30 bis 50 Prozent der Gemeindemitglieder seien AfD-affin

Ostdeutscher Theologe: Rechte Ansichten unter Christen weit verbreitet

Veröffentlicht am 11.10.2023 um 11:44 Uhr – Lesedauer: 

Wien ‐ Man müsse davon ausgehen, dass vielerorts 30 bis 50 Prozent der Gemeindeglieder AfD wählten oder AfD-affin seien: Nach Meinung des Theologen Michael Haspel sind rechte Ansichten in Mitteldeutschland auch unter Kirchenmitgliedern weit verbreitet.

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Nach Ansicht des evangelischen Theologen Michael Haspel sind rechtspopulistische und rechtsextreme Ansichten mindestens in Mitteldeutschland auch unter Kirchenmitgliedern weit verbreitet. "Angesichtes der Wahlergebnisse bei der Bundestagswahl 2021, bei der in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 16 Direktmandate an die AfD gegangen sind, und den Prognosen für die Landtagswahlen vor allem in Thüringen und Sachsen im Herbst 2024 müssen wir davon ausgehen, dass in den ländlichen Bereichen der Kirchen in Mitteldeutschland vielerorts 30 bis 50 Prozent der Gemeindeglieder AfD wählen oder AfD-affin sind", schreibt Haspel in einem am Mittwoch veröffentlichten Beitrag für das Internetportal feinschwarz.net.

Deshalb gingen die derzeit diskutierten Fragen, ob die Kirchen mit der AfD reden sollten oder AfD-Mitglieder kirchliche Ehrenämter übernehmen dürften, am eigentlichen Problem vorbei, so der Theologe. Sie gingen nämlich von einer Innen-Außen-Unterscheidung – hier die Kirche, dort die Rechtspopulisten und Rechtsextremen – aus, die zumindest für die Kirchen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nicht mehr zutreffend sei. "Gab es früher, etwa zu den Zeiten, als die NPD in einigen Landtagen saß, noch geringfügige Unterschiede bei Einstellungen und Wahlverhalten von Kirchengliedern und dem Rest der Bevölkerung, sind diese Differenzen hinsichtlich des Rechtspopulismus und der AfD weitgehend nivelliert", so Haspel.

"Kann man mit fremden- und demokratiefeindlichen Menschen Kirche sein?"

Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Zustimmungswerte der Gesamtbevölkerung für die AfD in etwa auch die der Kirchenglieder seien. "Ob das bei ehrenamtlich Engagierten, Kirchenältesten, Kerngemeinde und Hauptamtlichen anders ist, bleibt zu hoffen – zuverlässige Zahlen dazu gibt es nicht", betont der in Erfurt und Jena lehrende Theologe. Nach neueren Untersuchungen sei nicht die Kirchenmitgliedschaft, sondern die Form der Religiosität dafür entscheidend, ob jemand für rechte Positionen empfänglich sei oder nicht.

Pegida-Demo in Dresden
Bild: ©picture alliance/AP Photo/Jens Meyer (Archivbild)

"Kann man mit fremden-, frauen-, demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Menschen Kirche sein?", fragt Haspel in seinem Text.

Haspel berichtet in seinem Text unter anderem von Kirchenältesten, die sich weigerten, ein Friedensgebet für die Ukraine abzuhalten, sowie von aktiven Gemeindegliedern, die in Telegramgruppen, in denen teilweise auch Pfarrpersonen Mitglieder seien, fremdenfeindliche, frauenfeindliche, homo- und transphobe, antisemitische und islamophobe Memes teilten und entsprechend kommentierten. Zudem gebe es Kirchenkreise, die sich nicht daran störten, dass AfD-Funktionäre kirchliche Leitungsämter wahrnähmen, sowie Kirchenmitglieder, die auf Corona-Demonstrationen Schulter an Schulter mit Rechtsradikalen und Verschwörungsideologen marschiert seien. "Das sind natürlich Einzelfälle, die ich persönlich kenne; aber die Reaktionen in meinem weiteren Umfeld deuten darauf hin, dass dies nicht singulär ist, sondern die Spitze des Eisberges", so der Theologe.

Haspel fragt weiter, was es für die Kirche bedeute, wenn 30 bis 50 Prozent der Menschen in den Gemeinden rechtspopulistische und rechtsextremistische Einstellungen hätten, die den christlichen Grundüberzeugungen widersprächen. "Kann man mit fremden-, frauen-, demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Menschen Kirche sein? Das Erstaunliche ist, dass darüber in den Kirchen weitgehend geschwiegen wird", schreibt der Theologe. Dies sei nicht nur ein politisches und ethisches, sondern auch ein ekklesiologisches Problem.

"Wir haben ein Problem. Das ist groß und braun"

Der Theologe wirft den Kirchen vor, das Problem wie die Gesellschaft insgesamt weitgehend zu ignorieren: "Das ist das wirklich Schlimme: Es ist der Neuen Rechten in Teilen Ostdeutschlands gelungen, Fremden- und Demokratiefeindlichkeit, Anti-Feminismus und Gender-Kritik sowie Klimakatastrophenleugnung in Form des Ressentiments sowie abstruser Verschwörungsmythen und Rassismus als ‚normal‘ erscheinen zu lassen. Auf Tabubrüche erfolgt keine öffentliche oder kirchliche Reaktion mehr."

Haspel ruft die Kirchen in seinem Text dennoch dazu auf, das Problem zu benennen. Sie sollten laut und deutlich sagen, "Wir haben ein Problem. Das ist groß und braun. Das ist nicht nur draußen vor der Kirchentür, sondern auch in der Kirche. Das wäre ein großer Schritt." Es reiche nicht, Verlautbarungen zu verabschieden und Arbeitshilfen online zu stellen. Vielmehr bedürfe es einer Aktivierung in den Kirchenkreisen und Gemeinden. Dafür seien jedoch erhebliche Ressourcen notwendig, die in den gegenwärtigen Haushalten der Kirchen nur durch Priorisierung zu mobilisieren seien. Das aber sei nötig, denn es gehe radikal um das Kirchesein der Kirche. "Rechtspopulismus und Rechtsextremismus bestreiten den Kern der christlichen Botschaft: Dass die befreiende Liebe Gottes in Jesu allen Menschen gilt", so Haspel. Wo dies bestritten werde, könnten Christen nicht neutral sein. (stz)