Stephan Wahle über die Bedeutung eines wiederentdeckten Brauchs

Liturgiewissenschaftler: Ganzkörpertaufe macht Ritual neu erlebbar

Veröffentlicht am 22.06.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ In Wolfenbüttel steigen Täuflinge zukünftig bis zur Hüfte ins Wasser. Was heute noch die Ausnahme ist, wünscht sich Stephan Wahle häufiger. Im Interview erklärt der Liturgiewissenschaftler die Bedeutung der Ganzkörpertaufe und plädiert dafür, die Sakramente wieder sinnlich erfahrbar zu machen.

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So ist der Taufritus vielen geläufig: Ein Kleinkind wird von seinen Eltern über den Taufstein oder eine in Altarnähe aufgestellte Schale gehalten und vom Priester mit einigen wenigen Tropfen Wasser übergossen. Doch das muss nicht zwingend so aussehen. Besonders für die Taufe von Erwachsenen werden auch in katholischen Kirchen vermehrt Taufbecken im Boden der Kirche eingelassen. Im Interview mit katholisch.de spricht der Freiburger Liturgiewissenschaftler Stephan Wahle über die Ursprünge dieser Taufpraxis und erklärt, warum das Hinabsteigen in fließendes Wasser die Bedeutung der Taufe besonders gut versinnbildlicht.

Frage: Herr Wahle, Anfang Juni hat der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer ein Ganzkörpertaufbecken in der Pfarrkirche St. Petrus in Wolfenbüttel eingeweiht (Titelbild). Ähnliche Taufstellen zum Hineinsteigen gibt es seit einigen Jahren auch in anderen Pfarreien, etwa in Hamm und Höntrop. Ist die Ganzkörpertaufe ein neuer Trend in der katholischen Kirche?

Wahle: Es gibt schon lange Empfehlungen, dass man die Lebendigkeit der Taufe stärken und auch die Praxis des Untertauchens wieder vermehrt einsetzen soll. Ein echter Trend ist da aber noch nicht feststellbar. Die genannten Tauforte sind sehr schöne Beispiele für eine Erneuerung der Ganzkörpertaufe, aber bisher leider nur Einzelfälle. Der Regelfall ist nach wie vor der, dass man an den traditionellen Taufsteinen oder noch schlichter mit Schale und Kanne tauft.

Frage: Woran liegt das?

Wahle: Der Bau solcher Taufstellen ist natürlich ein kostspieliges Vorhaben und nimmt eine lange Planungszeit in Anspruch. Da wird es viele Gemeinde geben, in denen vielleicht die Idee für ein Ganzkörpertaufbecken aufkommt, aber dann setzt sich die Trägheit durch oder das Projekt wird aus praktischen Gründen wieder fallengelassen.

Frage: Hat die Ganzkörpertaufe ältere Wurzeln oder ist sie eine Neuerfindung?

Wahle: Nein, das ist keine neue Erfindung. Gegenüber der heutigen Praxis ist sie vermutlich sogar die ursprünglichere. Wenn man in die Taufpraxis der Alten Kirche schaut, haben wir eine Vielzahl von Formen, wie getauft wurde. Eine der frühesten Quellen, die sogenannte Didache, favorisiert etwa die Taufe in fließenden, kalten Gewässern, sagt aber, wenn das nicht möglich ist, kann auch an stehendem und warmem Wasser getauft werden. Es gab damals eine große Fülle an Möglichkeiten, allerdings mit einer klaren Priorität für das Zeichen der Lebendigkeit und die Qualität des Wassers. Insofern knüpft die heutige Ganzkörpertaufe an eine sehr alte Tradition an.

Mosaik zeigt Taufe Jesu im Jordan
Bild: ©Fotolia.com/Enrico De Vita

Die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, dargestellt auf dem antiken Kuppelmosaik im Baptisterium der Arianer in Ravenna. Das Taufwasser geht von der Taube, dem Symbol des Heiligen Geistes aus. Links sitzt der personifizierte Fluss Jordan, der sein Wasser aus einer Kanne hervorströmer lässt.

Frage: Beim neuen Taufbrunnen in Wolfenbüttel hat die Pfarrgemeinde darauf Wert gelegt, dass das Wasser über den Beckenrand fließt. Was ist die theologische Aussage des bewegten Wassers?

Wahle: Interessant ist der Fachbegriff für die Taufbecken in der Liturgiegeschichte. Die Piscinen leiten sich ursprünglich vom lateinischen Wort piscis, Fisch, ab. Damit macht schon der Name deutlich, dass es in der Taufe um etwas Lebendiges geht. Ein lebensspendendes Wasser, aus dem Menschen und Tiere, die ganze Schöpfung ihr Leben erhalten. Das knüpft auch an die biblischen Bilder der Paradiesströme an. Die Taufe ist also nicht nur das Einstiegen in das Todeswasser, in dem der alte Mensch untergeht, sondern in das Geburtswasser, aus dem er mit Christus zum neuen Leben geboren wird.

Frage: Und das wird dadurch verdeutlicht, dass sich das Wasser auch bewegt?

Wahle: Richtig, die Bewegung des Wassers soll den Prozess der Umkehr und der Hinwendung zu Gott sinnlich erfahrbar machen. Das wird in der frühen Ikonografie auch genau so dargestellt. Für die ersten Jahrhunderte gibt es noch keine liturgischen Quellen, sondern wir haben neben einzelnen Kirchenordnungen vor allem ikonografische Belege. Und da steht die Person immer bis zur Brust oder zumindest bis zu den Oberschenkeln im fließenden Wasser, das durch Wellen und Fische sehr bildhaft dargestellt ist, und von oben wird das geschöpfte Wasser durch den Täufer auf den Täufling herabgegossen. Es geht also nicht unbedingt um das vollständige Untertauchen als Zeichen des Sterbens und Auferstehens – das ist sogar seltener –, sondern um die sinnbildliche Verbindung von Himmel und Erde wie bei der Taufe Jesu. Das herabfließende Wasser symbolisiert damit zugleich die Herabkunft des Heiligen Geistes. Die ältesten Taufbecken, die wir etwa aus Nordafrika kennen und an denen sich die heutigen Modelle oft orientieren, sind gar nicht tief genug, dass man darin vollständig untertauchen kann. Das Entscheidende ist vielmehr das Hineinsteigen in das Wasser und das anschließende Übergossenwerden von oben.

Frage: Wann hat sich die heute vorherrschende Form der Taufsteine durchgesetzt?

Wahle: Dass die Taufbecken nicht mehr in die Erde eingelassen wurden, sondern auf dem Boden stehen, entwickelte sich mit dem Übergang von der Erwachsenen- zur Kindertaufe. Die hat sich aus theologischen Gründen ab der Spätantike immer mehr durchgesetzt: Die Kinder sollten wegen der Heilsnotwendigkeit der Taufe möglichst früh getauft werden. Das hatte aber auch ganz praktische Folgen: Man empfand es als unwürdiges Zeichen, dass sich der Priester bei der Taufe von kleinen Kindern tief in den Taufbrunnen hinunterbücken musste. Auch deshalb wurde das Becken auf einen Sockel gesetzt und kunstvoll gestaltet. Bis ins späte Mittelalter war es nicht unüblich, dass es in den Kirchen ein Bodentaufbecken für die Erwachsenentaufe und einen Taufstein für die Kindertaufe gab.

Der Übergang des Taufrechts von den Bischöfen auf die Pfarrer hat die Feiergestalt der Taufe aber zunehmend reduziert, da es nun in jeder Pfarrkirche einen Taufort brauchte. Größere Taufhäuser wurden überflüssig, weil möglichst direkt nach der Geburt in Abwesenheit einer Gemeinde getauft wurde. Dazu kam die liturgische Vorschrift, dass nur noch einmal im Jahr Taufwasser geweiht wurde. Da ist es verständlich, dass man kein Kind mehr in dieses Wasser setzt, das noch dazu mit Salz und Öl vermischt war, sondern nur noch einige Tropfen für die Taufe verwendet. Theologisch lag das Augenmerk zunehmend auf die Gültigkeit des rechtmäßigen Vollzugs und nicht mehr so sehr auf der Symbolik des Sakraments. Die Bedeutung der Taufe wurde allerdings durch die repräsentative Ausgestaltung des Taufsteins oder möglicherweise sogar eines Baptisteriums hervorgehoben.

Der Liturgiewissenschaftler Stephan Wahle
Bild: ©Uni Freiburg/Thomas Kunz

Stephan Wahle (*1974) ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Er fragt: "Meinen wir es überhaupt noch ernst mit dem, was wir im Sakrament der Taufe feiern?"

Frage: Heute richtet sich das Verständnis wieder stärker auf die Zeichenhaftigkeit der Sakramente. Woher kommt diese Sehnsucht, gottesdienstliche Rituale erlebbar zu machen?

Wahle: Diese Sehnsucht setzt nicht erst in jüngster Zeit ein. Schon in der liturgischen Bewegung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gab es den Ansatz, die gesamte Liturgie als "heiliges Spiel" – ein berühmter Ausdruck von Romano Guardini – sinnlich erfahrbar zu machen. Und dieser Anspruch gewinnt in unserer Zeit natürlich an Gewicht, weil die rituellen Zeichen in der Gesellschaft nicht mehr so breit bekannt sind und verstanden werden. Deswegen ist es heute ein wichtiges Desiderat, Gottesdienst und Alltag in einen Einklang zu bringen und in der Liturgie auch ein anderes Vorzeichen zu setzen: nicht mehr allein die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen in den Vordergrund zu stellen, sondern die Fülle des Lebens in Gott zu feiern.

Frage: Verstehen die Menschen die Riten der Kirche heute überhaupt noch?

Wahle: Ich glaube zunehmend, der Wunsch, Liturgie so zu feiern, dass sie ganz ohne Erklärung verstanden wird, ist illusorisch. Und doch gibt es immer noch Zeichen, wie eben das Übergießen mit Wasser oder die brennende Kerze, die aus sich heraus so transparent sind, dass man sie nicht groß erklären muss. Nur, wenn man etwa die Taufe so reduziert feiert und sofort jeden Tropfen mit einem Tuch abtrocknet, stellt sich schon die Frage: Meinen wir es überhaupt noch ernst mit dem, was wir im Sakrament feiern? Da könnte man teilweise auch direkt dazu übergehen, die Taufe durch den Eintrag ins Taufregister zu vollziehen.

Durch ein Taufbecken wie das neue in Wolfenbüttel wird das Eintreten in etwas Neues, das Belebende und Reinigende der Taufe auf jeden Fall sehr viel deutlicher erfahrbar. Hier steht die gemeinsame Taufwürde aller Christen im Fokus, eine weniger hierarchische Glaubensvermittlung, was durch die zentrale Positionierung des Beckens in der Mitte des Kirchenschiffs nochmals verdeutlicht wird. Diese Anordnung finde ich auch deshalb gelungen, weil sie die Zentrierung auf den Altar aufhebt und die Kirche als gegliederten Raum für verschiedene Gottesdienstformen erfahrbar macht.

Frage: In anderen Konfessionen gehört die Ganzkörpertaufe zum festen Identifikationskern. Haben die sich ein besseres Gespür für eine sinnfällige Feier der Taufe bewahrt?

Wahle: Sie müssen nicht einmal auf andere Konfessionen schauen. Es gibt andere Länder, in denen auch die katholische Kirche viel längere Erfahrungen mit der Ganzkörpertaufe hat. In den USA spielt sie beispielsweise durch die Wiederbelebung des Erwachsenenkatechumenats eine viel größere Rolle. Und dort kann man durchaus beobachten, dass diese Entwicklung oft mit einer besonders starken Gemeindeaktivität einhergeht. Insofern kann diese Praxis tatsächlich eine belebende Kraft haben.

Von Moritz Findeisen