Hildegund Keul über die Fälle Rupnik und Pilz

Kunstwerke von Missbrauchstätern: Eine toxische Zumutung

Veröffentlicht am 19.02.2023 um 12:10 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Darf man noch vor dem Kunstwerk eines Missbrauchstäters beten? Soll man weiterhin Lieder singen, die ein Missbrauchstäter geschrieben hat? Für die Theologin und Religionswissenschaftlerin Hildegund Keul ist die Antwort in ihrem Gastbeitrag eindeutig.

  • Teilen:

Die Theologin und Religionswissenschaftlerin Hildegund Keul beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen zur Vulnerabilität in seinen vielfältigen Kontexten. Keul fragt sich, ob das Lied eines Missbrauchstäters im Gottesdienst noch gesungen werden kann oder darf? Oder ob man in einer Kirche vor Kunstbildern eines Missbrauchstäters – in diesem Fall die Malereien des Jesuitenpaters Pater Marko Rupnik – noch beten sollte? In einem Gastbeitrag für katholisch.de schreibt die Theologin auf, was dagegen spricht und mahnt deutlich an, dass solche Kunstwerke Betroffene erneut verletzen und sogar retraumatisieren können.

Das Lied eines Missbrauchstäters im Gottesdienst – eine Zumutung.

Der charismatische Jugendseelsorger Winfried Pilz nutzte als Präsident des Kindermissionswerks "Sternsinger" gern mit breitem Lächeln die große Bühne, auch in der Berliner Politik. Er war ein Stern am Himmel des "Neuen Geistlichen Lieds" und wurde 2019 in einem Nachruf gar als "starke Stimme für die Kinder in aller Welt" gewürdigt. Doch als er 2022 öffentlich als Missbrauchstäter – zuvor längst aktenkundig und intern mit Strafe belegt – enttarnt wurde, rückte auch sein Kassenschlager "Laudato si" ins Zwielicht. In doppeltem Sinn, für den "Monsignore" selbst und sein Lied, war es aus mit "Denn du bist wunderbar, Herr". So dachte ich zumindest. Zwei Wochen nach seinem Sturz aus großer Höhe besuchte ich – was mittlerweile aus guten Gründen selten vorkommt – einen Gottesdienst. Und welches Lied wurde schwungvoll-begeistert zur Eröffnung gesungen? "Laudato si!" An Mitsingen war gar nicht zu denken. Zorn stieg in mir auf. Das Lied eines Missbrauchstäters im Gottesdienst – eine Zumutung. Mit dem Lied standen Missbrauch und Vertuschungsgewalt im Raum und wollten diesen so schnell nicht wieder verlassen. Aber sie wurden nicht einmal mit einem klitzekleinen Wort erwähnt.

Ich frage mich, wie es in einer solchen Situation Menschen ergeht, die direkt betroffen und nicht wie ich nur professionell mit diesen Verbrechen befasst sind. Das muss furchtbar sein, erneut verletzend, vielleicht sogar retraumatisierend. Viele Menschen, die an einem Gottesdienst teilnehmen und Lieder von Pilz singen, wissen vielleicht nichts von seinen Missbrauchstaten und der anschließenden Geheimhaltung sogar der Strafauflagen. Viele Menschen, die Missbrauch und Vertuschungsgewalt zum Opfer gefallen sind, wissen es aber sehr wohl. Denn wenn sie der Kirche in aller schmerzlichen Ambivalenz verbunden bleiben, so verfolgen sie häufig die aktuellen Meldungen, beispielsweise auf der Plattform www.gottes-suche.de. Sie wissen, welches Lied erklingt, wenn "Laudato si" angestimmt wird. Mir ist kein Bistum in Deutschland bekannt, das versucht hätte, das Singen der Pilz-Lieder aktuell zu unterbinden oder zumindest das Nicht-Singen zu empfehlen.

Porträt von Winfried Pilz
Bild: ©Stefan Rueben/Kindermissionswerk

Monsignore Winfried Pilz war von 2000 bis 2010 Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger". 2022 wurde bekannt, dass er bereits 2014 aufgrund eines Missbrauchsfalls in den 1970ern mit einem kirchlichen Strafdekret belegt wurde.

Im spirituellen Raum rührt der Fall zudem an eine Wunde, die häufig übersehen wird: Der Glaube der Täter blieb vom Missbrauch unberührt; der Glaube der Überlebenden wurde in vielen Fällen zerstört und musste, wenn überhaupt gewünscht, mühsam und ohne kirchliche Unterstützung neu begründet werden. "Monsignore Pilz" war bis ans Lebensende als Priester tätig. Er konnte begeistert Interviews geben, brauchte sich in der Öffentlichkeit zeit seines Lebens nicht zu rechtfertigen und bezeichnete 2015 den gleichnamigen Titel der Papst-Enzyklika "Laudato si" als "fast die Sensation meines Lebens". Offensichtlich dient die kirchliche Ritualkompetenz noch immer den Täter:innen statt denjenigen, die der Vulneranz im System zum Opfer fallen.

Hier geht es um die spirituelle und sexuelle Vulneranz eines Priesters des Jesuitenordens

Vor ganz ähnliche und weiterführende Fragen stellt der Fall des Serientäters Pater Marko Ivan Rupnik SJ. Hier geht es um die spirituelle und sexuelle Vulneranz eines Priesters des Jesuitenordens, dem Papst Johannes Paul II. die künstlerische Ausgestaltung der Kapelle "Redemptoris Mater" im Vatikan anvertraute. Bei ihm sind es nicht Lieder, sondern farbprächtige Gemälde und hauptsächlich Mosaiken. Sie fanden weite Verbreitung und sind rund um den Globus in zahlreichen Kirchen und Kapellen, Bildungseinrichtungen, Wallfahrtszentren und Priesterseminaren anzutreffen. Rupnik soll in den 1990er Jahren mindestens neun, womöglich bis zu zwanzig Frauen spirituelle und sexuelle Gewalt angetan haben. Ob weitere Anzeigen ausstehen, beispielsweise im Umfeld des römischen "Centro Aletti", dessen Direktor er bis im Sommer 2020 war, wird sich zeigen.

Rupnik wurde 2020 wegen der "Absolution eines Komplizen" exkommuniziert – "Komplize" ist in diesem Fall absurder Weise eine Frau, die sexuelle Gewalt erlitt. Die Exkommunikation wurde jedoch sehr schnell aufgehoben, was nach Bekanntwerden zu heftigen Diskussionen führte, auch zur Rolle von Papst Franziskus. Die Missbrauchsvorwürfe wurden vom vatikanischen Dikasterium für die Glaubenslehre nicht weiter verfolgt, weil sie verjährt seien – obwohl die Verjährung in einem solch krassen, mittlerweile auch von der slowenischen Bischofskonferenz deutlich verurteilten Fall aufgehoben werden kann. Am 7. Dezember 2022 sagte der Generalobere der Gesellschaft Jesu, Pater Arturo Marcelino Sosa Abascal, in einem Interview, dass Pater Rupnik noch immer "sehr wichtige künstlerische Verpflichtungen" habe und ihnen nachkomme. Er konnte (und kann?) weiterhin reisen, predigen, Exerzitien halten, und er nahm sogar eine Ehrendoktorwürde der Päpstlichen Katholischen Universität von Paraná, Brasilien, entgegen. Auch die Privataudienz bei Papst Franziskus im Januar 2022 erschien den Verantwortlichen unproblematisch.

Bild: ©Andreas Kühlken

Hildegund Keul ist Theologin, Religionswissenschaftlerin und Germanistin an der Universität in Würzburg. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die aus der Armutsbewegung entstandene Mystik des 13. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für die Gegenwart sowie seit 2010 der Vulnerabilitätsdiskurs in seinen vielfältigen Kontexten.

Der Verdacht liegt nahe, dass der Täter geradezu unverzichtbar erschien, weil er das Ansehen des Ordens und der katholischen Kirche erhöhte und weiterhin finanziell einträglich ist. Regina Heyder spricht daher von "Erfolg als Täterstrategie". Ich frage mich, wieviel Geld die Kunstwerke Rupniks wohl eingespielt haben, und wem dieses Geld diente und noch immer dient.

Sex, Macht, Geld – die Trilogie des Grauens

Sex, Macht, Geld – die Trilogie des Grauens macht sich ans Werk. Auch hier wurden Frauen durch Bagatellisieren und Verschweigen der Gewalt erneut verwundet, um selbst keine finanziellen Einbußen und Verletzungen des Ansehens zu erleiden. Andere verwunden, um selbst nicht verwundet zu werden – das Gegenteil dessen, wofür die Inkarnation steht. Der Schutz der eigenen Gemeinschaft war häufig ein Motiv, um die Vulnerabilität der Opfer nochmals zu potenzieren. Dass dies kontraproduktiv ist, wird sich auch im Fall Rupnik zeigen. Das Verletzlichkeitsparadox tritt ein: Gerade die Schutzstrategien der Vertuschung, die den renommierten Künstler, seine charismatische Kunst und seine Ordensgemeinschaft absichern sollten, führen bei Offenlegung zu einem umso größeren, ja exponentiellen Schaden.

Der Missbrauch fand auch in einer slowenischen Ordensgemeinschaft statt, die der Täter selbst mitgegründet hatte. Damit reiht dieser sich in die unfassbare Serie von Gründern einer geistlichen Gemeinschaft ein, die über Jahrzehnte als charismatische Stars verehrt, dann aber als Missbrauchstäter enttarnt wurden. Um nur einige wenige aus der Serie zu nennen: die Brüder Thomas und Marie-Dominique Philippe, Jean Vanier, André-Marie van der Borght, Marcial Maciel, Ephraïm, und – den Forschungen von Alexandra von Teuffenbach zufolge – auch Pater Josef Kentenich, Gründer der Schönstattbewegung. Geistliche Gemeinschaften, bei denen sich alle Macht in einer Hand konzentriert; wo die Trennung von forum internum und externum missachtet wird; wo Kontakt nach außen unterbunden wird; wo Frauen keine Chance haben, sich theologische Grundkenntnisse anzueignen; wo manipulativer Machtmissbrauch an der Tagesordnung ist – solche Gemeinschaften haben eine erhöhte Anfälligkeit für spirituellen Missbrauch, der in sexuelle Gewalt mündet.

Das Besondere am Fall Rupnik ist die Frage nach dem Zusammenhang von toxischer Theologie und toxischer Kunst. Eine Überlebende, die der Missbrauch in höchste Suizidgefahr brachte, berichtet in einem Interview vom 18.12.2022 unter dem Pseudonym "Anna", dass Rupniks sexuelle Obsession "eng mit seiner Auffassung von Kunst und theologischem Denken verbunden" sei. Wie in den meisten Missbrauchsfällen, die Frauen betreffen, bahnte spiritueller und humaner Missbrauch der sexuellen Gewalt den Weg. Rupnik begründete seine vulneranten Übergriffe theologisch. So wollte er Anna und einer weiteren Frau weismachen, dass sie in einer ‚Liebe (also Sex) zu dritt‘ die Trinität nachahmen, wo die dritte Person die Beziehung der beiden anderen akzeptiert. Als inniger Marienverehrer schwärmte er die Frauen an, dass sie einen Körper haben wie Maria, die er gerade malt. Wer glaubt denn sowas? könnte man fragen. Aber Missbrauchsopfer werden von Tätern schrittweise in einen Glauben verstrickt, der die Autorität des Täters nicht mehr hinterfragen kann, weil „Gaslighting“ den Blick trübt. Hinzu kommen in einem Orden die Forderung nach Gehorsam, der als blinder Gehorsam verkauft wird, und die bedingungslose Anerkennung des Seelenführers, der angeblich den Willen Gottes kennt. Täter nutzen die menschliche Sehnsucht nach Nähe und mehr noch die christliche Sehnsucht nach intensiver Gottesbegegnung bis hin zur "unio mystica" schamlos aus.

Der Fall Rupnik zeigt gravierende Parallelen zu den mittlerweile viel besser ausgeleuchteten Missbrauchsfällen in Neuen Geistlichen Gemeinschaften Frankreichs. Die Journalistin Céline Hoyeau hatte sie über Jahre recherchiert und 2021 in einer eigenen Studie veröffentlicht, die in Kürze in deutscher Übersetzung erscheint. Bei den Brüdern Philippe und in ihrem weit verzweigten Missbrauchs-Netzwerk wurde die sexuelle Gewalt mit der "Freundschaftsliebe" des Thomas von Aquin begründet. Insbesondere die Mystik musste für eine theologische Begründung herhalten, die ganz ähnlich wie bei Rupnik erfolgte. Das ist aufschlussreich für die Kunst von Rupnik. Geht es bei seinen Werken nicht darum, die christliche Mystik ins Bild zu bringen? Die Mystik der Eucharistie, der Inkarnation, der Mariologie, und nicht zuletzt: eine Art "Mystik der Frau". Übrigens spielt auch bei Kentenich die Zugehörigkeit zum "Corpus Christi mysticum" eine besondere Rolle.

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Hoyeau fordert die Theologie nachdrücklich auf, die inneren Verbindungen zwischen Mystik, Macht und Missbrauch eingehend zu erforschen. Dies erscheint auch im Fall Rupnik notwendig. Aus Sicht der Vulnerabilitätsforschung sind hierfür die Überlegungen von Georges Bataille zum Zusammenhang von Mystik und Erotik besonders aufschlussreich. War gerade der Wider-Wille der Frauen und seine Überwindung dem Täter ein Aphrodisiakum, das durch den Genuss der Macht befeuert wurde? Aber auch die Geschlechterbilder und die männlich-klerikale Formatierung einer geheimnisvollen "Würde der Frau", wie sie Papst Johannes Paul II. betrieb, gehören auf die Agenda. Ein misogynes System, wo spirituelles Mansplaining zum Alltag gehört, erhöht die Vulnerabilität von Frauen gezielt. Hoyeau weist nach, wie im Missbrauch die Verwechselbarkeit des "himmlischen Vaters" mit dem "geistlichen Vater" greift, auf die die "Seelenführung" gründet.

Mystik, Macht und Missbrauch

Vor diesem theologisch-spirituellen Hintergrund ist die Präsenz der Werke Rupniks in vielen kirchlichen Räumen hoch problematisch. Zu fragen ist, was ein Kunstwerk des Missbrauchstäters beispielsweise im Päpstlichen Römischen Priesterseminar besagt. Dass spirituelle und sexuelle Gewalt gegen Frauen gar nicht so schlimm ist? Dass Priester sich nehmen können, was immer sie zu brauchen meinen, auch wenn sie Anderen damit Gewalt antun? Dass Missbrauch der überschwänglichen Verehrung des Künstlers keinen Abbruch tut und er sich darauf verlassen kann, weiterhin verehrt zu werden? Und falls sich niemand dort im Angesicht des Kunstwerks an dessen Missbrauchsgeschichte stört – was sagt das über die Spiritualität, die in diesen Räumen gelebt wird?

Inwiefern ist Rupniks Kunst von einer toxischen Theologie durchdrungen und in ihr begründet? Schon heute steht fest, dass das Bekanntwerden seiner Missbrauchstaten das grundlegend verändert, was der Philosoph Walter Benjamin die "Aura" eines Kunstwerks nennt. Besonders deutlich tritt diese veränderte Aura hervor, wenn Überlebende, die um die Missbrauchstaten wissen, unbedarft einen Kirchenraum betreten und überraschend mit einem Kunstwerk Rupniks konfrontiert werden. Oder wenn sie überlegen müssen, ob sie eine Kirche ungefährdet betreten können, die mit einem solchen Kunstwerk bestückt ist. Oder gar wenn sie als Überlebende von einer kirchlichen Institution eingeladen und dann in einen Raum geführt werden, wo ein Mosaik Rupniks hängt – was im Vatikan, in Rom und vielen Orten der Welt passieren kann. Erneut greift die toxische Macht dieser Kunst zu.

Offensichtlich müssen Überlebende auch heute noch damit rechnen, dass die Vulneranz des Systems auf sie zugreift, sobald sie einen Kirchenraum betreten. Nach allem, was in den letzten Jahren ans Licht gekommen ist, können Überlebende aber mit Recht erwarten, dass die Kirche von sich aus alles erkennbar-Toxische aus ihren Räumen entfernt. Das gilt in besonderem Maß für ihre spirituellen Räume. Solange Lieder von bekannten Missbrauchstätern im Gottesdienst gesungen und deren Kunstwerke weiterhin stolz präsentiert werden, sind Kirchenräume das Gegenteil eines "Safe-Place". Solche "sicheren Orte" sind für das Wohlergehen von Überlebenden entscheidend und damit auch für die Zukunft der Kirche. Wann stellt die Kirche ihre spirituellen Räume und ihre Ritualkompetenz endlich in den Dienst derer, die unter ihrer Vulneranz zu leiden hatten und noch immer von ihr getroffen werden?

Von Hildegund Keul