Weil jede Stimme zählt

"Menschen ohne festen Wohnsitz können sich auf Antrag in das Wählerverzeichnis eintragen lassen", erläutert Magdalena Gawenda, Sozialarbeiterin bei der Bonner Caritas. Dazu müsse ein Obdachloser bei der Kommune schriftlich erklären, dass er nirgendwo in Deutschland mit einer Wohnung gemeldet sei und auch in keiner anderen Gemeinde den Eintrag in das Wählerverzeichnis beantragt habe. Dann dürfen sie ihre Kreuzchen machen. In Bonn beispielsweise im Wahlbüro des Stadthauses.
Keine zwei Wochen mehr sind es bis zur Bundestagswahl. Bereits vor einiger Zeit hat die Caritas von der Stadt Anträge zum Eintrag ins Wählerverzeichnis für Obdachlose erhalten, die die Mitarbeiter an ihre "Klienten", wie es im Caritas-Fachjargon heißt, verteilen. Doch Gawenda und Kollegen tun nicht nur das.
Ein Dutzend Menschen sind an diesem Nachmittag in die City-Station gekommen – eine Tageseinrichtung in der Nähe des Bonner Hauptbahnhofs für Menschen ohne Obdach oder in anderen Krisensituationen. Zusätzlich zu den sonst üblichen warmen Mittagsgerichten und Gesprächsangeboten haben Magdalena Gawenda und ihre Kollegin Eva Flügel heute einen Tisch mit vielen Zeitschriften, Broschüren und sonstigen Informationen zur Bundestagswahl aufgebaut.
Muster-Wahlzettel und Wahl-O-Mat
Zu Anschauungszwecken hängt ein Muster-Wahlzettel an der Wand. Im Büro der Sozialarbeiterinnen können Interessierte zudem mit dem Wahl-O-Mat im Internet ihre Ansichten mit den Forderungen der Parteien abgleichen und so sehen, welche Partei am besten zu den eigenen Vorstellungen passt.
Eine 62-jährige regelmäßige Besucherin der City-Station hat das gerade getan. "Es ist genau die Partei herausgekommen, die ich auch wählen werde", sagt sie. Gedanken mache sie sich vor allem über die Situation von Frauen und Senioren. "Ich habe meinen Sohn allein erzogen und heute lebe ich von 400 Euro monatlich", sagt sie. Obdachlos sei sie nicht, aber das Geld sei so knapp, dass sie nicht wisse, wie sie ihren kaputten Herd reparieren lassen solle. Wählen gehen will die Frau auf jeden Fall. "Ich bin Bürger und das gehört für mich dazu."
"Die belügen uns doch alle"
Ein 72-jähriger Rentner sieht das völlig anders. "Ich gehe nicht wählen", sagt er. Seit zwölf Jahren lebe er auf der Straße. Früher sei er als LKW-Fahrer viel im Land herumgekommen. Dann kamen Scheidung, Arbeitslosigkeit und der Verlust der Wohnung. "Ich habe 46 Jahre gearbeitet und bekomme nur eine kleine Rente", sagt er. Eine Wohnung könne er sich davon nicht leisten. Seine Enttäuschung und Wut über die Politiker versucht er gar nicht erst zu verbergen. "Die belügen uns doch alle."
Dennoch diskutiert er mit vier anderen Männern, mit denen er am Tisch sitzt, intensiv über den bevorstehenden Urnengang: Wie wird sich die FDP schlagen? Schaffen es die Piraten in den Bundestag? Und welche Koalitionen sind dann möglich? Aber auch immer wieder der Satz: Eine Regierung ist genauso schlimm wie die andere.
Reaktionen wie diese kennt Sozialarbeiterin Gawenda aus vielen Gesprächen. "Oft höre ich von unseren Klienten, dass wählen eh nichts bringt." Viele seien enttäuscht, sagt sie weiter. Ungeachtet dessen sei die Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Prozessen wie Wahlen auch für Menschen in schwierigen Lebenssituationen sehr wichtig, findet Gawenda. Deshalb werbe man fürs Wählengehen, sagt sie: "Schließlich zählt jede Stimme."
Von Christoph Meurer