Mainzer Studie belastet ehemaligen Bischof schwer

Lehmann und der Missbrauch: Alles für die Kirche, nichts für Opfer

Veröffentlicht am 03.03.2023 um 17:54 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Mainz ‐ Einst war Kardinal Karl Lehmann eine Lichtgestalt. Das Mainzer Missbrauchsgutachten stößt den Bischof vom Sockel: Empathisch gegenüber Tätern, gefühllos gegenüber Opfern. Obwohl er vom Ausmaß des Missbrauchs wusste, belog er die Öffentlichkeit – zum Schutz der Institution.

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"Warum soll ich mir diesen Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?" – so lässig wies Kardinal Karl Lehmann im Spiegel-Interview 2002 jeden Verdacht zurück, dass es in Deutschland ein ähnlich großes Missbrauchsproblem in der Kirche geben könnte wie in den USA. Dass ihm diese Aussage  auf die Füße fallen könnte, musste dem Mainzer Bischof damals schon bewusst gewesen sein: Dass Missbrauch ein Einzelfall ist, behauptete Lehmann zwar im Brustton der Überzeugung – mit dem Mainzer Gutachten ist nun klar: Lehmann hätte es nicht nur besser wissen können. Er wusste es besser.

Durch die Studie der Regensburger Kanzlei wird das Spiegel-Interview zum Schlüsseldokument: An ihm lässt sich detailliert aufzeigen, wie Lehmann in der Öffentlichkeit systematisch seinen eigenen Wissensstand, seine Verantwortung und die der Kirche kleingeredet hat, um das Ansehen der Institution zu verteidigen. Ganz selbstverständlich sagt der Kardinal etwa, dass die bloße Versetzung von pädophilen oder übergriffigen Tätern ein absolutes "No go" sei, und dass seit Jahren jedem bewusst sein müsse, dass man Priester, die sich verfehlt haben, nicht einfach versetzen könne. "Das ist allen Bischöfen klar" – tatsächlich hat Lehmann in seinen ersten Bischofsjahren bis 2002 selbst häufig Priester lediglich versetzt, teilweise auch ins Ausland. Noch 2005 versichert er einem ausländischen Bistum, dass ein dorthin entsandter Priester völlig unbedenklich sei. "Die nachweisliche Kenntnis von mehrfachen sexuellen Beziehungen mit Frauen sowie sexuelle Belästigung von Mädchen und Frauen aus früherem Aktenmaterial lässt dies bereits fragwürdig erscheinen", stellen die Gutachter fest.

Minutiös haben die Regensburger Anwälte 25.000 Seiten an Akten und hunderte Gespräche mit Betroffenen, Beschuldigten und Verantwortungsträgern ausgewertet. Auf über 1.100 Seiten dokumentieren sie ein System eines institutionellen Selbstschutzes, das bis ans Ende der Amtszeit Lehmanns 2017 von Empathie für Täter,  Gleichgültigkeit für Opfer und dem Abstreiten von Verantwortung geprägt war.

Betroffene traf Lehmann fast nie

Erst ab 2010, durch die Enthüllung des Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg, stellen die Anwälte ein Umsteuern in der Bistumsleitung fest – aber nicht beim Bischof selbst. Bis zuletzt schien Lehmann den Missbrauch und seine Dimension nicht ernst genommen zu haben. An Ostern 2010 wandte sich der Kardinal an die Seelsorger seines Bistums und stellte die Prioritäten klar: Man solle in den Ostergottesdiensten "das Thema" nicht verschweigen, "es aber angesichts der Wichtigkeit der tiefsten Geheimnisse unseres Glaubens in diesen Tagen nicht ungebührlich und vor allem unangemessen auszudehnen. Es gibt noch wichtigere Dinge. Gott ist größer als unser Herz." Ein Betroffener klagt darüber, dass der Bischof noch 2014 in einer Predigt von Einzelfällen gesprochen hatte.

Wahr ist, dass Lehmann wusste, dass es sich nicht nur um Einzelfälle handelt. Im Spiegel-Interview sprach er von "vielleicht drei oder vier Fällen" in seiner Amtszeit. Tatsächlich kann die Studie bis zum Zeitpunkt des Interviews 2002 zeigen, dass sich das Bistum seit dem Amtsantritt Lehmanns mit 45 Beschuldigten befasst hat. Mit Aktennotizen und Informationen aus Gesprächen machen die Autoren deutlich, dass Lehmann sich nicht eingehend mit den Fällen beschäftigten wollte. Er sei jedoch in allen Fällen informiert gewesen. Sein letzter Generalvikar Dietmar Giebelmann gibt zu Protokoll, dass Lehmann alles wusste, was auch er als Generalvikar wusste.

Dietmar Giebelmann.
Bild: ©Bistum Mainz / Feldmann (Archivbild)

Laut Lehmanns Generalvikar Dietmar Giebelmann wurde der Bischof von ihm stets über alle Missbrauchsfälle informiert. In er Öffentlichkeit gab sich der Kardinal unwissend.

Tatsächlich Einzelfälle blieben die direkten Kontakte des Bischofs mit Betroffenen: "Im gesamten Aktenbestand sind in 33 Jahren genau drei persönliche Gespräche mit Betroffenen vermerkt", heißt es in der Studie. Auch die dokumentierten schriftlichen Kontakte sind kühl bis abweisend. Als sich eine Betroffene in seiner Zeit als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) bei Lehmann mit der Bitte um Hilfe wendet, da sie sich in ihrem Bistum nicht wahrgenommen fühlt, weist er jedes Engagement für die Frau zurück. "Weder als Bischof von Mainz noch als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz habe ich das Geringste mit Ihren Forderungen zu tun", heißt es in dem Antwortschreiben, und: "Deshalb ist es auch ganz und gar unangebracht, dass Sie glauben, mir Termine setzen oder Drohungen aussprechen zu können. Dadurch verbessern Sie keineswegs den Eindruck, den ich gewinne."

Immer wieder gibt sich Lehmann nach außen als völlig unwissend. Doch die Gutachter können ihm Kenntnis nachweisen: In einem Fall schreibt er an einen Pfarrer, der zu forsch eine Entschuldigung Lehmanns für das Versagen der Kirchenleitung in einem Missbrauchsfall eingefordert hat: "Ich klage niemand an, aber ich frage mich doch: Warum habe ich denn als Bischof von niemandem in bald drei Jahrzehnten auch nur den geringsten Hinweis erhalten, dass in den Beziehungen von [Beschuldigter 511] zu jungen Menschen etwas nicht stimmt oder auch nur stimmen könnte?" Und er droht: "Sie sollten also mit Schuldvorwürfen und undifferenzierten Äußerungen sehr vorsichtig sein." Schon elf Jahre vor diesem Brief hatte Lehmann den Gesprächswunsch eines Betroffenen in dem Fall zur Kenntnis genommen und abgelehnt, der Vorgang ist umfangreich in den Akten dokumentiert.

Viel Empathie für beschuldigte Priester

Doch Lehmann konnte auch empathisch sein – wenn es um beschuldigte Priester ging. Die genießen ausweislich der Akten einen großen Vertrauensvorsprung. 1984 schreibt Lehmann an einen "sehr geehrten, lieben" Herr Diakon, der sich in Untersuchungshaft befindet: "Wir glauben Ihren Worten und schenken Ihnen Vertrauen. Dies sollen Sie auch von meiner Seite aus wissen. Viele Menschen schätzen Sie als redlichen und unbescholtenen Mann. Darum tut es mir besonders leid, dass Sie fast wehrlos Gerüchten ausgesetzt sind, die Ihnen Ihre Ehre untergraben." Wenig später wird dieser Diakon zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt, weil er unter anderem einen neunjährigen Jungen anal vergewaltigt hatte. 1997 macht Lehmann eine Aktennotiz nach einem Gespräch mit einem Beschuldigten, dem der sexuelle Missbrauch einer 15-Jährigen vorgeworfen wird: "Im Übrigen habe ich ihn mehrfach während des Gespräches nicht im Zweifel gelassen, dass ich nicht das Schlafzimmer von [Beschuldigter 547] ausspähen will. Dafür muss er Gott selbst Rechenschaft geben, wie er lebt. Aber ich muss Sorge dafür tragen, dass er sein Versprechen eines ehelosen Lebens so verwirklicht, dass die Menschen es glauben können. Es geht um die öffentliche Glaubwürdigkeit des Lebens im Zölibat."

Lehmanns  Wohlwollen hat also seine Grenzen – dann nämlich, wenn Taten für Skandale sorgen. Die seltene ungehaltene Ermahnung gegenüber einem Beschuldigten aus dem Jahr 1993 hebt weniger auf dessen Taten als auf die große mediale Öffentlichkeit ab, die sein Fall erzeugt hatte. Lehmann äußert sich in dem Schreiben zwar auch zu den Betroffenen: "Der Schaden, den Sie als Seelsorger an Menschen, die Ihnen Vertrauen geschenkt haben – weit über den Kreis der Opfer hinaus – angerichtet haben, ist sehr groß und erschreckend." Schwerer wiegt aber der Ansehensverlust: "Nicht nur der priesterliche Stand, sondern auch die Kirche hat schwer an Ansehen verloren." Hart wenn es um einen Schaden für die Kirche geht, aber nachsichtig, wenn es die Belange des Bistums nicht betrifft, charaktersiiert die Studie das Vorgehen Lehmanns.

Bischofsweihe von Karl Lehmann
Bild: ©KNA (Archivbild)

1983 weihte Kardinal Volk seinen Nachfolger Karl Lehmann zum Bischof. Beiden Bischöfen attestiert die Mainzer Studie massives Versagen im Umgang mit Missbrauch.

Typisch ist dabei das Insistieren auf eine alleinige Verantwortung des jeweiligen Täters. In diesem Fall stellt die Studie 14 Fälle von Grenzverletzungen sowie einfache, schwere und besonders schwere Straftaten in einem Zeitraum von gut 20 Jahren fest – und zeigt, dass frühe Warnungen ignoriert wurden. Schon 1972, vor der Weihe des Täters, warnten die Kommilitonen im Priesterseminar den damaligen Bischof Hermann Volk davor, ihn zu weihen. Volk wies das ungehalten zurück. In einem Antwortentwurf auf eine Beschwerde ist 1994 zu lesen, dass der Beschuldigte seine Taten "zwar als Priester unserer Kirche getan" habe, "aber nicht so 'unter dem Deckmantel der Kirche', dass damit seine Persönliche Verantwortung und Schuld in irgendeiner Weise auf die Kirche und auf mich abgewälzt werden könnte." Mehrere scharfe Zurückweisungen von Betroffenen sind dokumentiert, die von Lehmann ein Schuldeingeständnis für die Verantwortung der Institution Kirche verlangen.

Halbherziges Vorgehen

Die ergriffenen Maßnahmen zum Umgang mit Missbrauch wirken dann auch halbherzig. Öffentlich und in interner Korrespondenz betont Lehmann die Bedeutung der Leitlinien der DBK zum Umgang mit Missbrauch. In seinem eigenen Bistum legt er aber auf eine klare Umsetzung der Leitlinien keinen Wert. Schon 1993 benannte der Bischof die Barmherzigen Schwestern von Alma als Anlaufstelle für Betroffene – die Schwestern betreuten aber zugleich auch beschuldigte und verurteilte Priester. Für die Anlaufstelle können die Gutachter kein Konzept und kein Ziel feststellen. Der von Jugendverbänden und Frauenseelsorge gegründete Arbeitskreis "Sexuelle Gewalt im kirchlichen Raum" stellte nach einem Gespräch mit einer der Schwestern fest, dass weder eine spezielle Ausbildung für den Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt gegeben sei, noch überhaupt freie Kapazitäten für die Betreuung bestünden.

Die wichtigste Maßnahme für Lehmann war die Verhinderung von Anerkennungsleistungen oder gar Schadensersatzzahlungen. In seiner Kirchenzeitung schrieb der Kardinal 2010, dass er davon überhaupt nichts halte. Zum einen verneint er die institutionelle Verantwortung für individuelle Taten, zum anderen sieht er die ethische Dimension der Folgen für die Opfer nicht durch monetäre Zahlungen kompensierbar, gibt die Studie den Bischof wieder. In einem Schreiben an die DBK wird er noch deutlicher: "Eine große Verführung ist die Versuchung, begangenes Unrecht finanziell zu entschädigen. Dies darf nicht geschehen. Man darf sich überhaupt nicht auf die Diskussion einlassen", zitiert die Studie. Gerade die Kirche dürfe nicht die personale Verantwortlichkeit abschwächen und wenigstens einen Teil der Verantwortung auf eine Institution schieben. Nur selten habe der Bischof persönlich in den Umgang mit Missbrauch steuernd eingegriffen. Eine der seltenen Ausnahmen war die Anweisung, nach der Einführung von Anerkennungsleistungen die bekannten Betroffenen nicht individuell über diese Möglichkeit zu informieren. Erst spät hat Lehmann seinen prinzipiellen Widerstand abgeschwächt.

Das Mainzer Gutachten zeichnet das denkbar schlimmste Bild von Kardinal Lehmann. Der Bischof, einst als prinzipienstarke Lichtgestalt der Progressiven und einer der großen Theologen seiner Zeit geschätzt, zeigt sich als fühlloser Lügner, der alles tut, um wider besseren Wissens die Institution zu schützen – bis zuletzt. "Um der Wahrheit für die Betroffenen willen darf es keine unantastbaren Denkmäler mehr geben", sagte Lehmanns Nachfolger, Bischof Peter Kohlgraf, in einer ersten Reaktion auf die Studie. Lehmann hat sich selbst vom Sockel gestoßen.

Von Felix Neumann