Seit Münchner Missbrauchsgutachten ist ein Jahr vergangen

Betroffenen-Sprecher: Trotz Bemühungen sind wir nicht zufrieden

Veröffentlicht am 20.01.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Seit Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens ist ein Jahr vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert, sagt Betroffenenbeiratssprecher Richard Kick – es gibt aber noch Luft nach oben. Auch mit Blick auf den Erzbischof.

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Das Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl für das Erzbistum München und Freising löste vor einem Jahr internationale Debatten aus. Im Interview zieht der Sprecher des Münchner Betroffenenbeirats, Richard Kick (66), eine persönliche Bilanz – und schaut zugleich nach vorn.

Frage: Herr Kick, was hat sich seit der Veröffentlichung getan?

Kick: Eine ganze Menge. Die Hotline für Betroffene, die wir schon vor der Pressekonferenz angeregt hatten, besteht bis heute und wird auch genutzt. Es gab mehrere Veranstaltungen, eine zur Anhörung Betroffener, ein Kunstprojekt in der Münchner Kirche Herz Jesu. In Unterwössen haben wir die Einrichtung eines Erinnerungsortes unterstützt. Wir haben uns das dort angeschaut und mit dem Künstler gesprochen, der den Raum gestaltet hat. Nach unserem positiven Votum wurde die Arbeit von der Erzdiözese bezahlt. Im Herbst war die Einweihung.

Frage: Warum ist dieser Ort so wichtig?

Kick: Damit wurden 60 Jahre Schweigen in der Gemeinde endlich durchbrochen. Es müsste viel mehr solcher Erinnerungsorte geben, um die betroffenen Familien, aber auch die Gemeinden wieder zu befrieden. Leider gibt es dafür manchmal nicht einmal die Unterstützung vom Ortspfarrer.

Frage: Sind Sie zufrieden, wie die Kirchenverantwortlichen auf das Gutachten reagiert haben?

Kick: Gut läuft die Zusammenarbeit mit der aktuellen Leitung der Münchner Bistumsverwaltung, also Generalvikar Christoph Klingan und Amtschefin Stephanie Herrmann. Da spüren wir starke Unterstützung.

Frage: Und der Erzbischof?

Kick: Kardinal Reinhard Marx beansprucht ja bei dem Thema eine gewisse Lernkurve für sich. Wir Betroffenen würden uns wünschen, dass diese noch weiter nach oben geht.

Frage: Was meinen Sie damit konkret?

Kick: Ich habe mit vielen gesprochen. Ihr sehnlichster Wunsch ist, dass sich der Kardinal persönlich bei ihnen entschuldigt, dass er Verantwortung übernimmt für das, was ihnen vielleicht vor 40 Jahren passiert ist. Er war zwar damals noch gar nicht zuständig, aber er spricht heute selbst davon, dass er sich in einer institutionellen Verantwortung sieht. Ich fände es auch an der Zeit, dass das Erzbistum von sich aus Aufrufe in den Gemeinden startet, wo es Täter gab, und zwar nicht nur in Garching an der Alz. Man könnte dort zu Gottesdiensten einladen.

Bild: ©KNA/Robert Kiderle

Richard Kick (l.) im Gespräch mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx.

Frage: Die Kanzlei hat ihrem Auftraggeber Empfehlungen mitgegeben. Wie steht es mit der Umsetzung?

Kick: Also – die Bemühungen sind da. Zufrieden können wir Betroffene aber noch nicht sein.

Frage: Es gab 2022 einige Anläufe, bisher schweigende Betroffene zum Reden zu bringen. Hat das funktioniert?

Kick: Noch nicht so, wie es sein soll. Wir würden uns wünschen, dass Kardinal Marx und seine Verwaltung proaktiv auf die Betroffenen zugehen und nicht nur warten, ob welche kommen.

Frage: Von wie vielen neuen Betroffenen wissen Sie? Lässt sich das beziffern?

Kick: Es gab bis zum Jahresende seit dem Gutachten 57 neue Meldungen bei den Missbrauchsbeauftragten, bei einigen handelt es sich aber nur um sogenannte Grenzüberschreitungen, einige betrafen auch bereits bekannte Missbrauchsfälle.

Frage: Das Thema beschäftigte 2022 auch den bayerischen Landtag und die Staatsregierung. Kümmert sich die Politik inzwischen intensiv genug darum?

Kick: Im März vorigen Jahres kam die Grünen-Landtagsabgeordnete Gabriele Triebel auf mich zu, die bei dem Thema sehr aktiv ist. Sie hat in ihrem engeren Bekanntenkreis selbst eine Betroffene. Frau Triebel hat dann mit Justizminister Georg Eisenreich (CSU) gesprochen. So kam Bewegung in die Sache. Inzwischen sind die Betroffenenbeiräte aller sieben Bistümer miteinander vernetzt. Vor wenigen Tagen hatten wir eine längere Unterredung im Münchner Justizpalast, auf die sich sehr gut aufbauen lässt.

Münchner Missbrauchsgutachten
Bild: ©picture alliance/dpa-Pool/Sven Hoppe

Das Gutachten zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising sorgte international für Aufsehen.

Frage: Worauf hoffen Sie?

Kick: Dass es bald eine vom Freistaat eingerichtete Anlaufstelle für Missbrauchsbetroffene gibt, aus allen gesellschaftlichen Bereichen, nicht nur zentral in München oder in den Großstädten, sondern flächendeckend in ganz Bayern.

Frage: Inzwischen verhandeln Gerichte über Schadensersatzansprüche. Dabei richtet sich der Blick auf eine mögliche Amtshaftung kirchlicher Vorgesetzter für den Schaden, den Priester mit dem Missbrauch Minderjähriger angerichtet haben. Versprechen Sie sich davon etwas über die jeweiligen Einzelfälle hinaus?

Kick: Wenn ein deutsches Gericht über die Höhe eines solchen Schadensersatzanspruchs befinden würde, wäre das eine große Chance für viele Betroffene, endlich angemessenere finanzielle Leistungen für den erlittenen Missbrauch zu erhalten.

Frage: Haben Sie genügend Mitstreiter?

Kick: Wir versuchen händeringend, Betroffene zu motivieren, in unserem Beirat mitzuarbeiten. Es gab schon öfter Interessensbekundungen, aber wenn wir gesagt haben, mit wie viel Aufwand das Ganze verbunden ist, und es ist ja ein Ehrenamt, dann haben die Angesprochenen gesagt: Ich überlege es mir noch einmal.

Frage: Im Erzbistum gibt es seit 2022 einen Seelsorger als Ansprechpartner für Menschen mit Missbrauchserfahrung, der auch selbst betroffen ist. Hat sich das bewährt?

Kick: Ich denke ja. Bei ihm melden sich Betroffene, darunter auch andere Priester. In diesem Jahr soll es dazu ein internationales Treffen in Rom geben. Mir ist das Thema sehr wichtig, weil nach den überwiegenden Erfahrungen der Missbrauch meist auch mit dem Verlust der Glaubensgemeinschaft einhergegangen ist. So gut wie niemand konnte danach noch Halt in der Kirche finden, die meisten sind ausgetreten. Mich hat schon gewundert, dass da kein Bischof auf die Idee kam, einmal zu fragen, wie gehen wir mit dieser seelischen Not um? Nun also hat man in München eine Planstelle für einen Seelsorger geschaffen, der stark nachgefragt wird und inzwischen auch zwei Mitarbeiterinnen hat.

Von Christoph Renzikowski (KNA)