Heute hier, morgen dort: Wie Kirchen den Ort wechseln
Wem es in New Yorker Sommer einmal zu heiß ist, der kann zu "The Cloisters" fahren, einer mittelalterlichen Klosteranlage an der Nordspitze Manhattans. Hier kühlt es in den Kreuzgängen ab, während im Hintergrund die tiefblauen Farbtöne der gotischen Kirchenfenster geheimnisvoll funkeln. Die Magie dieses Ortes wurde oft für Film und Fernsehen aufgegriffen, unter anderem für die die Neuverfilmung der "West Side Story". Aber dann beim Blick auf die romanischen Kapitelle aus dem 11. Jahrhundert schleicht sich irgendwann ein Zweifel ein: Die europäische Besiedlung Nordamerikas begann im späten 16. Jahrhundert – da passt doch etwas nicht zusammen! Und das ist kein Einzelfall.
Die romanischen Kapitelle sind mittelalterliche Originale, aber sie gehören nicht hierher. Die zahlreichen Kreuzgänge sind Einzelteile von Klöstern vor allem aus Südfrankreich, die Anfang des 20. Jahrhunderts hierher transloziert, also versetzt wurden. Nach der Französischen Revolution waren die Klöster verlassen und wurden nicht selten zum Steinbruch, Einzelteile wurden verkauft oder abgerissen. Bisweilen waren es findige Geschäftsleute, die die alten Steine an interessierte Schwimmbäder oder US-Milliardäre verkauften, zum Beispiel Immobilienmogul John D. Rockefeller II., mit dessen Geld etwa ein Teil des Kreuzgangs des Benediktinerklosters Saint-Guilhem-le-Désert abgebaut und verschifft wurde. In New York wurde also kein originales mittelalterliches Gebäude rekonstruiert, sondern aus vielen zusammengesammelten Fragmenten etwas Neues entworfen. Mit den zahlreichen Kreuzgängen hat die Anlage von "The Cloisters" kein direktes europäisches Vorbild, sondern ist für eigene Bedürfnisse konzipiert: die Nutzung als Museum.
Auch Teile aus Deutschland haben es dorthin geschafft. So gibt es etwa den "Boppard Room", benannt nach der Stadt Boppard am Rhein und der dortigen Karmeliterkirche. Das dazugehörige Kloster wurde 1802 aufgehoben und fiel an die Stadt, die 1818 die gotischen Glasfenster ohne Blick für deren kunsthistorischen Wert verkaufte, heute sind sie in New York eingebaut und prägen die Atmosphäre des Raumes nachhaltig.
Nicht nur die Revolution
"The Cloisters" ist kein Einzelfall: Landauf, landab stehen Kirchen nicht mehr dort, wo sie eigentlich gebaut wurden. Die Folgen der Französischen Revolution sind dabei nur ein Grund. Es kommt immer wieder vor, dass ein Gebäude an seinem ursprünglichen Ort nicht erhalten werden kann. Etwa, weil es vor Ort keine Interessenten für eine Weiternutzung gibt oder dort beispielsweise eine Straße über Grundstück gebaut werden soll. Dann gilt: Translozieren oder abreißen.
Die St.-Josephs-Kapelle in Mettlach erstrahlt in altem Glanz.
Zwei eindrückliche Beispiele dafür finden sich im Westen Deutschlands. Da ist zum einen die Georgskapelle auf dem Alten Friedhof in Bonn, die keineswegs immer dort stand. Eigentlich gehörte der Bau aus dem 13. Jahrhundert zur Kommende Ramersdorf. Auch sie wurde im Zuge der Säkularisierung Privatbesitz. Nach einem Brand Anfang der 1840er Jahre plante der damalige Eigentümer, die Anlage umzubauen und im Zuge dessen die Kapelle abzureißen. Durch die Initiative des königlichen Bauinspektors Johann Claudius von Lassaulx und Unterstützung unter anderem durch Friedrich Wilhelm IV. konnte die Kapelle durch Versetzung gerettet werden.
Zum anderen steht die Kapelle St. Joseph in Mettlach auch nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort. Gebaut wurde sie 1864 für eine Schwesterngemeinschaft in Wallerfangen, die im angrenzenden Krankenhaus wirkte. Als das Krankenhaus umzog, gab es für die Kapelle keine Verwendung mehr. Eugen von Boch, damals Chef des Unternehmens Villeroy & Boch, ließ das kleine Gotteshaus Ende der 1870er Jahre abbauen und nach Mettlach bringen, in einer Krypta sollten Familienmitglieder bestattet werden. In Mettlach steht sie bis heute.
Vom Dorf ins Freilichtmuseum
Ebenfalls vom Abriss bedroht war die Kapelle im hessischen Lollar in den 1960er Jahren. Der Bau aus dem 15. Jahrhundert war lange Zeit die evangelische Kirche der Stadt, bis sich die Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Kirche baute. Nun war die Kapelle überflüssig und sollte abgerissen werden – allerdings verschwand sie nicht. Sie wurde in den Hessenpark transloziert. Das Freilichtmuseum zeigt historische Gebäude, die in der Regel aus ähnlichen Gründen hierher versetzt werden. So fand sich auch für die kleine Kirche hier ein neuer Platz. Seit 1984 steht sie im Hessenpark, an ihrem ursprünglichen Standort steht ein kleiner Brunnen.
Der Christus-Pavillon gehört heute zum Kloster Volkenroda in Thüringen.
Translozierungen sind umstritten. Einerseits sind sie in manchen Fällen der einzige Weg, Gebäude für die Nachwelt zu erhalten, eine Art letzter Ausweg also. Allerdings sind Gebäude immer für einen Kontext geschaffen , haben in einem Umfeld eine Funktion, gehen auf umliegende Häuser ein und spiegeln die Architekturgeschichte der Region wider. All dies geht nach einer Translozierung verloren. Besonders bei Kirchen ist zu beachten, dass Gebäude in den seltensten Fällen wirklich verschoben werden, vielmehr werden sie am einen Ort Teil für Teil ab- und am anderen Ort ebenso Stück für Stück wieder aufgebaut. Für Malereien ist das oft ein Todesurteil. Zudem können manche Bauteile nicht versetzt werden, manche Translozierungen sind also eher Teilrekonstuktionen. Das zeigt sich etwa auch beim Fall "The Cloisters": Bei manchen der Ursprungsbauten gibt es noch Kreuzgänge, die heute allerdings durch die Eingriffe mehr als lückenhaft sind. Andererseits stellt sich die Frage: Wären alle Ensembles ohne die "Rettungsaktionen" überhaupt noch da?
Ganz anders lief es beim thüringischen Kloster Volkenroda. Die 1131 gegründete Zisterzienserabtei war nach Reformation und DDR-Zeit baufällig bis ruinös. Nach der Wiedervereinigung gab es Pläne, die Anlage wiederzubeleben: Die Jesus-Bruderschaft aus dem hessischen Gnadenthal wollte sich dort niederlassen. Im Zuge des Wideraufbaus sollte auch die Klosterkirche wiederbelebt werden. Während dieser Überlegungen liefen gleichzeitig die Vorbereitungen für die Expo 2000 in Hannover, an der sich auch die beiden großen Kirche beteiligen wollten. Also entstand ein besonderer Plan: Der Architekt Meinhard von Gerkan entwarf den Christus-Pavillon für Hannover, dessen Zukunft nach der Weltausstellung bereits feststand: Er wurde abgebaut und ergänzt die Klosterkirche in Volkenroda. Er wurde damit einer der wenigen Fälle, in der der Ortswechsel eines Gebäudes von Anfang an eingepreist ist.
