Dogmatiker Tück sieht Projekt der evangelischen Kirche kritisch

Der KI-Luther zum Reformationstag ist innovativ, aber riskant

Veröffentlicht am 31.10.2023 um 00:01 Uhr – Von Jan-Heiner Tück – Lesedauer: 
Debatte

Wien ‐ Die Künstliche Intelligenz (KI) hat auch die Kirchen erreicht. Anlässlich des Reformationstags hat die evangelische Kirche im Rheinland ein KI-gestütztes Gespräch mit Martin Luther angekündigt. Warum das Risiken birgt, erklärt der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück in seinem Gastbeitrag.

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Längst dringen die Algorithmen auch in die Sphäre der Religion ein. Schon hat es Predigtexperimente mit KI-Avataren gegeben mit ernüchterndem Ergebnis: "Herzlos" und "langweilig" sei es gewesen, meinten im Anschluss daran Gläubige, die dabei gewesen sind. Nun hat die evangelische Kirche im Rheinland für den Reformationstag ein KI-gestütztes Gespräch mit Martin Luther angekündigt. Ein Avatar, der nach einem Gemälde des deutschen Reformators in einem dreidimensionalen Modell auftreten wird, soll Luther für heutige Zeitgenossen im O-Ton erlebbar machen. Ein innovatives Projekt, könnte man meinen, das vor allem die Generation der eher kirchendistanzierten "digital natives" ansprechen soll. Man könnte aber auch fragen, ob durch diese Aktion der Bedeutungsverlust der Kirche und das rückläufige Interesse an protestantischer Theologie durch künstliche Intelligenz kompensiert werden soll.

Das innovative Experiment wird gewiss Aufmerksamkeit finden und vielleicht auch wichtige Impulse der Theologie Luthers in Erinnerung rufen. Seine sprachmächtige Übersetzung der Heiligen Schrift etwa oder seine Betonung des sola-scriptura-Prinzips als Maßstab für die Erneuerung der Kirche, seine scharfe Kritik am Ablasswesen der spätmittelalterlichen Kirche, seine Absage an das römische Papsttum, seine Betonung der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glaube, nicht aufgrund von Werken – das alles mag das KI-gesteuerte Gespräch mit dem Luther-Avatar neu ins Bewusstsein bringen.

Allerdings birgt das Projekt der evangelischen Kirche im Rheinland auch erhebliche Risiken. Wenn die KI ungefiltert Luthers Theologie in seiner teils drastischen Rhetorik wiedergibt, sind gesellschaftliche Irritationseffekte vorprogrammiert. Statt Luthers Aussagen historisch zu kontextualisieren und den garstig breiten Graben zwischen dem 16. Jahrhundert und den heutigen Lebenswelten durch eine hermeneutische Theologie zu überbrücken, werden Zeitgenossen – teils ohne Vorkenntnisse – unmittelbar mit dem Luther-Avatar ins Gespräch gezogen.

Bild: ©Privat

Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Wien.

Dieser unhistorische Zugang lässt nicht nur spätmittelalterliche und spätmoderne Überzeugungen aufeinanderstoßen, er birgt auch semantisches Dynamit, was das exklusive religiöse Wahrheitsverständnis und insbesondere Luthers Verhältnis zu Judentum und Islam anlangt. Während spätmoderne Gesellschaften an einer friedlichen Koexistenz der Religionen interessiert sind, dominiert an der Schwelle zur Neuzeit die polemische Abgrenzung gegen Anders- und Ungläubige. So ist die Judenfeindschaft des Reformators sprichwörtlich. Nachdem er anfänglich die Hoffnung hegte, dass seine bibelzentrierte Theologie auch Juden zum Übertritt bewegen könne, hat sich der späte Luther in wüste Tiraden gegen die mosaische Gesetzesreligion verrannt und sogar zu Pogromen und Synagogenverbrennungen aufgerufen. Antijüdische Klischees des Mittelalters hat er aufgenommen und in erschreckender Weise verstärkt.

Auch seine Haltung gegenüber dem Islam ist gelinde gesagt unfreundlich. In seiner Schrift "Vom Kriege wider die Türken" (1529) und anderen Anti-Islam-Schriften hat er das Vorrücken der "Sarazenen" als Strafe Gottes für unbußfertige Christen, ja als Satans Werk bezeichnet. Solche Aussagen, welche im kollektiven Gedächtnis der Deutschen lange auf ungute Weise nachgehallt haben, sind von der akademischen Theologie, aber auch von der Evangelischen Kirche längst selbstkritisch aufgearbeitet worden. Ohne historische Einordnung aber kann die antijüdische und antiislamische Polemik des Wittenberger Reformators heute leicht von rechten Parteien instrumentalisiert werden.

Würde Luther vor KI warnen?

All das – historische Einordnung, zeitsensible Aktualisierung – kann ChatGPT auch, könnten KI-Freaks dazwischenrufen. Aber Luther wäre nicht mehr Luther, "die Inkarnation des deutschen Wesens", der "stiernackige Gottesbarbar" (Thomas Mann), das feinsinnige Sprachereignis, sondern ein domestiziertes Kunst-Produkt, das durch den Filter kritischer Gelehrsamkeit hindurchgegangen ist und daher lediglich korrekte Phrasen ausspuckt. Außerdem: Würde Luther selbst nicht vor einer neuen babylonischen Gefangenschaft durch KI warnen und die Freiheit eines Christenmenschen zur Geltung bringen? Statt das Publikum mit dem Event eines Luther-Avatars zu locken, böte der Reformationstag eine gute Gelegenheit, das sperrige Hauptstück seiner Theologie, die Rechtfertigung des Sünders, neu ins Zentrum zu rücken und auf heutige Lebenswelten zu beziehen. Dabei sind die Fragen: Was rechtfertigt uns? Was gibt uns Halt? Worauf können wir bauen, wenn wir selbst am Ende sind? gerade in Krisenzeiten neu virulent. Sind es allein Leistungen, über die wir uns definieren? Oder gibt es etwas, das uns unabhängig davon Identität und Anerkennung gibt? Leistungs- und Perfektionsimperative durchziehen alle Bereiche der Gesellschaft. Man ist etwas, wenn man Erfolge vorweisen kann. Ist dies nicht mehr der Fall, hat man mit Reputationseinbußen zu rechnen, die oft krisenhaft auf die Selbstwahrnehmung durchschlagen.

Nach Martin Walser leben wir überdies in einem "Reizklima des Rechthabenmüssens". Um besser dazustehen, so der Schriftsteller in seinem Essay "Rechtfertigung, eine Versuchung", neigen wir dazu, andere herunterzumachen. Diese Mechanismen der Selbstrechtfertigung auf Kosten anderer gilt es zu unterbrechen. Denn die trickreiche Kunst, es nicht gewesen sein, läuft immer darauf hinaus, es andere gewesen sein zu lassen. Die Botschaft aber, dass jeder Mensch ohne Vorleistungen unbedingt angenommen und trotz seiner Fehler grundsätzlich bejaht ist, wäre gerade heute als heilsamer Kontrapunkt einzubringen. Statt auf die Attraktion eines KI-gesteuerten Luther-Avatars zu setzen, hätte man sich am Reformationstag eher eine kluge Aktualisierung der Rechtfertigungstheologie erwartet. Die Erinnerung an den Primat der Gnade in oft gnadenlosen Lebensverhältnissen ist nicht nur für Protestanten, sondern auch für Katholiken, ja für die ganze Gesellschaft ein therapeutischer Anstoß.

Von Jan-Heiner Tück

Buchtipp

Christian Danz, Jan-Heiner Tück (Herausgeber): Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Verlag Herder, Freiburg 2017, 536 Seiten, 25 Euro.