Letztes Teilstück der knapp 1.700 Kilometer von Canterbury zum Petrusgrab

Pilgern in Zeiten von Corona: Auf dem Frankenweg von Viterbo nach Rom

Veröffentlicht am 16.08.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Viterbo/Rom ‐ Die Pandemie macht auch dem Tourismus und der Kirche zu schaffen. Das spüren auch jene, die sich auf einen Pilgerweg begeben. Auf dem letzten Stück der Via Francigena nach Rom zeigt sich aber: Die Folgen sind nicht nur negativ.

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"Entschuldige, aber hättest du etwas isotonisches Getränkepulver?" Die matte Stimme, die sich abends aus einer Ecke des Gemeinschaftsraums der Pilgerherberge erhebt, gehört Gigi. Er scheint eben erst geduscht zu haben. Dankbar lässt er sich drei Löffel Mineralsalze und Kohlenhydrate in die Wasserflasche füllen, schüttelt und trinkt gierig.

Gigi ist seit einigen Tagen auf der Via Francigena unterwegs. An diesem Tag, an dem die Temperaturen erstmals über 35 Grad steigen, hat er eine Doppeletappe absolviert: 36 Kilometer von Bolsena über Montefiascone nach Viterbo. Der junge Neapolitaner ist einer von vier Pilgern, die Vincenzo Mirto an diesem Tag im "Ospitale del Pellegrino" in Viterbo willkommen heißt. Mirto ist Diakon, Pilgerseelsorger, hauptberuflich Mechaniker beim italienischen Militär – und begeisterter Wallfahrer.

Rund fünf Tage für 105 Kilometer

Viterbo, wo zwei Päpste bestattet sind, ist die letzte größere Station vor dem Ziel des "Frankenwegs", wie die Via Francigena auf Deutsch heißt. "Von hier", sagt Mirto und zeigt auf einen Punkt in der Chiesa del Pellegrino, "bis zum Petersplatz in Rom sind es genau 105 Kilometer." Für dieses letzte Stück des insgesamt knapp 1.700 Kilometer langen Weges von Canterbury zum Grab des Apostels Petrus benötigen Fußpilger vier bis fünf Tage, Radfahrer einen bis drei.

Seit das Hostel am 15. Juni wieder öffnen konnte, seien 130 Pilger hier gewesen, sagt der Diakon. Im vergangenen Jahr hatte das im März neu eröffnete Haus bis Ende September 750 Gäste aufgenommen. Keine schlechte Zahl, wenn man bedenkt, dass auf dem gesamten Weg im vergangenen Jahr 2.000 Pilger-Touristen registriert wurden.

Bild: ©Fotolia.com/Hans und Christa Ede

Der Papstpalast in Viterbo. Dort fand von 1268 bis 1271 die längste Papstwahl der Geschichte statt.

So viele haben sich laut der "Europäischen Assoziation der Vie Francigene" (AEVF) mit Sitz in Fidenza bei Parma 2019 einen Pilgerpass ausstellen lassen. Nicht eingerechnet jene, die nur so den Schildern "Via Francigena" folgen, oder jene, die sich früher einen Ausweis besorgt haben und ihre Wanderung nun fortsetzen. Die Gesamtzahl derer, die pro Jahr irgendwo zwischen Canterbury und Rom unterwegs sind, schätzt die AEVF auf 50.000. Für dieses Jahr wagt keiner eine Prognose.

Das Ospitale von Viterbo hat wegen Covid seine Maximalkapazität von 21 Betten in fünf Räumen auf 11 reduziert, maximal zwei Gäste pro Zimmer. Die bislang größte Reisegruppe dieses Jahres seien 18 Radfahrer aus Burgund gewesen, berichtet Mirto. Bei festen Gruppen und Familien können er und sein Team mehr Personen aufnehmen.

Dem Angebot, am späten Nachmittag in der Kirche den Pilgersegen zu empfangen, sind ein Radpilger-Paar aus Modena und ein junger Mailänder gefolgt. Dennoch betet Mirto das Vaterunser weitgehend allein; zwei machen beim Segen das Kreuzzeichen nur zögernd mit. "Mein Mann hat's nicht so mit Religion", entschuldigt sich die Frau, als sie um die begehrten Pilgerstempel bittet. Abgestiegen sind sie ohnehin andernorts.

Fitness-Tourist oder Pilger?

Leonardo aus Mailand geht seit knapp zwei Wochen konsequent die "Via Francigena" – von Lucca in der Toskana aus. Der Fachmann für Cyber-Security will entschleunigen und gönnt sich zwischenzeitliche Ausflüge ans Meer oder bekannte Weinorte wie Montepulciano. "Turigrini" – zu deutsch etwa "Tourilger" – nennt Mirto Touristen auf Pilgerwegen. Manche würden aber auch "von Fitness-Touristen doch noch zu Pilgern", sagt Mirto. Zumindest schließt er das aus Dank-Mails, die ihn erreichten.

In der nach dem Lockdown wieder angelaufenen Saison jedoch scheint es, "als sei man an Touristen mehr interessiert als an Pilgern", bedauert Gigi aus Neapel. Während Hotels und B&B's wieder öffnen, seien viele kirchliche Stationen noch zu. "Man will Leute wie uns eher melken als begrüßen", meint er leicht gefrustet. Zum Glück gibt es keine Probleme, Unterkünfte zu finden.

Dem Ospitale in Viterbo setzt die Pandemie wirtschaftlich nicht zu. Die Fixkosten, so Diakon Mirto, werden von der benachbarten Pfarrei getragen. Reparaturen, Putzen, Desinfizieren, Einkaufen für die bescheidene Frühstücksbar – all das erledigt ein gutes Dutzend Ehrenamtlicher.

 Pilgerweg Via Francigena
Bild: ©KNA/Roland Juchem

Die Schilder zeigen den Pilgern die Richtung an: Rechts geht's nach Viterbo, links nach Rom.

Am nächsten Morgen liegt Gigi noch erschöpft im unteren Teil eines Etagenbettes. Seine heutige Etappe wird kürzer ausfallen. Leonardo hat sich entschieden, per Anhalter einen Tagesabstecher ans Meer zu machen. Südlich von Viterbo teilt sich der Frankenweg noch einmal kurz auf. Radpilger etwa können westlich oder östlich des ehemaligen Vulkankraters Lago di Vico nach Sutri reisen. Fußpilger erreichen die 2.500 Jahre alte Kleinstadt in zwei Tagesmärschen über Vetralla.

Letzte Station vor Rom ist La Storta – heute fünf Kilometer vor dem Autobahnring um Italiens Hauptstadt. Fuß- wie Radweg folgen weitgehend der Via Cassia. Die antike Verkehrsader ist heute eine vielbefahrene Einfallstraße in die Metropole. Zu Fuß wie per Rad erinnern die letzten zehn Kilometer daran, dass Pilgerfahrten keine Vergnügungsreisen sind, sondern auch mit Buße zu tun haben. Am Monte Mario (139 Meter) dann erblickt der Pilger erstmals sein Ziel: die Kuppel des Petersdoms.

Alternativen für Radfahrer

Unten am Petersplatz, im Schatten der Kolonnaden, sitzt ein junges Paar mit Tandem. Drei Wochen waren sie unterwegs, seit sie im Wallis aufgebrochen sind. Auf ihrer Route über Mailand, Fidanza und Pisa sind sie – eher zufällig – auch auf den Frankenweg gestoßen. Der sei ganz gut ausgeschildert, "aber als Velofahrer muss man schon konzentriert hinschauen, um die kleinen Schilder zu sehen", sagt die Frau.

Angesichts der zahlreichen Abschnitte auf Schotter- oder Feldwegen empfehlen sie breite Bereifung oder Alternativen per GPS-Tracks. Schmaler bereifte Radpilger haben nach fünf Monaten Pandemie Anlass zur Freude. Ganze Straßenabschnitte in Italien scheinen zuletzt neu asphaltiert worden zu sein.

Von Roland Juchem (KNA)