Kolumne: Mein Religionsunterricht

Wie meine Schüler im Reli-Unterricht "Mensch werden"

Veröffentlicht am 03.01.2020 um 14:00 Uhr – Lesedauer: 

Paderborn ‐ Lehrer Rudolf Hengesbach erzählt von einem "Werden" in seinem Religionsunterricht: Die jungen Menschen entwickeln ein Gefühl für das Menschsein und hinterfragen allzu selbstverständliche Wahrheiten. Wie das gelingt? Durch die Beschäftigung mit der Bibel.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Unterrichtsbesuch in einer 7. Klasse. Die Lehrerin konfrontiert die jungen Menschen mit Folgendem: Ich lade euch zu einem kleinen Gedankenexperiment ein. Versetzt euch in folgende Situation: Deine Klassenlehrerin kommt nach einer Stunde auf dich zu und spricht dich in einer dringenden Angelegenheit an. Sie bittet dich, einem Mitschüler, der grundlos von einem Teil der Klasse ausgeschlossen wird, beizustehen, indem du mit ihm Zeit in der Pause verbringst und im Unterricht mit ihm zusammenarbeitest.

Gefragt ist also ein durchaus schwieriger Einsatz für einen Benachteiligten. Eine zugegebenermaßen offene Situation für einen Unterrichtseinstieg, aus der zunächst einmal nicht unmittelbar ersichtlich ist, worauf die Stunde hinauslaufen soll. Allerdings auch eine Situation, die einerseits tatsächlich so passieren kann und somit dem Leben von Schülern sehr nahekommt und andererseits mit Blick auf viele Situationen im Ersten und Zweiten Testament anschlussfähig ist. Bei der Bitte handelt es sich jedenfalls um eine anspruchsvolle Aufgabe, die darüber hinaus großes Vertrauen in den jungen Menschen voraussetzt.

Ein ähnliches Vertrauen findet sich im Ersten Testament mit Blick auf Aufgaben, mit denen Propheten wie zum Beispiel Amos konfrontiert werden. Spürt man dann im Unterricht solchen Aufgaben nach, die ein Prophet von Gott bekommt wie zum Beispiel auf Missstände hinzuweisen, so lassen sich Jugendliche – so meine Erfahrung mit Siebtklässlern – durchaus inspirieren, in ihrem Umfeld Missstände zu entdecken, wie mittlerweile auch die "Fridays for future"-Bewegung zeigt. An dieser Stelle hilft ein kurzer Blick in Erkenntnisse der Kinder- und Jugendpsychologie. Jugendliche dieses Alters orientieren sich immer weniger an äußeren Instanzen. Sie hinterfragen bisher gültige Normen und möchten für sich entscheiden, was richtig und was falsch ist. Sie sind auf der Suche nach neuen Vorbildern bzw. Identifikationsfiguren. Sie problematisieren Bestehendes und versuchen Probleme auf abstrakte Weise anzugehen und zu lösen. Propheten, wie zum Beispiel Amos, begegnen sie als Menschen, die bestimmte Werte und Einstellungen vertreten und die Orientierung bei der Persönlichkeitsentfaltung geben können.

Vom Propheten nach Honduras

Das alles konnte ich in meinem Unterrichtsvorhaben über Propheten feststellen. Spätestens als meine Schüler zunächst beeindruckende Scheltreden in Verbindung mit der Kritik des Propheten Amos verfassten und nach einer Problematisierung der Herstellung von Kleidung zum Beispiel in Honduras ohne Aufforderung an ihren Kleidungsstücken die eingenähten Etiketten in Augenschein nahmen, wusste ich, dass sie ein Gespür für die Aktualität der Texte des Buches Amos entwickelt hatten.

Bild: ©Foto: Laura Kniesel

Die Beschäftigung mit der Bibel führte zum Thema Herstellung von Kleidung im 21. Jahrhundert.

Menschwerdung verbinden wir zunächst mit Weihnachten. Gott kommt den Menschen nahe, Menschen kommen Gott nahe und Menschen kommen einander nahe. Meine Schülerinnen und Schüler in Klasse 7 sind, so glaube ich, den Menschen in Honduras nahegekommen, haben begriffen, was menschenwürdige Arbeitsbedingungen wert sind, was Mensch-werdung für die Arbeiterinnen in Honduras bedeutet. Darüber hinaus haben sie begriffen, wie unser Leben mit dem Leben dieser Arbeiterinnen zusammenhängt. Grundsätzlich geht es hier, wie in vielen anderen Erzählungen in der Bibel, um Gerechtigkeit, die gewährleistet, dass jede und jeder bekommt, was sie und er für ein menschenwürdiges Leben braucht, auch wenn das mit unserer Vorstellung von Gerechtigkeit im Sinne von "allen das Gleiche" nicht unbedingt übereinstimmt.

Dazu ein kleines Experiment aus meinem Oberstufenunterricht. Zu Beginn einer Reihe von Stunden zum Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg begann ich die erste Stunde, die auch die erste Stunde am Tag war, mit der Frage, wer noch ohne Frühstück gekommen sei. Ich hatte kleine Portionen Schokolade in der Tasche und verteilte sie an die Jugendlichen ohne Frühstück verbunden mit der Frage, ob das gerecht sei. Es folgte natürlich eine intensive Diskussion, die aber zugleich wie ein Türöffner für den Text aus dem Zweiten Testament war. Die Fragestellung beherrschte natürlich die folgenden Stunden und führte dazu, die Vorstellung von Gerechtigkeit, die jedem das Gleiche zubilligt, zu hinterfragen.

Ich weiß natürlich nicht, wie nachhaltig diese Überlegungen letztendlich waren, aber ich hoffe, dass die Selbstverständlichkeit der "Mainstream"-Vorstellung von Gerechtigkeit von den Jugendlichen durchaus auch weiterhin in Frage gestellt wird. Ich habe die Hoffnung, dass mein Religionsunterricht auf diese Weise bei meinen Schülern initiiert durch Texte der Bibel einen Prozess von Mensch-werdung zumindest angestoßen hat.

Von Rudolf Hengesbach

Zur Person

Rudolf Hengesbach war Lehrer an einem Gymnasium in Paderborn und Vorsitzender des Bundesverbandes katholischer Religionslehrer.

Themenseite: Kolumne "Mein Religionsunterricht"

Wie funktioniert Religionsunterricht heute? Genau dieser Frage geht die neue katholisch.de-Kolumne nach. Lehrer verschiedener Schulformen berichten darin ganz persönlich, wie sie ihren Unterricht gestalten, damit sie die Jugend von heute noch erreichen.