Das "200 Milliarden Euro-Märchen"

Frage: Welche Wirkung hatte das Kindergeldgesetz vor 50 Jahren?
Bußmann: Dieselbe wie heute: eine spürbare finanzielle Entlastung der Familien . Das Kindergeld war damals und ist heute das zentrale Instrument der Armutsvermeidung von Familien. Es wurde 1954 übrigens nur für dritte und weitere Kinder und aus Arbeitsgeberbeiträgen finanziert. Mit dem ersten Bundeskindergeldgesetz vom 14.04.1964 wurde ein neues, allein vom Bund finanziertes, Kindergeldsystem geschaffen, das in seinen Grundzügen bis heute gilt.
Frage: Was macht Kindergeld auch heute noch wichtig?
Bußmann: Das Kindergeld hat heute eine Doppelfunktion. Es dient einerseits dazu, die kindbedingten Mehrausgaben teilweise auszugleichen und andererseits das steuerliche Existenzminimum der Kinder zu schützen. Und schließlich ist es ein Nachteilsausgleich gegenüber Personen ohne Unterhaltsverpflichtung. Kindergeld ist eine sehr wichtige finanzielle Unterstützung. Laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung leben rund 20 Prozent der Kinder in Deutschland in Armut. Rund 1,2 Millionen Familien bleibt durch das Kindergeld die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld II erspart.
Elisbath Bußmann ist Präsidentin des Familienbundes der Katholiken.
Frage: Es wird viel Geld investiert, gleichzeitig werden weniger Kinder geboren. Woran liegt das?
Bußmann: Familienpolitik zielt nicht vorrangig auf eine höhere Geburtenrate. Ziel ist wohl, die Erfüllung vorhandener Kinderwünsche zu ermöglichen, und dazu bedarf es mehr als Geld. Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist zum einen sehr persönlich, zum anderen ist sie abhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, von den finanziellen Verhältnissen der Eltern und der Situation auf dem Arbeitsmarkt.
Darüber hinaus ist die Familienförderung in Deutschland bei genauem Hinschauen sehr viel niedriger als oft behauptet. Statt 200 Milliarden Euro Familienförderung, wie Wirtschaftsforschungsinstitute in der Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen des Staates angeben, fließen nach Angaben des Bundesfamilienministeriums rund 55 Milliarden Euro, nach unseren Berechnungen sogar nur rund 40 Milliarden Euro jährlich an die Familien. Als Beispiel nenne ich die in den 200 Milliarden enthaltenen rund 38 Milliarden Euro für Witwenrenten, die keine Familienförderung sind. Wir nennen die Berechnungen der Institute deshalb das "200 Milliarden Euro Märchen".
Frage: Kann das Kindergeld ein falscher Anreiz sein, Kinder zu bekommen?
Bußmann: Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass die Entscheidung zu Kindern wegen des Kindergeldes getroffen wird. Die Entscheidung zu Kindern ist eine Entscheidung zum Leben und nicht eine Entscheidung zum Geld.
Frage: Wäre es nicht sinnvoller, das Kindergeld in Betreuungsangebote zu investieren?
Bußmann: Das Kindergeld ist keine Verfügungsmasse des Staates, es ist zum Großteil die Rückzahlung zu viel gezahlter Steuern und gehört den Eltern. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist ein Teil der Bildung und damit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus Steuern bezahlt werden muss – und nicht von den Eltern alleine! Darüber hinaus wird das Kindergeld bis zum 25. Lebensjahr gezahlt, also auch für erwachsene Kinder, die keine Betreuungsangebote mehr nutzen und deren Ausbildung in der Regel mit hohen Kosten verbunden ist. Man darf außerdem nicht einen Baustein der Familienpolitik gegen den anderen ausspielen. Familien brauchen Geld und Infrastruktur und Zeit für das Familienleben.
Frage: Was sagen Sie zur eventuellen Verschiebung der Kindergelderhöhung auf 2016?
Bußmann: Der Familienbund hat hier klare Worte gefunden: eine Verschiebung der im Wahlkampf versprochenen Kindergelderhöhung ist Wortbruch! Es darf nicht sein, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble seinen Haushalt ausgerechnet auf dem Rücken der Familien ausgleichen will. Der geplante Verzicht auf die Kindergelderhöhung trifft vor allem Familien mit niedrigeren Einkommen. Das ist unverantwortlich. Tatsache ist: Aus verfassungsrechtlichen Gründen muss die Regierung 2014 die Kinderfreibeträge bei der Einkommensteuer um 72 Euro auf 7080 Euro anheben. Das Kindergeld, das vereinbarungsgemäß im gleichen Zuge steigt, sollte nach Regierungsplänen ursprünglich um zwei Euro pro Monat erhöht werden. Im Wahlkampf war das der CDU/CSU noch zu wenig: sie hatte ihren Wählern eine Kindergelderhöhung von 35 Euro pro Monat versprochen und die SPD eine Erhöhung um bis zu 140 Euro für Familien mit niedrigem Einkommen. Jetzt sollen Eltern jahrelang auf Geld verzichten, das ihnen zusteht. Es ist unverständlich, dass angesichts des hohen Steueraufkommens kein Geld gegen Kinderarmut da sein soll.
Das Interview führte Sophia Michalzik