diese Frage stellt sich Ludger Verst.

Gegengewichte aber entdecke ich so gut wie keine in diesem Brief. Ein Beispiel: Von einer "Verheutigung theologischer Sprache in allen kirchlichen Handlungsräumen" ist die Rede und von einer "mutige[n] Übersetzung dogmatischer Formeln, so dass Menschen die befreiende Botschaft des Glaubens als lebendig machend wahrnehmen können"  — so eine der zehn Forderungen. Das klingt knapp 60 Jahre nach dem Aufruf zum "Aggiornamento" durch Johannes XXIII. zwar gut gemeint, aber eben auch wie eine hohl gewordene Phrase im Religionsvokabular frommer Alt-68er.

Die Realität des Religionsunterrichts sieht anders aus. Religion steht nicht im Zentrum des Wertesystems Jugendlicher, die bewusst zwischen persönlichem Glauben und verfasster Religion unterscheiden. Alle Untersuchungen der letzten Jahre zu "Jugend, Glaube und Religion" wie zuletzt die Tübinger Langzeitstudie belegen: Jugendliche denken und agieren pragmatisch. In diesem Rahmen verorten sie ihre Religiosität. Jugendliche setzen Religiosität ihrerseits strategisch ein. Sie steht im Dienste der Konstruktion ihrer eigenen Biografie. Sie bemisst sich danach, ob und inwieweit sie Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstvergewisserung in Gang setzen. Hier, von der Lebenswirklichkeit der Schüler her, wäre pädagogisch und didaktisch anzusetzen.

Das ist an sich nichts Neues. Neu wäre, nicht länger in gewohnter korrelationsdidaktischer Manier Religion als eine quasi fremd gewordene, eben kirchliche Tradition neu zu lehren, sondern phänomenologisch das heute von Schülern angewandte Zeichen- und Traditionsreservoir etwa in persönlichen und sozialen Netzwerken wahrzunehmen und einer kritischen Reflexion zugänglich zu machen. Korrelation gilt es nicht unterrichtshalber auf originelle Weise herzustellen, sondern schülerseits einleuchtend aufzudecken. Dies scheitert nicht primär an der Sprache des Faches, sondern an dessen mangelhaft wahrnehmbarer Lebensrelevanz, an der uncoolen Gestik und Ästhetik einer mit Kirche assoziierten Religion.

Eine der vordringlich zu beantwortenden Fragen dürfte deshalb sein: Wie kann ein konfessioneller Religionsunterricht an die grundsätzlich anzunehmende religiöse Disposition bei Schülern anschließen?

Grundsätzlich wäre vom Kommunikationsmaterial und von den Verstehensstrukturen der Schüler auszugehen, nicht von Lehrbüchern und kirchlichen Machtstrukturen. Eine fachspezifische Entwicklungslogik wäre mit einer entwicklungspsychologischen der Schüler in Verbindung zu bringen. Denn ein entwicklungssensibler Durchgang durch die Themen des Religionsunterrichts zeigt, dass gerade in den kritischen Übergängen, in denen Schüler ihre inneren Konstrukte und Schemata und so eben auch ihre Gottesbilder und Gottesvorstellungen an relevante Außenwelterfahrungen anpassen, enorme Herausforderungen und Chancen für den Religionsunterricht liegen.

Bild: ©KNA

"Schöpferisch ist ein Religionsunterricht, der Gott in jeder Schulform und jeder Jahrgangsstufe nicht mehr als allmächtige Regelungs- und Kontrollinstanz präsentiert und konserviert, sondern als ein lebendiges Geschehen, das die Freiheit und die Kreativität seiner Geschöpfe fördert."

An solchen neuralgischen Punkten, den entwicklungspsychologisch notwendigen Sollbruchstellen von Glaubenswegen, wie ich es nenne, an denen äußerlich wenig sichtbar wird, aber introspektiv Hochbetrieb herrscht, liegen religionspädagogisch wertvolle schöpferische Potenziale.

Schöpferisch dadurch, dass Lernende — und auch Lehrende — für sich entdecken können: Gott ist keine handelnde Kraft neben den Geschöpfen, sondern eine schöpferische Kraft in ihnen — gerade in den Brüchen und Krisen eines Entwicklungsweges. In jeder Krise steckt die Gefahr, sich zu verlieren, aber auch die Chance der Entdeckung einer neuen Selbstständigkeit.

  • Schöpferisch ist ein Religionsunterricht, der Gott oder das Göttliche gerade an der Zug- und Schubkraft der Entwicklungswege der Schüler erkennbar macht — im Sinne einer sich an den Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen orientierenden Religionspädagogik.

  • Schöpferisch ist ein Religionsunterricht, der den Gottesglauben selbst als einen Lernvorgang, als offenen Lernprozess versteht, bei dem die eigene Entwicklungsgeschichte im Spiegel religiöser, z.B. biblischer Lebenswege, gedeutet werden kann.

  • Schöpferisch ist ein Religionsunterricht, der die herkömmliche Glaubens- und Gebetssprache kritisch untersucht und die überwiegend soziomorphe Rede vom "lieben Gott", vom Vater und Beschützer, um kosmomorphe und noomorphe Transzendenzbezüge erweitert.

  • Schöpferisch ist ein Religionsunterricht, der Gott in jeder Schulform und jeder Jahrgangsstufe nicht mehr als allmächtige Regelungs- und Kontrollinstanz präsentiert und konserviert, sondern als ein lebendiges Geschehen, das die Freiheit und die Kreativität seiner Geschöpfe fördert.

  • Schöpferisch ist ein Religionsunterricht, der Schüler einlädt und anleitet, vom Konkurrenzprinzip der Natur, dem "survival of the fittest", zum Kommunikationsprinzip der Geschwisterlichkeit zu gelangen, auch und nicht zuletzt am Lernort Schule.

Dann dürften Schüler "Gott" nicht als romantischen Restposten einer merkwürdigen kirchlichen Sonderwirklichkeit empfinden, sondern mit ihm eine eigene belebende Existenzerfahrung machen. Denn Religion ist keine Welterklärung aus administrativer Perspektive, sondern der Versuch, sich als Mensch zu verstehen und vor dem Absoluten selbst zu bestimmen.

Eine lebendige Beziehung zu religiöser Wahrheit kann nur dann gelingen, wenn Menschen ihren eigenen Weg zu ihr beschreiten können. "Die Wahrheit ist tot ohne den Weg zur Wahrheit" (Paul Tillich). Auf pastorale oder synodale Prozesse wird man hier nicht warten dürfen.

Von Ludger Verst

Zum Autor

Ludger Verst ist Bistumsbeauftragter für Lehrerfortbildung in Mainz und Mitarbeiter im Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Diadaktik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.