Pilotstudie der Universität Zürich zu Missbrauch in der Schweiz veröffentlicht

Warum die Kirche in der Schweiz beim Missbrauch keine Ausnahme ist

Veröffentlicht am 12.09.2023 um 13:00 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Zürich ‐ Die Erkenntnisse aus der Missbrauchsstudie für die katholische Kirche in der Schweiz sind wenig überraschend – doch deshalb nicht weniger erschütternd. Auch in der Schweiz wurde der Missbrauch in der Kirche über Jahrzehnte ignoriert oder vertuscht. Und es dürften noch mehr Fälle bekannt werden.

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Der Schweizer Priester G. A. wurde zu Beginn der 1960er Jahre wegen "wiederholter und fortgesetzter Unzucht mit und vor Kindern" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Es war bereits die zweite Verurteilung des Geistlichen, der gemäß Gerichtsdokumenten mindestens 67 Kinder sexuell missbraucht hatte. Trotzdem wurde er nach seiner ersten Verurteilung weiter in der Seelsorge eingesetzt und hatte auch weiter Kontakt zu Kindern. Die Verantwortlichen in der katholischen Kirche der Schweiz versuchten stattdessen, seine Missbrauchstaten durch eine Versetzung bewusst zu verschleiern. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis erwartete G. A. eine erfolgreiche Karriere: Er wurde zum Pfarrer gewählt und konnte beinahe vierzig Jahre in verschiedenen Gemeinden wirken.

Der Fall des Priesters G. A. bildet den Auftakt des am Dienstag in Zürich veröffentlichten Berichts des Pilotprojekts zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts – und schon auf den ersten Seiten der 136 Seiten langen Untersuchung wird deutlich: Der Lebenslauf des Priesters G. A. war in der katholischen Kirche des Landes kein Einzelfall. Fälle sexuellen Missbrauchs durch katholische Kleriker und kirchliche Angestellte gab es laut dem Bericht in den vergangenen Jahrzehnten vielmehr auch in der Schweiz in großer Zahl. Diese Erkenntnis ist angesichts der inzwischen zahlreichen Studien aus anderen Ländern, etwa der bislang veröffentlichten Missbrauchsgutachten deutscher Bistümer, zwar wenig überraschend – doch deshalb nicht weniger erschütternd.

Identifizierte Fälle "um die Spitze des Eisbergs"

Wie groß diese Zahl der Missbrauchsfälle genau war und ist, vermag der Bericht – ebenso wie die deutschen Missbrauchsgutachten – allerdings nicht zu beziffern. Zwar konnten im Rahmen des von der Schweizer Bischofskonferenz, der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz und der Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz beauftragten und am Historischen Seminar der Universität Zürich durchgeführten Pilotprojekts 1.002 Fälle sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz mit 510 Beschuldigten und 921 Betroffenen in Akten identifiziert werden. Die tatsächliche Zahl der Missbrauchsfälle, der Beschuldigten und der Betroffenen dürfte allerdings deutlich höher liegen. Bei den im Rahmen der Untersuchung in den Archiven identifizierten Fällen handele es sich "zweifelsohne nur um die Spitze des Eisbergs", so die Forschenden.

„Was in diesen Jahren geschah, und ob es auch dort zu Fällen sexuellen Missbrauchs kam, bleibt mit den vorhandenen Quellen im Dunkeln.“

—  Zitat: Aus der Pilotstudie über die teilweise unklare Aktenlage am Beispiel des Priesters G. A.

Das Team um die beiden Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier benennt als Hauptgrund für die wohl hohe Dunkelziffer unter anderem eine lückenhafte Quellenlage: So hätten "längst nicht alle Fälle von sexuellem Missbrauch noch heute auffindbare Spuren in den Archiven hinterlassen". Für zwei Schweizer Bistümer etwa könne die Vernichtung von Akten belegt werden, und in den anderen Diözesen sei eine solche Vernichtung aufgrund der Bestimmungen des kanonischen Rechts ebenfalls anzunehmen. "Es ist zudem teilweise belegt, dass Meldungen von Betroffenen nicht konsequent schriftlich festgehalten wurden und dass nicht alle Meldungen Eingang in die Archive gefunden haben", heißt es in dem Bericht weiter. Schließlich sei aufgrund der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung davon auszugehen, dass nur ein kleiner Teil der Fälle sexuellen Missbrauchs überhaupt bei kirchlichen oder staatlichen Instanzen gemeldet worden sei. Dies dürfte auch mit der lange Zeit herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung der katholischen Kirche zusammenhängen. Ähnlich wie etwa in Deutschland hatte ein weitgehend geschlossenes katholisches Milieu zudem kein Interesse an Aufklärung, der Missbrauch wurde unter der Decke gehalten. Noch in den 1970er Jahren, so sagt es ein Betroffener im Bericht, war der Pfarrer als "Vertreter Gottes" für viele selbst bei schweren Vergehen unantastbar.

Mit Blick auf das Ausmaß der Lücken in den Archiven verweisen die Forschenden im Bericht erneut auf den Fall des Priesters G. A. Die gefundenen Gerichtsdokumente, die den sexuellen Missbrauch an 67 Kindern dokumentierten, bezögen sich nämlich lediglich auf einen sechsjährigen Zeitraum. G. A. habe jedoch jahrzehntelang in verschiedenen Schweizer Pfarreien gearbeitet. "Was in diesen Jahren geschah, und ob es auch dort zu Fällen sexuellen Missbrauchs kam, bleibt mit den vorhandenen Quellen im Dunkeln", so der Bericht.

Zahlreiche kirchliche Archive noch gar nicht ausgewertet

Außerdem verweisen die Forschenden darauf, dass sie im Rahmen der Untersuchung zahlreiche kirchliche Archive gar nicht ausgewertet und staatliche Archive "nur ergänzend" berücksichtigt haben. Dies allerdings lag zuvorderst an Art und Auftrag der Untersuchung, die ausdrücklich als einjähriges "Pilotprojekt" angelegt worden war. Die von Frühjahr 2022 bis Frühjahr 2023 durchgeführte Untersuchung soll nicht den Abschluss der wissenschaftlichen Untersuchung zum Missbrauch in der Schweizer Kirche bilden, sondern "eine Basis für künftige Forschung zur Geschichte sexualisierter Gewalt, die katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige seit Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz ausgeübt haben" legen. Konkret geplant ist nach Angaben von Dienstag bislang aber erst ein Folgeprojekt für die Jahre 2024-2026.

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Für dem jetzt veröffentlichten Bericht wurden gleichwohl rund zwei Dutzend Archive inner- und außerhalb der katholischen Kirche konsultiert und zehntausende Seiten an Akten zu Missbrauchsfällen gesammelt, gelesen und analysiert. "Zusätzlich wurden Dutzende Gespräche und Interviews mit Betroffenen, mit Expertinnen und Experten sowie mit kirchlichen Vertreterinnen und Vertretern geführt." Zudem seien Medienberichte zum Thema sowie zu spezifischen Fällen zusammengetragen worden. Die Dokumente aus den Recherchen sollen nach dem Willen der Forschenden der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte übergeben werden, um die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten.

Problematische Grenzüberschreitungen und schwerste Missbräuche

Laut den Forschenden wurden im Rahmen des Projekts Belege für ein großes Spektrum an Fällen sexuellen Missbrauchs gefunden – von problematischen Grenzüberschreitungen bis hin zu "schwersten, systematischen Missbräuchen". Missbrauchsfälle seien für die ganze Schweiz und den gesamten Untersuchungszeitraum belegt. Tendenziell, so der Bericht, nahm deren Zahl im Verlauf der Untersuchungsperiode aber ab, was allerdings wohl auch der zunehmenden Entkirchlichung auch in der Schweiz geschuldet sein dürfte: "Knapp 22 Prozent der ausgewerteten Fälle ereigneten sich zwischen 1950 und 1959 und über 25 Prozent zwischen 1960 und 1969. Den darauffolgenden drei Jahrzehnten konnten jeweils noch rund ein Zehntel der Fälle zugeordnet werden. Von 2000 bis 2022 fanden schließlich noch 12 Prozent der Fälle statt." Allerdings ist bekannt, dass Missbrauchsfälle oft erst Jahrzehnte später von Betroffenen gemeldet werden. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass ein beträchtlicher Teil der Fälle nach der Jahrtausendwende bislang noch gar nicht gemeldet wurde.

Von den identifizierten 510 Beschuldigten und 921 Betroffenen konnten laut dem Bericht 149 Beschuldigten zwei oder mehr Betroffene zugeordnet werden, während bei 361 Beschuldigten der sexuelle Missbrauch an einer Person nachweisbar war. In 39 Prozent der Fälle sei die betroffene Person weiblich gewesen, in 56 Prozent männlich und in 5 Prozent sei das Geschlecht aufgrund der Quellen nicht eindeutig feststellbar gewesen. Die Beschuldigten wiederum waren den Angaben zufolge bis auf wenige Ausnahmen Männer. Und weiter: "Von den Akten, die während des Pilotprojektes ausgewertet wurden, zeugten 74 Prozent von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen, wobei das gesamte Altersspektrum vertreten war: von Missbrauch an Säuglingen und vorpubertären Kindern bis hin zu postpubertären jungen Erwachsenen. 14 Prozent der Missbräuche betrafen erwachsene Personen und in 12 Prozent der Fälle war das Alter nicht eindeutig feststellbar." Mindestens jeder siebte Fall, so die Forschenden, habe also eine erwachsene Person betroffen. "Dies ist umso bedeutsamer, weil sich viele bisherige Studien zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche ausschließlich auf Minderjährige fokussierten und so einen relevanten Teil der Betroffenen nicht in den Blick nahmen", heißt es im Untersuchungsbericht.

Bild: ©olenaznakk - stock.adobe.com (Symbolbild)

Der jetzt veröffentlichte Bericht zeigt deutlich: Mit Blick auf Art und Umfang des sexuellen Missbrauchs bildet die katholische Kirche in der Schweiz im internationalen Vergleich keine Ausnahme.

Mit Blick auf die Orte, an denen es zu Missbrauchsfällen im Raum der Kirche kam, führt das Forscherteam im Bericht drei "soziale Räume" auf: Die Pastoral, das Umfeld des sozialkaritativen und pädagogischen Engagements der Kirche sowie die Ordens- und ähnlichen Glaubensgemeinschaften. Allerdings seien Räume in der Pastoral – konkret Beichtgespräche, der Ministrantendienst und der Religionsunterricht – mit mehr als 50 Prozent der identifizierten Fälle mit Abstand der häufigste Raum für Missbrauch gewesen. Als zweithäufigste Tatorte nennt der Bericht katholische Heime, Schulen, Internate und ähnliche Anstalten (30 Prozent). Die bislang veröffentlichten Missbrauchsgutachten für deutsche Bistümer hatten mit Blick auf den Raum der Pastoral als Tatort ähnliche Ergebnisse hervorgebracht.

Größere Macht der Laien hat nicht zu weniger Missbrauch geführt

Was den Umgang der Kirche mit Beschuldigten angeht, zeigt der Bericht ebenfalls ähnliche Muster auf, wie sie auch schon in anderen Missbrauchsgutachten aufgedeckt wurden und wie sie beim Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland als "systemische Ursachen" des Missbrauchs thematisiert wurden. Demnach haben kirchliche Verantwortungsträger beschuldigte und überführte Kleriker systematisch versetzt, mitunter auch ins Ausland, um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden und einen weiteren Einsatz der Kleriker zu ermöglichen. Dabei seien die Interessen der Kirche und ihrer Würdenträger über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern gestellt worden. Immerhin: Für die Zeit seit der Jahrtausendwende stellten die Forschenden eine Veränderung zum Positiven fest. So habe die Schweizer Bischofskonferenz inzwischen Richtlinien zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs sowie zu deren Prävention erlassen sowie diözesane Fachgremien gegründet, die sich mit gemeldeten Fällen befassen sollten. Diese Gremien weichen nach Ansicht der Forschenden jedoch in ihrer Arbeitsweise bis heute deutlich voneinander ab und sind unterschiedlich stark professionalisiert.

Der jetzt veröffentlichte Bericht zeigt deutlich: Mit Blick auf Art und Umfang des sexuellen Missbrauchs bildet die katholische Kirche in der Schweiz im internationalen Vergleich keine Ausnahme. Der Bericht deckt identische systemische Ursachen für den Missbrauch und einen identischen Umgang der Kirchenoberen mit den Taten auf wie auch in anderen Ländern – insofern liefert die Studie keine wirklich neuen Erkenntnisse. Neu und überraschend ist höchstens, dass die traditionell größere Macht der Laien im dualen Schweizer System nicht zu weniger Missbrauch oder einem strengerem Umgang mit den Tätern geführt hat. Klerikalismus, so schrieb es am Dienstag der anerkannte kirchliche Missbrauchsexperte Pater Hans Zollner in einem Kommentar zur Pilotstudie, sei also kein Phänomen, das nur Klerikern vorbehalten sei. Bei "fortschrittlichen" Pfarreien, Diözesen und Bischöfen hätten die gleichen Mechanismen wie bei "konservativen" verhindert, den Missbrauch zu unterbinden und den Täter zu stellen.

Von Steffen Zimmermann