Beraterin: "Frauen fühlen sich meist wie Marionetten"

Wie Erwachsene in der Kirche zu Missbrauchsopfern werden

Veröffentlicht am 28.02.2023 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Theologin Barbara Haslbeck ist Beraterin bei der Anlaufstelle für Frauen, die im kirchlichen Raum spirituellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt erfahren haben. Im Interview mit katholisch.de spricht sie über ihre Arbeit und sagt, was Betroffenen hilft, mit ihrem Leid umzugehen.

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Seit 2020 gibt es die Anlaufstelle für Frauen, die im kirchlichen Raum Gewalt erfahren haben. Die Theologin Barbara Haslbeck ist dort Beraterin. Bei ihr melden sich Frauen und auch Männer, die in der Kirche Missbrauch erlebt haben. Die Mechanismen von Macht zu durchbrechen, ist nur eines der Anliegen ihrer Beratung. Im Interview mit katholisch.de spricht Haslbeck darüber, welche Formen von Missbrauch an Erwachsenen es gibt und wovor Frauen in seelsorglichen Gesprächen unbedingt geschützt werden sollten.   

Frage: Frau Haslbeck, Sie sind Beraterin bei der Anlaufstelle für Frauen, die im kirchlichen Raum Gewalt erfahren haben. Warum gibt es die Anlaufstelle?

Haslbeck: 2019 fand in Deutschland erstmalig ein großes Treffen zum Thema Missbrauch an erwachsenen Frauen in der Kirche statt. Mehr als 100 Frauen kamen und berichteten von ihren Erfahrungen. Es wurde klar, dass es in den Diözesen für erwachsene Betroffene kein geeignetes Beratungsangebot gibt. Oft wurden die Frauen von einer Stelle zur anderen geschickt, um dann wieder zu hören: "Wir sind nicht zuständig." Die Betroffenen forderten eine überdiözesane Anlaufstelle, die anonym und betroffenenorientiert arbeitet. So ging die Anlaufstelle Ende 2020 an den Start. Sie ist verankert bei der Arbeitsstelle Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz.

Frage: Wer sind die Menschen, die sich bei Ihnen melden?

Haslbeck: Das Beratungsangebot richtet sich an Frauen. Hin und wieder melden sich auch Männer. Viele sind eng mit der Kirche verbunden, Hauptamtliche im kirchlichen Dienst oder engagierte Ehrenamtliche, Jüngere ebenso wie Ältere. Es melden sich Ordensfrauen, die in der geistlichen Begleitung manipuliert und missbraucht wurden oder in ihrer Gemeinschaft mobbingähnliche Erfahrungen machen. Sie fühlen sich isoliert und ausgenutzt. Sie haben oft über Jahre alles gegeben, haben im Gehorsam auf vieles verzichtet und erkennen irgendwann, dass ihr Selbst völlig zerstört wurde. Wenn sich diese Betroffenen bei uns melden, meist anonym, versuchen wir mit ihnen Schritt für Schritt zu klären, was sie erlebt haben. Sie wollen verstehen, was passiert ist, und brauchen dafür ein Gegenüber. Wichtig ist es uns, den Betroffenen zu vermitteln: "Sie sind nicht an dem Missbrauch schuld. Sie haben nicht selbst verursacht, was passiert ist. Sie sind von einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin bewusst manipuliert worden."

Frage: Von welchen Gewalterfahrungen hören Sie?

Haslbeck: Es geht in vielen Fällen um sexualisierte Gewalt. Es geht aber auch um spirituellen Missbrauch, es geht um Mobbing und Machtmissbrauch, um finanzielle Ausbeutung und auch um die Ausbeutung von Arbeitskraft. Manche sind durch ihre Erfahrungen traumatisiert und tief verletzt.

Frage: Woran erkennen Betroffene, dass sie spirituell missbraucht werden oder wurden?

Haslbeck: Nehmen wir ein Beispiel: Eine Frau steckt in einer Beziehungskrise. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, sie sucht Hilfe. Dann vertraut sie sich einem geistlichen Begleiter an, der sie in eine bestimmte Richtung drängt. Er sagt ihr: "Gott will, dass du in der Liebe bleibst und diese Beziehung weiterführst." Er nimmt ihre Erfahrungen und Gefühle nicht ernst und schwächt sie in ihrer moralischen Urteilskraft. Sie weiß nicht mehr, was richtig ist für sie. Weil sie in der Krise ist und dem Begleiter vertraut, lässt sie sich von ihm manipulieren. Im Rückblick erkennt sie, dass sie nicht frei war und die Ratschläge des Begleiters wie Gift wirkten, auch für ihren Glauben. Betroffene schildern oft, wie sehr sie sich durch die spirituelle Manipulation verwirrt und in die Ecke gedrängt fühlten. Es gibt sehr viele sehr kompetente Seelsorgerinnen und Seelsorger, aber es gibt leider auch schwarze Schafe. Sie gehen nicht seriös mit der Rolle um, die sie haben. Sie reflektieren nicht dem Machtvorsprung, den sie haben.

Barbara Haslbeck im Portrait
Bild: ©privat

Die Theologin Barbara Haslbeck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pastoraltheologie in Regensburg. Sie beschäftigt sich mit dem Thema "Gewalt an Frauen" und arbeitet derzeit an einer Studie über "Missbrauch an Ordensfrauen".

Frage: Woran erkennt man eine gute Seelsorgerin, einen guten Seelsorger?

Haslbeck: In einem guten Seelsorgegespräch können Menschen ihre Gefühle, auch widersprüchliche, thematisieren und die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten wahrnehmen. Die Seelsorgeperson befähigt dazu, den Betroffenen zu helfen, eigene Antworten zu finden. Sie ermutigt zur spirituellen Selbstbestimmung. Das Thema Sexualität darf nur angesprochen werden, wenn die begleitete Person das ausdrücklich wünscht. Und es darf in Seelsorgekontexten nie zu sexuellen Handlungen kommen.

Frage: Damit sind wir beim Thema sexueller Missbrauch in der Seelsorge. Kann man in so eine Situation nicht auch einfach hineinrutschen?

Haslbeck: Nein, man rutscht nicht zufällig in so eine Situation hinein. Das wird von dem Täter oder der Täterin ganz bewusst angezielt und vorher auch lange ausgetestet. In der Fachsprache nennt man das "Grooming", das ist die Anbahnungsstrategie. Die Täter nutzen das Vertrauen eines Menschen bewusst aus. Sie machen sich für die Person unentbehrlich. Besonders gefährdet sind Menschen, die gerade in einer Krise stecken, etwa weil sie krank oder in Trauer sind. Auch junge Menschen sind besonders verletzbar, weil sie die Sehnsucht haben, das Besondere ihres Lebens zu finden und sich dafür voll einzusetzen. Sie werden abhängig von jemanden, der ihnen vermeintlich zur Seite steht. Endlich ist da einer, der sie versteht, der sich Zeit nimmt, der für sie so etwas Besonderes ist. Das innere Warnsystem ist in so einem Fall ausgeschaltet. Der Täter nutzt Spirituelles, um die sexuellen Übergriffe anzubahnen. Etwa indem er sagt: "Ich will dir zeigen, wie wertvoll du bist" oder "Ich zeige dir die Liebe Gottes" oder "Dein Körper ist eine wunderbare Schöpfung Gottes". Der Täter deutet den Missbrauch als Liebe. Die Frau kann ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauen. Der Begleiter hat ja ihr ganzes Vertrauen, da tritt so eine Art "Guru-Effekt" auf.

Frage: Was meinen Sie mit "Guru-Effekt"?

Haslbeck: Aus den Beratungen wissen wir, dass Täter sehr charismatische Menschen sein können. Sie haben eine starke spirituelle Ausstrahlung. Sie können andere für etwas begeistern. Sie sind beliebt und nutzen das auch aus. Es gibt keine Kontrollinstrumente, mit denen solche "Gurus" überprüft werden. Seelsorge darf jeder anbieten, das ist kein geschützter Begriff. Überall dort, wo die Macht von solchen narzisstischen Seelsorgern nicht hinterfragt wird, ist es besonders gefährlich. Denn dann rutschen Menschen in die Abhängigkeit von dieser Person hinein. Zunächst fühlen sie sich auserwählt, es ist wie eine Ehre, dem Begleiter so nah sein zu dürfen. Manche beschreiben, dass sie sich wie eine Marionette fühlten. Sie reagieren nur noch auf das, was der Täter oder die Täterin von ihnen will. Sie sind wie ferngesteuert und haben das eigene Leben nicht mehr in der Hand. So werden Betroffene geschädigt. Und ich sage bewusst geschädigt, weil ihr Leben durch diesen spirituellen oder sexuellen Missbrauch nachhaltig Schaden erleidet.

Doris Wagner
Bild: ©Privat

Zum Beraterteam der Anlaufstelle gehört auch die Theologin und Philosophin Doris Reisinger, die als Erwachsene geistlichen und sexuellen Missbrauch erlebt hat. Sie hat ihre Erfahrungen in dem Buch "Nicht mehr ich" aufgeschrieben.

Frage: Helfen Sie auch dabei, den Täter anzuzeigen oder strafrechtlich zu verfolgen?

Haslbeck: Am Wichtigsten ist die Frage an die betroffene Person, was sie sich wünscht. Wenn es ihr hilft, den Täter anzuzeigen, dann unterstützen wir sie dabei. Wir haben im Team mehrere Kirchenrechtlerinnen und eine Juristin, die die rechtliche Situation aufzeigen. Leider ist es aber so, dass so eine Anzeige oft im Sand verläuft. Die Aussage eines Erwachsenen steht gegen die Aussage eines anderen Erwachsenen. Auch kirchenrechtlich gibt es für den Missbrauch an Erwachsenen nur wenige Regelungen. Für Betroffene ist ein Verfahren in der Regel extrem schwer auszuhalten. Sie müssen stundenlange Aussagen machen und ihre Glaubwürdigkeit wird überprüft. Oft wirkt das erneut wie ein Trauma. Viele der Betroffenen sind bereits älter und der Missbrauch liegt schon lange zurück. Das liegt daran, dass sie sich oft erst spät in ihrem Leben damit auseinandersetzen. Der Täter ist dann häufig bereits verstorben. Ich habe selten Kontakt mit Menschen, die akut vom Missbrauch betroffen sind.

Frage: Wäre es nicht gut, wenn die Täter eine Strafe bekommen würden für das, was sie gemacht haben?

Haslbeck: Ich bin nicht zuständig für Strafen, zum Glück, das würde mich überfordern. Als Beraterin geht es mir um die Situation der betroffenen Frauen. In der Anlaufstelle geht es uns vor allem darum, dass die Betroffenen, die sich bei uns melden, eine Ermutigung erfahren, die Lösung selbst zu suchen. Sie sollen das tun, was ihnen hilft. Wir wollen sie stärken und stehen kompromisslos an ihrer Seite. Im Team der Beraterinnen und Berater sind wir selbst in Supervision und reflektieren unsere Standards und die Qualität der Beratung.

Frage: Ist es ein Ziel Ihrer Beratungen, dass sich die Betroffenen eines Tages mit dem Täter aussöhnen?

Haslbeck: Nein. Einer Betroffenen zu sagen: "Jetzt ist es doch mal gut. Reichen Sie Ihrem Täter doch die Hand und verzeihen Sie", ist keine gute Lösung. Christliche Frauen denken oft, sie müssten ihrem Täter vergeben. Ich finde, ein Missbrauchsopfer muss niemandem etwas vergeben. Es geht darum, sich selbst zu vergeben, Opfer geworden zu sein. Selten ist es für Betroffene sinnvoll, sich mit einem Täter zu treffen. Ich rate davon ab. Manche haben eine richtige Wut auf die Kirche und ihre Verantwortlichen. Sie wenden sich ab. Und manche sprechen gar nicht über ihr Trauma. Betroffene dürfen selbst entscheiden, wie sie mit ihren Erfahrungen umgehen. Leider müssen sie immer damit rechnen, als Opfer diskriminiert zu werden. Das heißt, wenn eine sich anderen öffnet und ihre Verletzungen zu erkennen gibt, muss sie damit rechnen, von anderen deshalb nicht ernst genommen zu werden oder einen Opferstempel aufgedrückt zu bekommen. Ich erlebe, dass es für Betroffene hilfreich sein kann, mit anderen Betroffenen Erfahrungen auszutauschen. Wir haben erst kürzlich ein Treffen von Frauen organisiert, die als Erwachsene Missbrauch durch Kirchenleute erlebt haben. Die Frauen reagierten sehr positiv. Sie tauschten sich aus, sie stärkten sich gegenseitig. Eine sagte: "Ich kann mit dem Missbrauch leben". Solche Sätze ermutigen auch die anderen, weil sie sehen: "Ich bin nicht die einzige, der so etwas passiert ist".

Frage: Wäre es ein Erfolg für Ihre Arbeit, wenn sich der Täter bei Betroffenen entschuldigt oder sogar sein Unrecht zugibt?

Haslbeck: Natürlich wäre es hilfreich, wenn ein Täter zu seinem Opfer sagt: "Ich habe Schuld auf mich geladen und ich bitte um Vergebung für das, was ich getan habe". Nur, ich habe es noch nie erlebt.

Frage: Was wünschen Sie sich?

Haslbeck: Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, die Frauen in der Seelsorge schützen. Deshalb fordere ich, sexuellen Missbrauch in Seelsorgebeziehungen als Erweiterung in den § 174c des Strafgesetzbuches aufzunehmen. Sexuelle Handlungen innerhalb von Seelsorgeverhältnissen sind unter Strafe zu stellen.

Von Madeleine Spendier

Anlaufstelle für Frauen, die Gewalterfahrung in der Kirche gemacht haben

Über die Internetseite der Anlaufstelle für Frauen, die Gewalterfahrungen in der Kirche gemacht haben, können Betroffene Hilfe erhalten. Auch ein anonymer Kontakt ist möglich.