Sein Stellenwert ist selbst unter Gläubigen umstritten

Wie ernst muss ein Katholik den Katechismus nehmen?

Veröffentlicht am 27.01.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Viele Gläubige betrachten den Katechismus der Katholischen Kirche als eine aus der Zeit gefallene Vorschriftensammlung, die der Komplexität des menschlichen Lebens nicht mehr gerecht wird. Dagegen helfen könnte eine inhaltliche und strukturelle Reform des Werks – und eine Klarstellung seines Zwecks.

  • Teilen:

Er sei eine "Darlegung des Glaubens der Kirche und der katholischen Lehre, wie sie von der Heiligen Schrift, der apostolischen Überlieferung und vom Lehramt der Kirche bezeugt oder erleuchtet wird": So heißt es in der Apostolischen Konstitution "Fidei depositum", mit der Papst Johannes Paul II. 1992 die Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche angeordnet hat. Das Werk, auch Weltkatechismus genannt, sollte eine organische und synthetische, möglichst prägnante und vollständige Darstellung der wesentlichen und grundlegenden Elemente der katholischen Lehre sein – komprimiert auf rund 800 Seiten und unterteilt in übersichtliche Absätze.

Kardinal Christoph Schönborn war als Sekretär des Redaktionskomitees unmittelbar an der Entstehung des Weltkatechismus beteiligt. Anlässlich des 25. Jahrestags seiner Veröffentlichung im Herbst 2017 sagte der Wiener Erzbischof: "Es sollte so konzipiert sein, dass der Leser, wenn er dieses Buch in die Hand nimmt, sagen kann: Hier erfahre ich, was die katholische Kirche lehrt." Dennoch herrscht unter den Gläubigen Uneinigkeit über den Stellenwert des Katechismus. Für die einen ist er die zentrale Richtschnur für das Glaubensleben, die anderen hingegen blicken spöttisch auf den Katechismus und betrachten ihn als eine aus der Zeit gefallene Vorschriftensammlung, die der Komplexität des menschlichen Lebens nicht mehr gerecht wird. Wie ernst muss ein Katholik also das noch nehmen, was im Katechismus steht? Oder anders gefragt: Welcher Änderungen bedarf es, damit er wieder ernster genommen wird?

"Der Katechismus ist nicht einfach eine Ansammlung von Sätzen, die ich für wahr halte und vielleicht auswendig lerne", sagt Martin M. Lintner, Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen. Für ihn ist jeder Katechismus in erster Linie als Momentaufnahme in einem spezifischen geschichtlichen Kontext zu verstehen, der unbeschadet des weltkirchlichen Anspruchs immer auch den theologischen und soziokulturellen Hintergrund der Verfasser widerspiegelt. Tatsächlich sind alle bisher verfassten Katechismen in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation, mit einer ganz bestimmten Intention und an ganz bestimmte Adressaten verfasst worden.

Historische Aufnahme von Kardinal Joseph Ratzinger
Bild: ©KNA

Kardinal Joseph Ratzinger, Vorsitzender der Kommission für die Vorbereitung des neuen Katechismus, und der philippinische Kardinal Jose Tomas Sanchez, Präfekt die Kongregation für den Klerus, stellen am 9. Dezember 1992 im Vatikan den Weltkatechismus der katholischen Kirche (Catechismo della Chiesa Cattolica) vor.

So war der "Catechismus Romanus", gewissermaßen der "Vorläufer" des heutigen Weltkatechismus, nach dem Trienter Konzil als Handreichung an die Priester gedacht, um der Ausbreitung des Protestantismus Einhalt zu gebieten. Der Katechismus der Katholischen Kirche wiederum hatte das Ziel, die Lehre der Kirche im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils und in Kontinuität zur Tradition der Kirche darzulegen. Dabei richtet er sich nicht nur an Geistliche, sondern ausdrücklich an alle Gläubige.

Grundsätzlich bietet der Katechismus der Katholischen Kirche laut dem Sankt Pöltener Moraltheologen Josef Spindelböck eine verlässliche Orientierungshilfe über die Glaubens- und Sittenlehre. Dennoch bedarf er immer wieder der Aktualisierung. "Es geht ja darum, dem Verkündigungsauftrag Christi gerecht zu werden und das Evangelium in unterschiedliche Kontexte zu übersetzen und zu vermitteln", sagt Spindelböck. Doch dabei, so betont er, müsse behutsam vorgegangen werden, "und es darf nie der Eindruck erweckt werden, als könne der Katechismus gleichsam auf Zuruf hin geändert werden." Generell dürften Änderungen oder Anpassungen am Katechismus nicht das "depositum fidei" aufgeben oder verfälschen.

Der doktrinäre Bereich steht nicht zur Disposition

Doch was gehört zum "depositum fidei", sprich zum unabänderlichen Glaubensgut der Kirche? Im doktrinären Bereich ist das zweifelsfrei der Glaube an die Dreieinigkeit Gottes, an Tod und Auferstehung Christi sowie an das ewige Leben. Auch im sittlichen Bereich gibt es Haltungen, die nicht zur Debatte stehen, etwa dass das Leben von der Zeugung bis zum natürlichen Tod geschütz werden muss. Hier trug Papst Franziskus neuen Lehrentwicklungen Rechnung und ließ den Passus über die Todesstrafe (Nr. 2267) so restriktiv formulieren, dass Ausnahmen von ihrem kategorischen Verbot kaum mehr denkbar sind. Dabei konnte er sich auf Aussagen seiner Vorgänger Benedikt XVI. und Johannes Paul II. stützen, die sich bereits ablehnend gegenüber der Todesstrafe positioniert hatten.

Diese Einigkeit gibt es längst nicht bei allen Normen. Ein Punkt, an dem sich viele Katholiken stören, sind die Aussagen des Katechismus zu Ehe und Sexualität. Nicht zuletzt die Umfrage im Vorfeld der Familiensynode 2014 zeigte ganz offenkundig, wie breit der Graben zwischen der kirchlichen Lehre und der Auffassungen vieler Gläubiger in diesem Bereich ist – und zwar nicht nur in Deutschland. Auf Unverständnis stößt unter anderem die Bewertung einer zweiten zivilen Hochzeit nach einer Scheidung: Offiziell betrachtet die Kirche sie immer noch als fortdauernden Ehebruch (Nr. 2384). Auch wenn die Pastoral hier die Lehre schon längst überholt hat, kam es bislang noch nicht zu einer Neuformulierung der Lehraussagen.

Bild: ©picture alliance / Paul_Buck/EPA/dpa

Papst Franziskus ließ in Sachen Todesstrafe den Katechismus neu formulieren: Diese sei immer unzulässig.

Beim Thema Sexualmoral könne der Katechismus das aufgreifen, was Papst Franziskus in "Amoris laetitia" schreibt, findet der Linzer Moraltheologe Michael Rosenberger. In dem nachsynodalen Schreiben vertritt der Pontifex eine positive Sicht auf Sexualität und Erotik, eine Sicht, die auch das Faszinierende und Bereichernde an der Sexualität deutlich macht. Rosenberger ist überzeugt: Wenn man sich auf "Amoris laetitia" stützt, muss man die Normen zur Sexualethik anders formulieren "Letztlich muss dann auch die Lehre im Hinblick auf die Homosexualität korrigiert werden, auch wegen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte." Der Katechismus untersagt zwar die Diskriminerung homosexueller Menschen – trotzdem bewertet er ausgelebte Homosexualität nach wie vor als "in sich nicht in Ordnung" (Nr. 2357).

Manche Bereiche scheinen im Katechismus über-, andere unterbetont. So verwundert es, dass es einen eigenen Abschnitt zum Thema Glücksspiel gibt. In Nummer 2413 heißt es: "Eine ungerechte Wette abzuschließen oder beim Spiel zu betrügen ist schwerwiegend, außer wenn der zugefügte Schaden so gering ist, dass der Geschädigte ihn vernünftigerweise ernst nehmen kann."

Neue Themen müssen bedacht werden

Andere Themen, die im Leben der Menschen eine immer wichtigere Rolle spielen, sind im Katechismus dagegen nur äußerst unzulänglich abgedeckt. Rosenberger denkt dabei, wie auch sein Kollege Martin M. Lintner, besonders an die Bereiche Umwelt- und Tierethik. "Außerdem müsste man ein viel stärkeres Gewicht auf den Umgang mit moderner Technik, sozialethische Fragen und die Gestaltung der Gesellschaft legen", findet Rosenberger. Diese Themen kamen bei den Päpsten der vergangenen 100 Jahre durchaus zur Sprache, werden im Katechismus aber nur äußerst begrenzt abgebildet.

Was Rosenberger zusätzlich kritisiert, ist die Art, wie der Katechismus die Themen behandelt. "Oft konstatiert er zu sehr, was die kirchliche Position ist, und lässt eine persönliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Fragen kaum zu." Das sei vor allem in menschlichen Konfliktsituationen nicht hilfreich. Eine klare Position könne man ja trotzdem vertreten. "Durch eine kritische Würdigung der Gegenargumente würde man aber zumindest die Komplexität der Themen darstellen." Dazu kommt, dass der Katechismus die sittlichen Normen entlang des Dekalogs formuliert. Die Zehn Gebote sind zwar die wirkmächtigste Sammlung von Normen in der Heiligen Schrift – sie decken aber nicht das ganze Leben ab. Das sagt auch Michael Rosenberger. Er hält es für besser, von den verschiedenen Lebensbereichen auszugehen. "In diesem Schema haben selbstverständlich auch die Normen des Dekalogs ihren Platz."

Eine Hand hält einen Kompass, weiter vorne gabelt sich der Weg aus Holzplanken.
Bild: ©djtaylor/Fotolia.com (Symbolfoto)

Damit der Katechismus eine gute "Orientierungshilfe" ist, braucht es nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Änderungen, betonen die Moraltheologen Michael Rosenberger und Martin M. Lintner.

Der Brixener Moraltheologe Lintner sieht jenseits aller inhaltlicher und formaler Bedenken, die er teilt, ein weiteres Problem am Katechismus: Seinen Gültigkeitsanspruch für die gesamte Weltkirche. Grund dafür ist die Ungleichzeitigkeit, die bei gewissen Themen herrscht. Die westliche Sicht auf Homosexualität beispielsweise wäre in vielen Regionen der Welt noch undenkbar. "Wenn wir uns aber nur auf das einigen, was der kleinste gemeinsame Nenner ist, dann ist das vollkommen unzulänglich und wird dem Stand der theologischen Auseinandersetzung nicht gerecht", betont der Theologe. Deshalb sei es unabdinglich, dass einzelne Teilkirchen für ihre jeweiligen Bereiche noch zusätzliche Hilfen herausgeben, die die jeweilige Situation vor Ort berücksichtigen.

Man müsse den Charakter des Katechismus deutlicher machen, betont Lintner. "Er soll nicht schon für alle strittigen moralischen Fragen Entscheidungen vorlegen, sondern Menschen, die sich mit dem christlichen Glauben befassen und vertraut machen wollen, ein Orientierungswissen geben." Viel entscheidender sei, dass man die Menschen durch einen Prozess der Gewissensbildung dazu befähige, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. "Auch wenn der Katechismus den Anspruch erhebt, authentischer und verbindlicher Ausdruck der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche zu sein, kann dies im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass die theologische Forschung und das Ringen um Lösungen für moralische Probleme unterbunden werden“, so Lintner.

Im Hinblick auf das Handeln der Menschen könne der Katechismus die Gewissensentscheidung des Einzelnen zwar unterstützen, aber er ersetze sie nicht, sagt auch Rosenberger. Solange jemand sein Gewissen nicht fahrlässig ungebildet lasse und bei seinen Entscheidungen auch die Position der Kirche miteinbeziehe, dürfe er auch anders handeln, als es im Katechismus steht. "Wer zu sehr auf die Befolgung des Katechismus in moralischen Fragen beharrt, traut dem menschlichen Gewissen zu wenig zu."

Von Matthias Altmann