Erzbistum München zieht Zwischenbilanz zu Missbrauchsaufarbeitung

Ein Jahr nach Gutachten: Marx bittet Opfer erneut um Entschuldigung

Veröffentlicht am 17.01.2023 um 14:19 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Vor einem Jahr sorgte das Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München und Freising für Entsetzen. Nun gab die Bistumsspitze Auskunft über die Umsetzung von Maßnahmen zur Aufarbeitung und Prävention. Kardinal Marx betonte dabei, wie wichtig die Betroffenen für den weiteren Weg seien.

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Rund ein Jahr nach Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens für die Erzdiözese München und Freising hat Kardinal Reinhard Marx die Betroffenen sexualisierter Gewalt erneut um Verzeihung gebeten. Er werde als Erzbischof für das mit den Taten verbundene Leid immer in der Verantwortung stehen und bitte nochmals um Entschuldigung, sagte Marx am Dienstag bei einer Pressekonferenz, bei der Vertreter des Erzbistums Zwischenbilanz zum Stand der Aufarbeitung zogen. "Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich, und das kann ich immer wieder verbessern", betonte der Erzbischof. In dieser Hinsicht sei immer noch mehr möglich, "aber ich bin auf dem Weg".

"Dass die Perspektive der Betroffenen anfänglich zu wenig berücksichtigt worden ist, war unser größtes Defizit", so Marx weiter. "Das müssen wir als Kirche, das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen." Der Erzbischof betonte, dass die Bedürfnisse, Belange und Impulse der Betroffenen in Sachen Aufarbeitung und Prävention entscheiden seien. "Wir wollen an der Seite der Betroffenen stehen – dass wir das in unserem Erzbistum behaupten dürfen und mit Taten belegen können, war ein Prozess und bleibt eine Aufgabe", sagte Marx. In diesem Zusammenhang bedankte er sich bei den Mitgliedern des Betroffenenbeirats sowie der Unabhängigen Aufarbeitungskommission für deren kritische und konstruktive Begleitung.

"Die Kirche ist herausgefordert, sich zu verändern"

Marx kündigte an, weiterhin zu persönlichen Gesprächen mit Missbrauchsbetroffenen bereit zu sein. Zudem bat er alle Betroffenen von Grenzverletzungen, Missbrauch und sexuellen Übergriffen durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sich bei den externen unabhängigen Ansprechpersonen zu melden.

Weiterhin unterstrich Marx die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Missbrauch auf weltkirchlicher Ebene und im Rahmen des Synodalen Wegs. Diese öffne die Möglichkeit zur Umkehr und Erneuerung. "Unbestritten kann die Aufarbeitung von Missbrauch nicht getrennt werden vom Weg der Veränderung, der Erneuerung und der Reform der Kirche", so Marx wörtlich, der zudem ankündigte, dass das Erzbistum alle Beschlüsse des Synodalen Wegs, die es selbst umsetzen könne, auch umsetzen werde. "Die Kirche ist herausgefordert, sich zu verändern." Es gehe darum, trotz allem neu ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen zu sein.

Seit Veröffentlichung des Gutachtens sind nach Angaben des Erzbistums bis Ende 2022 57 Meldungen bei den unabhängigen Ansprechpersonen für die Prüfung von Verdachtsfällen eingegangen. Dabei seien auch Hinweise zu Grenzverletzungen, die nicht in den Bereich sexuellen Missbrauchs fallen, und zu bereits bekannten Missbrauchsfällen Gegenstand gewesen.

Münchner Missbrauchsgutachten
Bild: ©picture alliance/dpa-Pool/Sven Hoppe (Archivbild)

Rund ein Jahr nach Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens sprachen die Verantwortlichen der Erzdiözese über den Stand der Dinge bei den konkreten Maßnahmen, die in Sachen Aufarbeitung und Prävention ergriffen worden sind.

Generalvikar Christoph Klingan berichtete über konkrete Schritte und Maßnahmen, die das Erzbistum in Sachen Aufarbeitung und Prävention unternommen habe und noch umsetzen werde. Dabei hob er die auf Anregung des Betroffenenbeirats erfolgte Einrichtung der Stabsstelle "Beratung und Seelsorge für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese" hervor, die im vergangenen Sommer das bereits zuvor geschaffene Angebot einer Anlauf- und Beratungsstelle verstetigt habe. Sie bestehe aus einem Team aus einem Seelsorger und zwei Psychologinnen und soll personell weiter ausgebaut werden.

Bei der Stabstelle hätten sich bislang 100 Personen gemeldet. Die meisten davon hätten der Altersgruppe zwischen 60 und 80 Jahren angehört. Bei den Gesprächen sei es nicht nur um mögliche Hilfen gegangen, sondern auch um religiöse Fragen etwa die, wo Gott zum Zeitpunkt des Missbrauchs gewesen sei. Bei der früher eingerichteten Anlauf- und Beratungsstelle sind nach Angaben des Erzbistums bis Ende 2022 316 Anrufe eingegangen. Dabei handele es sich nicht nur um Missbrauchsbetroffene, sondern auch um Angehörige oder Menschen, die das Thema aus unterschiedlichen Gründen beschäftige. Viele Anrufe stammten zudem aus anderen Bistümern.

Zahl der Ansprechpersonen erhöht

Stephanie Herrmann, die Amtschefin des Erzbischöflichen Ordinariats, wies auf den Verhaltenskodex für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hin, der im Frühjahr 2022 erlassen worden war. Dieser soll Betroffenen und Dritten erleichtern, Grenzverletzungen zu erkennen und zu benennen, sich Hilfe zu holen und sexuell übergriffigem Verhalten Einhalt zu gebieten. Daneben sei die Zahl der unabhängigen Ansprechpersonen für Betroffene von zwei auf drei erhöht worden. Diese könnten nun zwischen einem Juristen, einer Psychologin und einer Sozialpädagogin wählen.

Im Blick auf die Prävention betonten die Verantwortlichen, dass niemand im Erzbistum mehr an diesem Thema vorbeikomme. Zu den Maßnahmen zähle ein für alle Priester und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtendes E-Learning-Programm, Schulungen in den Kindertagesstätten und an den Schulen sowie die Begleitung der Entwicklung von Schutzkonzepten, zu denen jede diözesane Institution verpflichtet sei.

Die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hatte am 20. Januar 2022 ihr Gutachten zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019 vorgestellt. Das Gutachten stellte bei allen Erzbischöfen im betrachteten Zeitraum Fehlverhalten in unterschiedlichem Ausmaß fest, darunter insgesamt 42 Fälle bei noch lebenden kirchlichen Verantwortungsträgern. Die Gutachter ermittelten bei ihrer Prüfung 235 mutmaßliche Täter. Davon sind 173 Priester gewesen. Die Zahl der Geschädigten wird mit 497 angegeben. Die Anwälte der Kanzlei WSW sprachen damals von einer "Bilanz des Schreckens". (mal)