Barbara Haslbeck über neue DBK-Arbeitshilfe "Missbrauch geistlicher Autorität"

Theologin: Endlich ist Problem des spirituellen Missbrauchs "Chefsache"

Veröffentlicht am 09.10.2023 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 
Theologin: Endlich ist Problem des spirituellen Missbrauchs "Chefsache"
Bild: © privat

Bonn ‐ Die Theologin Barbara Haslbeck forscht zu Gewalt an Erwachsenen in der Kirche. Im Interview mit katholisch.de nimmt sie Stellung zur neuen Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz zum "Missbrauch geistlicher Autorität" und erklärt, wie es zu geistlichem Missbrauch kommen kann.

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Die Theologin Barbara Haslbeck ist Beraterin bei der Anlaufstelle für Frauen, die im kirchlichen Raum spirituellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt erfahren haben. Haslbeck forscht auch an der Universität Regensburg zu spirituellem Missbrauch. Sie hat die neue Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz, die bei der jüngsten Vollversammlung der Bischöfe in Wiesbaden vorgestellt wurde, mit Spannung erwartet. Im Interview mit katholisch.de spricht sie darüber, was sie daran gut und gleichzeitig bedenklich findet und welche Konsequenzen nun daraus hinsichtlich der Ausbildung von Klerikern und geistlichen Begleiterinnen und Begleitern zu ziehen sind. 

Frage: Frau Haslbeck, wie bewerten Sie die Arbeitshilfe "Missbrauch geistlicher Autorität - Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch" – und was ist aus Ihrer Sicht das Neue daran?

Haslbeck: Ich habe die Arbeitshilfe mit Spannung erwartet. Das Neue daran ist: Endlich gibt es klare Regelungen von Seiten der Bischofskonferenz. Das Problem des spirituellen Missbrauchs wurde zur "Chefsache". Aber das Thema ist nicht neu. Lange schon berichten Menschen, wie sie in seelsorglichen Beziehungen und religiösen Gemeinschaften manipuliert, entwertet und abhängig gemacht wurden. Nun gibt es Begrifflichkeiten und Regelungen für das Phänomen für alle Diözesen – auch für die, die noch wenig Sensibilität dafür haben. Die Arbeitsgruppe, die die Arbeitshilfe erstellt hat, hat Jahre daran geschrieben. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr die Thematik herausfordert und zu Kontroversen führt. Bischof Heinrich Timmerevers spricht im Vorwort davon, dass die Arbeitshilfe nach drei Jahren überprüft werden soll. Das ist wirklich "work in progress", eingebettet in einen dynamischen Erkenntnisprozess.

Frage: Was gefällt Ihnen an der Arbeitshilfe und was halten Sie für schwierig?

Haslbeck: Mir gefällt an der Arbeitshilfe, dass sie von den Erfahrungen Betroffener ausgeht. Sechs Seiten lang werden Fragen formuliert, die im kirchlichen Kontext von Verantwortungsträgern, geistlichen Gemeinschaften oder Einzelnen zu überprüfen sind. Etwa, ob in der geistlichen Begleitung Druck aufgebaut wird, ob Mitglieder einer Gemeinschaft sozial isoliert werden oder ob Kritik an der Führung möglich ist. All das sind Indizien für spirituellen Missbrauch, die von Betroffenen geschildert wurden. Damit geht die Arbeitshilfe von den Erfahrungen der Betroffenen aus. Was ich hingegen schwierig finde, ist ein Grundproblem, das im Thema selbst liegt: Spiritueller Missbrauch ist weder kirchenrechtlich noch im staatlichen Recht beschrieben. Deshalb bleibt das Allermeiste auf der Ebene des "guten Willens". Da, wo die Leitung einer Gemeinschaft oder eines Bistums ein Geschehen nicht als missbräuchlich einstuft, fehlen Instrumente, um zu sanktionieren. Die in der Arbeitshilfe angesprochenen Anforderungen für die Prävention und Intervention spirituellen Missbrauchs wirken sehr handlungspraktisch, jedoch zeigt sich im konkreten Fall für Betroffene und deren Unterstützungssystem schnell, wie wenig sie erreichen können, weil es keine rechtlichen Regelungen und damit verbundene Ansprüche gibt.

Exemplare der Arbeitshilfe "Missbrauch geistlicher Autorität - Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch"
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Exemplare der Arbeitshilfe "Missbrauch geistlicher Autorität - Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch" liegen aus bei einem Pressegespräch während der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) am 26. September 2023 in Wiesbaden.

Frage: Sie gehören zu den Beraterinnen der "Anlaufstelle gegen Gewalt in der Kirche", die von der Bischofskonferenz vor etwa drei Jahren gestartet wurde. In der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Arbeitshilfe wurde gesagt, dass bisher etwa 100 Frauen beraten wurden. Sind das für drei Jahre nicht wenige?

Haslbeck: Ich finde 100 Personen nicht wenig. Jede einzelne ist eine zu viel! Natürlich handelt es sich bei dieser Zahl um die Spitze des Eisbergs, ähnlich wie das Harald Dreßing bei der Veröffentlichung der MHG-Studie vor fünf Jahren zu den Betroffenen sexuellen Missbrauchs gesagt hat. Hinter jeder einzelnen Frau stehen zahllose andere Betroffene. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. An die Anlaufstelle wenden sich aber Frauen und Männer, die als Erwachsene in der Kirche Missbrauch in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen erfahren haben. Beim Thema Missbrauch an Erwachsenen in der Kirche sind wir noch am Anfang. Bisher waren vor allem Kinder und Jugendliche im Blick. Für die Ratsuchenden bedeutet die Kontaktaufnahme vielfach große Überwindung. Sie haben verinnerlicht, dass ihr Problem nicht der Rede wert ist, dass ihre Wahrnehmung nicht zählt. Es dauert lange, bis sich Betroffene trotz dieser inneren Widerstände und den damit verbundenen Schamgefühlen melden. Die Beratung läuft in der Regel über einen längeren Zeitraum, weil es Ratsuchenden wichtig ist, das Geschehene zu verstehen und mit dem erfahrenen Leid anerkannt zu werden. Am wichtigsten ist, dass Betroffene erfahren: Ich bestimme wieder selbst über mein Leben.

Frage: Bei körperlichen Übergriffen gibt es eine große Bandbreite von der Belästigung bis hin zur Vergewaltigung. Gibt es das auch beim geistlichen Missbrauch? Wo fängt der Missbrauch an? Was sind Extremfälle?

Haslbeck: Mit spirituellem Missbrauch ist es genauso wie bei sexuellem Missbrauch: Er bahnt sich an. Da gibt es einen Geistlichen, eine Oberin, eine Gemeinschaft, die anziehend wirken und das Gefühl vermitteln "Du bist mir wichtig. Wir brauchen dich. Gott hat etwas Besonderes mit dir vor." Wir nennen das auch "love bombing". Gerade unter jungen Menschen investieren charismatische Gemeinschaften viel in die Rekrutierung neuer Mitglieder. Das fasziniert Menschen, sie fühlen sich wie verliebt und sind bereit, für den Glauben alles zu geben. Sie lernen, ihrer Wahrnehmung nicht zu trauen und schalten Zweifel aus. Spätestens an diesem Punkt wird es gefährlich für Menschen. Schritt für Schritt vereinnahmt die spirituelle Welt die betroffene Person. Soziale Kontakte nach außen werden weniger und spirituelle Übungen nehmen viel Zeit in Anspruch und führen zu Überlastung. So kapert die spirituelle Beeinflussung das Denken einer Person. Stark ausgeprägte spirituelle Gewalt formt regelrecht die innere Welt einer Person um. Manipulativ verwendete Bibelsätze und fromme Ideale wirken sich zerstörerisch auf das Innerste aus. In einem kürzlich veröffentlichten Buch berichten 18 Frauen von spirituellem Missbrauch. Der Titel des Buches sagt, was der Missbrauch bewirkt: Selbstverlust und Gottentfremdung.

Frage: Hängen sexueller und spiritueller Missbrauch zusammen?

Haslbeck: Oft bereitet spiritueller Missbrauch den sexuellen Missbrauch vor. Es gibt aber auch spirituellen Missbrauch als eigenes Vergehen, das erst langsam in der Kirchenöffentlichkeit wahrgenommen wird. Mir fällt auf, dass bei spirituellem Missbrauch Frauen als Täterinnen stärker vorkommen. Oft ist die spirituelle Indoktrination dann mit narzisstischen Wünschen und inkompetenter Leitungsfähigkeit von Führungspersonen in Orden und Gemeinschaften verbunden. Ich beobachte auch geschlechtsspezifische Faktoren, wenn insbesondere in Frauengemeinschaften kirchliche Ideale wie Gehorsam, Hingabe, Reinheit, Selbstaufgabe, Demut und die Aufopferung von Leid den Interpretationsrahmen für spiritualisierte Machtausübung bieten. Über die Täterin hinaus steht damit ein ganzes System in Frage.

„Dieses "victim blaming", also das Nicht-ernst-nehmen der Betroffenen, kennen wir ja bereits von der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch.“

—  Zitat: Barbara Haslbeck

Frage: Können Sie von einem Beispiel berichten, das Sie besonders erschreckt hat?

Haslbeck: Im Buch "Selbstverlust und Gottentfremdung" beschreibt Victoria Gabriel – das ist ein Pseudonym –, wie sie in einer Jugendgruppe einen Pater kennenlernt, der sie über 15 Jahre spirituell manipuliert und sie total abhängig von ihm macht. Aus der lebenslustigen Jugendlichen wurde ein ängstlicher und kraftloser Mensch. Sie musste ständig beichten und wurde vom Pater per WhatsApp durchgehend überwacht. Was mich besonders erschüttert hat, ist ihre Formulierung, wie es sich angefühlt hat, wenn eine seiner Nachrichten auf ihrem Handy ankam: "Als hätte man mir Eis in den Magen geschüttet, gemischt mit Betäubungsmittel. Ich war dann wie erstarrt." Da werden spirituelle Inhalte durch einen Geistlichen wirklich als Waffe genutzt.

Frage: Neben der Anlaufstelle der Bischofskonferenz gibt es das neue Institut für Ordensrecht in Dinklage. Dort werden vor allem Ordensfrauen beraten, die benachteiligt oder missbraucht wurden. Arbeiten Sie zusammen?

Haslbeck: Ja, wir arbeiten zusammen. Es ist sehr erfreulich, dass die Benediktinerinnen in Dinklage dieses Institut eröffnet haben. Betroffene brauchen oft sehr konkrete rechtliche Auskünfte, deshalb sind auch im Team der Anlaufstelle Kirchenrechtlerinnen und eine Juristin. Die Kolleginnen im Institut für Ordensrecht arbeiten mit hoher Kompetenz und leisten kirchenrechtliche Beratung von Ordensfrauen für Ordensfrauen, übrigens nicht nur in Missbrauchsfragen. Das stärkt Betroffene, die oft erleben, dass sie von Kirchenmännern nicht ausreichend ernst genommen werden.

Frage: Welche Konsequenzen sind aus der Arbeitshilfe hinsichtlich der Ausbildung von geistlichen Begleiterinnen und Begleitern, Klerikern und Ordensleuten zu ziehen?

Haslbeck: Die zentrale Herausforderung besteht darin, in der Ausbildung über spirituelle Selbstbestimmung zu diskutieren. Was dient dem Reifen und Wachsen im Glauben, für die Seelsorgenden ebenso wie für die Menschen, die sie begleiten? Sie müssen begreifen, welch kostbares Gut ihnen anvertraut und wie groß ihre Verantwortung ist. In Fortbildungen mit Geistlichen Begleiterinnen und Begleitern erlebe ich dafür viel Aufgeschlossenheit. Manchmal begegnen mir auch Klischees über Opfer von spirituellem Missbrauch: Dass das abhängige und schwierige Persönlichkeiten seien, dass sie als Erwachsene doch früher begreifen hätten müssen, dass sie manipuliert werden, dass sie früher hätten gehen sollen. Dieses "victim blaming", also das Nicht-ernst-nehmen der Betroffenen, kennen wir ja bereits von der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, damit Seelsorgerinnen und Seelsorger Betroffene nicht erneut diskriminieren. In der Diskussion um spirituellen Missbrauch sehe ich eine große Chance für die Qualität in der Seelsorge: Seelsorgende müssen ihre Rolle reflektieren. Sie haben einen Vorsprung an Wissen und Macht und müssen damit verantwortlich umgehen.

Von Madeleine Spendier