Kirchenrecht stößt oft auf Unverständnis

Pastoral oder Recht? Das Heil der Seelen als oberstes Ziel der Kirche

Veröffentlicht am 26.10.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Fribourg ‐ Der Fall von Monika Schmid wirft Fragen auf: Dient es wirklich dem Seelenheil, wenn sie für ihre Konzelebration bei einer Messe kirchenrechtlich sanktioniert wird? Die Kirchenrechtlerin Astrid Kaptijn erläutert im Interview, warum für die Kirche Sakramente auch eine Sache des Strafrechts sind.

  • Teilen:

Die Kirche schützt die Sakramente auch mit den Mitteln ihres Rechts – wer wie Eucharistie feiern darf, wer zum Priester geweiht werden darf oder nicht: All das regelt das Kirchenrecht. Oft stößt das auf Unverständnis: Passt das zur Kirche? Widerspricht rechtliches Handeln nicht pastoralen Zielen? Diese Diskussion wird auch im Fall der Schweizer Theologin Monika Schmid geführt, die bei ihrem Abschiedsgottesdienst die Messe konzelebrierte – und gegen die deshalb nun durch ihren Bischof eine kanonische Voruntersuchung zur Prüfung des mutmaßlichen Rechtsverstoßes angestoßen wurde. Dient das dem "Heil der Seelen", das laut dem Codex Iuris Canonici (CIC), dem kirchlichen Gesetzbuch, doch oberstes Ziel der Kirche sein muss? Die Professorin für Kirchenrecht an der Universität Fribourg, Astrid Kaptijn, erläutert im katholisch.de-Interview, was es bedeutet, wenn das Kirchenrecht vom Heil der Seelen spricht – und warum Pastoral und Recht nicht im Widerspruch stehen müssen.

Frage: Frau Professorin Kaptijn, das "Heil der Seelen" muss "in der Kirche immer das oberste Gesetz" sein – ist das nur eine schöne literarische Formulierung am Ende des CIC, oder hat das auch praktische rechtliche Konsequenzen?

Kaptijn: Das kann auch rechtliche Konsequenzen haben, wenn auch im Rahmen des Gesetzes und in Abwägung mit anderen Prinzipien wie dem Gemeinwohl. Es geht dabei um das Unterscheidungsvermögen bei der Rechtsanwendung. Allgemein lässt es sich aber nicht sagen, welches Gewicht die verschiedenen Aspekte haben, das kommt immer auf den Einzelfall an.

Frage: Ein "oberstes Gesetz" würde man eigentlich nicht am Ende eines Gesetzbuchs erwarten, sondern am Anfang, bei den anderen allgemeinen Normen, die die Gesetzesanwendung regeln. Warum hat sich der kirchliche Gesetzgeber so entschieden, das an den Schluss zu stellen?

Kaptijn: Man interpretiert das so, dass das, was besonders wichtig ist, am Ende steht, um deutlich zu machen, dass alles darauf abzielt. Durch die Position wird auch deutlich, dass das Heil der Seelen über das Kirchenrecht hinausgeht. 

Portraitfoto von Astrid Kaptijn
Bild: ©privat (Archivbild)

Astrid Kaptijn ist seit 2010 Professorin für kanonisches Recht an der theologischen Fakultät der Universität Fribourg (Schweiz). Zuvor lehrte sie am Institut Catholique de Paris. 2019 berief sie Papst Franziskus als Konsultorin der Kongregation für die orientalischen Kirchen.

Frage: Recht soll eigentlich eine klare Ordnung schaffen, Heil der Seelen ist aber sehr deutungsoffen – besteht hier nicht auch die Gefahr von Willkür bei der Rechtsanwendung?

Kaptijn: Die Gefahr besteht, und man muss immer darauf achten, dass Rechtsanwendung nicht willkürlich ist. Es ist wichtig, dass die Zielbestimmung des Heils der Seelen mit anderen Kriterien abgewogen wird. Man muss prüfen: Was ist das Ziel des Gesetzes? Was entspricht wirklich dem Gemeinwohl? Kirchliche Gesetze können in ihrer Auslegung nicht beliebig gedehnt werden. Kirchliche Gesetze sind ja nicht willkürlich gesetzt, sondern gehen auf die Heilige Schrift, die Tradition und die Lehre der Kirche, manche sogar auf göttliches Recht zurück. Kirchliche Gesetze sind dafür da, einen Ordnungsrahmen in der Kirche zu schaffen.

Frage: Das tut sie auch bei den Sakramenten, wie im Fall von Monika Schmid deutlich wurde. Die Kirche ordnet die Verwaltung der Sakramente auch mit den Mitteln des Strafrechts. Das stößt bei vielen Menschen auf Unverständnis, die einen Widerspruch zwischen Pastoral und Kirchenrecht sehen. Kann man Pastoral und Recht vereinbaren?

Kaptijn: Ja, das denke ich schon. Es ist auch ein erklärtes Ziel von Papst Franziskus, das Strafrecht als ein Mittel der Pastoral zu erkennen und Pastoral und Recht in Einklang zu bringen. Es ist zu einfach, mit dem Verweis auf das Seelenheil alles rechtfertigen zu wollen. Es ist gerade ein Ausdruck der Sorge eines Bischofs um das Seelenheil, dass er die kirchliche Lehre und die kirchliche Disziplin mit den dafür vorgesehenen Regelungen bewahrt. Das ist eine pastorale Aufgabe des Bischofs. Das wird oft übersehen, wenn das Heil der Seelen in die Diskussion eingebracht wird.

Frage: Vor über hundert Jahren hat der evangelische Kirchenrechtler Rudolph Sohm einen heute noch zitierten Satz geprägt: "Das Wesen des Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch." In der Kirchenrechtswissenschaft gilt das als überwunden, Kirchenrecht wird als theologische Disziplin verstanden – aber im Kirchenvolk scheinen viele genau so zu denken.

Kaptijn: Man muss deutlich machen, was das Ziel von Recht in der Kirche ist. Das ist in der Tat immer das Heil der Seelen, das der kirchliche Gesetzgeber im Blick hat. Es geht nicht nur um eine äußerliche Rechtstreue, sondern um Werte. Die Gegenüberstellung von Recht und Pastoral deutet auf ein Fehlverständnis hin, das kirchliches Recht mit staatlichem Recht verwechselt: Staatliches Recht kann nur eine äußerliche Rechtstreue im tatsächlichen Handeln verlangen. Kirchliches Recht dagegen will den Rahmen schaffen, in dem bestimmte Werte auch innerlich verwirklicht werden, ohne das aber vorschreiben zu können. Denken Sie an das Sonntagsgebot. Das Kirchenrecht kann nur festschreiben, dass die Pflicht zum sonntäglichen Messbesuch besteht. Es kann nicht verpflichten, die Messe auch mit Andacht und tätiger Teilhabe mitzufeiern. Das rechtliche Sonntagsgebot kann nur dann sein Ziel erreichen, wenn die Einsicht da ist, warum es wichtig ist.

Frage: Diese Einsicht scheint es im Fall von Monika Schmid nicht zu geben. Das Verständnis für das kirchliche Gesetz ist in der Öffentlichkeit sehr begrenzt. Wie erklärt man es dann?

Kaptijn: Indem man darauf verweist, dass es um die öffentliche Ordnung der Kirche und das Gemeinwohl der Gläubigen geht. Das Kirchenrecht spricht oft von einem "Ärgernis", das es zu vermeiden gilt. Damit ist nicht im weltlichen Sinn gemeint, dass es einen Skandal gibt oder dass sich Menschen über etwas ärgern. Gemeint ist ein Verhalten, das andere Menschen dazu anstiftet, selbst etwas Unrechtes zu tun. Das Ziel des Kirchenrechts ist hier, ein Verhalten zu verhindern, das in den Augen der Kirche schlechte Auswirkungen auf die Gemeinschaft der Gläubigen hat.

Frage: Aber warum hat es denn schlechte Auswirkungen auf die Gemeinschaft der Gläubigen, wenn eine nicht zur Priesterin geweihte Frau der Eucharistie vorsteht, und die Gemeinde das offensichtlich begrüßt?

Kaptijn: In diesem Fall geht es um zwei Sakramente, die Eucharistie und die Priesterweihe. Dass die Kirche diese Sakramente so ordnet, wie sie sie ordnet, ist keine Willkür, sondern die rechtliche Umsetzung der Lehre der Kirche. Das Kirchenrecht setzt hier um, was die Kirche in Tradition und Lehre als dem Stiftungswillen Jesu entsprechend erkannt hat.

Frage: Das Ziel der Kirche ist das Heil der Seelen. Nach all der öffentlichen Diskussion, dem Ärger, dem Unverständnis – glauben Sie, dass der ganze Vorgang dem Heil der Seelen dienen kann?

Kaptijn: Ja – wenn man sich Zeit nimmt, um die Sache gut zu erklären. Es reicht nicht, darauf zu beharren, dass es ein Gesetz gibt, das einen Straftatbestand benennt und dafür ein Strafmaß festlegt, und dass dieses Gesetz nun einmal anzuwenden ist. Es braucht ein Verständnis dafür, warum die Lehre der Kirche so ist, wie sie ist, und welche Werte hinter einem kirchlichen Gesetz stehen. Das zu erklären, ist die Aufgabe der Kirche, des Bischofs – auch wenn am Ende sicher nicht alle damit einverstanden sein werden.

Von Felix Neumann