Skepsis und Prävention als Leitsterne der Unterscheidung

Neue Wunder-Regeln schärfen den Blick der Kirche aufs Übernatürliche

Veröffentlicht am 18.05.2024 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Vatikanstadt ‐ Wunder gibt es immer wieder – aber künftig ohne kirchliches Gütesiegel. Das Glaubensdikasterium stellt die Skepsis gegenüber der Instrumentalisierung statt der Wahrheitsfrage ins Zentrum des Umgangs mit angeblichen Wundern – und erzeugt damit weiteren Reformbedarf.

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Wunder sind prekär geworden. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft lassen immer weniger Raum für das übernatürliche Wirken Gottes in der Welt. Seit Jahrhunderten warten die Gläubigen im Dom zu Neapel jedes Jahr dreimal sehnsüchtig darauf, ob sich das Blut des Märtyrers Januarius verflüssigt. Denn wird das heilige Blut in der kostbaren Ampulle nicht flüssig, gilt es als schlechtes Omen. Was den Neapolitanern ein Wunder ist, glaubt die Wissenschaft ganz nüchtern erklären zu können: In der Ampulle befinde sich kein wirkliches Blut, sondern ein Stoff mit ungewöhnlichen Fließeigenschaften. "Thixotropie" heißt das Phänomen, bei dem "nichtnewtonsche Fluide" dünnflüssig werden, wenn sie deformiert werden. Vulgo: Wenn der Bischof die Ampulle schüttelt. Ob in der Ampulle wirklich Märtyrerblut ist oder eine solche thixotrope Substanz, ist nicht bekannt: Direkt untersuchen konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den wunderverdächtigen Stoff noch nie.

Als Wunder ist das Blut des Januarius von der Kirche offiziell nicht anerkannt und das, obwohl es schon seit 1389 immer wieder flüssig wird. Das Blutwunder von Neapel ist symptomatisch für die Herausforderung, vor der der Wunderglaube der Kirche in der rationalen Gegenwart steht. Die Entzauberung der Welt, von der der Soziologe Max Weber vor gut 100 Jahren gesprochen hat, ist auch in der Kirche in vollem Gange. Weber meinte damit, dass sich das Weltbild der Menschen grundsätzlich rationalisiert hat: "dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne".

Wunder zu diagnostizieren ist langwierig

Von einer derartigen Entzauberung der Welt, oder vielmehr von einem kirchlichen Symptom der Entzauberung der Welt, sprach auch Glaubenspräfekt Víctor Manuel Fernández bei der Vorstellung der "Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene": Auch er beschrieb, wie schwer sich die Kirche heute mit Wundern tut. Die bisher geltenden Regeln für die kirchenamtliche Klärung von Wundern gingen noch davon aus, dass ein Wunder – ganz rational-bürokratisch – mit einem klaren, schwarz-weißen Ausgang bewertet werden könne: "constat de supernaturalitate", oder "constat de non supernaturalitate" – die Übernatürlichkeit steht fest, oder es steht fest, dass es nicht übernatürlich ist. Im Graubereich war die Formulierung "non constat de supernaturalitate", "es steht nicht fest, ob …". Laut Fernández sind seit 1950 nur sechs solcher Verfahren mit einem abschließenden Ergebnis beschieden worden. Wie viele davon mit dem Prädikat "constat de supernaturalitate", verriet er nicht. Die Bewertung der angeblichen Marienerscheinung in Međugorje steht mittlerweile im fünften Jahrzehnt aus. Bis heute äußert sich die Kirche nicht dazu, ob die Übernatürlichkeit feststeht oder nicht – während über die Jahre Millionen von Pilgern den Weg zum Wallfahrtsort finden.

Blutwunder des Heiligen Januarius
Bild: ©picture alliance / IPA | Salvatore Laporta/KONTROLAB (Archivbild)

Der Bischof von Neapel, Domenico Battaglia, zeigt die Ampulle mit verflüssigtem Blut während der Zeremonie zum Hochfest von San Gennaro in der Kathedrale. Für das von der Kirche nicht offiziell anerkannte Wunder gibt es auch naturwissenschaftliche Erklärungen.

So sehr Wunder zur Frömmigkeit der katholischen Kirche gehören – vor allem der Papst Franziskus so wichtigen Volksfrömmigkeit –, so schwer tut sie sich theologisch damit. Natürlich: Wenn Gott allmächtig ist, dann kann er auch Wunder wirken. Die Naturgesetze binden Gott nicht. Wunder werfen aber die Frage nach der Allgüte und Allgerechtigkeit Gottes auf – die Theodizeefrage. Warum hat es für das Wirken des Heiligen Geistes Priorität, in Neapel Blut zu verflüssigen oder in Polen Hostien zu verwandeln, wenn er in Butscha oder Gaza doch viel dringender benötigt würde?

Eine weitere mit übernatürlichen Phänomenen verbundene Grundsatzfrage ist die nach der Offenbarung. Mit Wundern verbunden sind oft Prophezeiungen, Botschaften und Privatoffenbarungen. Ebenso wie die Allmacht Gottes ist die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ein Kern des christlichen Glaubens. Jede neue Offenbarung stellt zumindest potentiell in Frage, dass die Kirche in Christus bereits die Fülle der Offenbarung hat.

Die Offenbarung in Jesus Christus genügt

Zwischen diesen beiden Polen muss die Kirche also navigieren, wenn sie ihren Umgang mit Wundern klärt: der lebendige Glaube der Volksfrömmigkeit und die Fülle der Offenbarung in Jesus Christus. Die neuen Normen tun das auch – die Theodizeefrage bleibt dagegen ausgeklammert. Die Regeln machen unmissverständlich deutlich, dass Wunder ihren Platz in der Kirche hinter der Offenbarung haben. Sie können die Offenbarung erhellen und fruchtbar machen, sie fügen aber nichts hinzu. Wer Privatoffenbarungen empfängt, kann daraus keine rechtmäßige Autorität über die Autorität der hierarchischen Kirche beanspruchen.

Entsprechend kritisch ist das Vorgehen bei der Prüfung von Wundern, das nun im Detail geregelt wird. Der wichtigste Unterschied zum vorherigen zweiwertigen Verfahren – "constat" oder "non constat" – ist der völlige Verzicht auf eine positive Bestätigung der Übernatürlichkeit. Das Gütesiegel "constat de supernaturalitate" ist abgeschafft. Den höchsten kirchlichen Segen, den nun ein angebliches Wunder bekommen kann, ist ein "nihil obstat": Nichts spricht dagegen, den "pastoralen Wert dieses geistlichen Angebots zu würdigen", erläutern die Normen diese Kategorie in der nüchternen Sprache einer Pastoralbürokratie, die man in Deutschland versteht.

Ein "nihil obstat" schließt aber ausdrücklich keine Anerkennung der Echtheit eines Phänomens ein. Wunder werden kein "Glaubensgegenstand", die Gläubigen sind nicht verpflichtet, sie für wahr zu halten. Immerhin würdigt die Unbedenklichkeitserklärung noch, dass es viele Anzeichen für ein Wirken des Heiligen Geistes "inmitten" einer bestimmten mit dem angeblichen Wunder verbundenen Erfahrung gibt. Das auch in den Normen in Anführungszeichen gesetzte "Inmitten" ist für das neue römische Verständnis zentral. Es soll, erklärt eine Fußnote, ausdrücklich nicht im Sinne von "mittels" oder "durch" verstanden werden, es weise stattdessen "darauf hin, dass der Heilige Geist in einem bestimmten Kontext, der nicht unbedingt übernatürlichen Ursprungs ist, Gutes wirkt".

Sensibel für Missbräuche und Vulnerabilitäten

Schon die Vorgänger-Normen von 1978 hatten einen Bewertungskatalog für Wunder, bei dem nicht nur auf das Phänomen selbst, sondern auf die Umstände seines Offenbarwerdens geblickt werden sollte: Negative Anzeichen für die Glaubwürdigkeit waren damals schon mit dem Geschehen verbundenes Gewinnstreben und schwer unmoralische Handlungen, die von der betroffenen Person oder ihren Anhängern begangen wurden.

Die neuen Normen gehen auf diese Risiken der Wunder- und Privatoffenbarungsfrömmigkeit deutlich ausführlicher ein. Obwohl das Verfahren zur Wunderprüfung mehr Platz einnimmt als zuvor und durch seine Anlehnung an etablierte kirchliche Verfahrensnormen wie den kanonischen Strafprozess und das Verfahren zur Heiligsprechung rationalisiert wird, ist die neue Ordnung in ihrer Zielrichtung weit mehr eine Präventionsnorm als eine Prozessordnung zur strukturierten Wahrheitsfindung. Wunder werden gemäß dem Verständnis, das heilsame Wirken des Heiligen Geistes "inmitten" der Welt zu finden, an ihrer Menschen- und Glaubensdienlichkeit gemessen, nicht primär an ihrer Faktizität. Ausdrücklich werden geistlicher und sexueller Missbrauch als moralisch besonders schwerwiegendes negatives Kriterium eingestuft. Definiert wird dieser Tatbestand damit, dass behauptete übernatürliche Erfahrungen oder auch anerkannte mystische Elemente als "Mittel oder Vorwand" benutzt werden, "um Menschen zu beherrschen oder Missbrauch zu begehen".

Eine Prozession in Bolsena.
Bild: ©KNA (Archivbild)

In Bolsena wird bis heute der Ort von Gläubigen verehrt, an dem sich im Jahr 1263 das "Blutwunder" an einer geweihten Hostie ereignete. Die barocke "Kapelle des Wunders" liegt unmittelbar neben der Pfarrkirche Santa Cristina mit ihrer schönen Renaissance-Fassade.

Faktizität spielt nur noch im Negativen eine Rolle: Nach wie vor kann eine Prüfung ergeben, dass ein Phänomen eindeutig nicht übernatürlich ist. Was früher "constat de non supernaturalitate" hieß, stellt nun auch terminologisch kaum verändert die "declaratio de non supernaturalitate" dar, die Erklärung, dass ein Phänomen nicht übernatürlich ist.

Risikoklassen für angeblich übernatürliche Phänomene

Wo Phänomene – diese Bezeichnung zieht sich durch, nur zweimal verwendet das lange Dokument selbst das Wort "Wunder" – nicht erwiesen natürlichen Ursprungs sind, wo sie mithin auch nach sorgfältiger Prüfung im Ruch des Wunderbaren stehen, werden sie in Risikoklassen eingruppiert. Dass der Unbedenklichkeitserklärung des "nihil obstat" drei verschiedene Vorsichts- und eine Verbots-Kategorie gegenüberstehen, zeigt, dass trotz aller Versäumnisse auch im Vatikan die Sensibilität für die dunklen Seiten von Spiritualität, für die Vulnerabilität von Gläubigen wächst.

Die drei Vorsichts-Kategorien sind "prae oculis habetur" ("im Auge behalten"), "curatur" ("Sorge tragen") und "sub mandato" ("unter Aufsicht stellen"). Alle drei Kategorien stellen Risiken fest, die es im Umgang mit einer Erscheinung zu beachten gibt. Bei der ersten Kategorie kommen zu positiven Aspekten "einige Elemente der Verwirrung oder mögliche Risiken". Hier muss der zuständige Diözesanbischof den Dialog mit den "Empfängern" der geistlichen Erfahrung suchen, gegebenenfalls sind lehrmäßige Korrekturen von Schriften und Botschaften nötig.

Bei der zweiten Kategorie werden bei bereits populären Erscheinungen mehrere oder bedeutende kritische Elemente festgestellt. Wenn mit der Verbreitung auch positive geistliche Früchte verbunden sind, soll von einem Verbot abgesehen werden. Der Diözesanbischof soll die problematischen Frömmigkeitspraktiken aber nicht fördern und Alternativen dazu suchen. Phänomene, die die Kirche nicht mehr stoppen kann, aber noch einzuhegen hofft: Die Kategorie "curatur" scheint wie geschaffen für die Kontroversen um Međugorje.

Wenn ein Phänomen zwar selbst positiv bewertet wird, es aber in seinem Umfeld problematische Praktiken gibt, etwa wenn einzelne damit Missbrauch treiben, kommt die dritte Kategorie zum Tragen und der Diözesanbischof muss die Verwaltung der Erscheinung unter seine Verantwortung nehmen. Kriterien dafür sind, dass eine spirituelle Erfahrung finanziell ausgenutzt wird oder "es zu unmoralischen Handlungen kommt oder eine seelsorgerliche Tätigkeit parallel zu der bereits im kirchlichen Territorium existierenden unter Missachtung der Weisung des Diözesanbischofs aufgenommen wird". Auch hier kommt Međugorje in den Sinn, für das der Papst einen Sondereauftragten benannt hat.

Danktafeln in der Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung in Klausen
Bild: ©KNA-Bild (Archivbild)

Wunder sind für viele katholische Gläubige selbstverständlich: Wie hier in der Wallfahrtskirche Klausen danken sie Maria und den Heiligen, auf wundersame Weise ihre Gebete erhört zu haben.

Wenn das Schlechte überwiegt, greift die Verbots-Kategorie "prohibetur et obstruator" ("zu verbieten und abzuschaffen"). Auf Weisung des Glaubensdikasteriums muss der Diözesanbischof in diesen Fällen öffentlich erklären, dass das Festhalten an der Erscheinung nicht zulässig ist.

Die Welt wird entzaubert, nicht entgöttert

Für Max Weber war ein zentrales Merkmal der Entzauberung der Welt die  Intellektualisierung und Rationalisierung der Welt. Weiterhin stemmt sich die Kirche gegen eine Entzauberung der Welt im engeren Sinn: Weiterhin hält sie daran fest, dass nicht alles im Letzten durch menschliche Vernunft erklärbar ist, dass Gottes Heilshandeln sich auch in übernatürlichen Formen in der Welt äußern kann. Wunder gibt es eben doch immer wieder. Mit ihren neuen Wunder-Normen vollzieht die Kirche aber zugleich die wesentlichen Merkmale der Entzauberung der Welt mit – schon auf einer rein prozessualen Ebene: Den Theoretiker der Bürokratie Weber hätte es sicher fasziniert, wie das Übernatürliche durch strukturierte und rechtsförmliche Verfahrensnormen vom Vatikan eingehegt wird.

Begründet wird der Verzicht auf die amtliche Bestätigung von Wundern ebenfalls rational: Die unmäßig langen Prozesse sind einfach unökonomisch – auch mit Blick auf die Heilsökonomie, wenn die Gläubigen lange im Ungewissen gelassen werden. Man verzichtet daher auf das Gütesiegel des "constat" für Wunder nicht, weil man nicht an Wunder glaubt, sondern weil man feststellt, dass Wunder letztlich schwer zu greifen sind, und dass die Erklärungslücken der Wissenschaft immer kleiner werden, und dass es eigentlich mehr auf das Wirken des Geistes "inmitten" der Welt ankommt als auf Überirdisches.

Kommt die Reform der Heiligsprechungsverfahren?

Offen ist, was diese neuen Wunder-Normen nun für die etablierten Wunder-Normen im Prozess der Selig- und Heiligsprechungen bedeuten. Dort wird nach wie vor verlangt, dass ein Wunder bestätigt wird, bevor ein verstorbener Gläubiger zur Ehre der Altäre erhoben werden kann. Lediglich bei der Seligsprechung von Märtyrern wird in der Regel davon abgesehen. Alle Probleme mit mutmaßlich übernatürlichen Erscheinungen und ihrer Bestätigung treffen natürlich auch auf die Wunder-Prozesse im Zuge von Kanonisierungen zu – und tatsächlich wird es angesichts des medizinischen Fortschritts zunehmend schwieriger, das geforderte Wunder über die Beibringung einer unerklärlichen Heilung beizubringen. Andere Formen von Wundern zu beweisen – etwa die wunderbare Rettung aus Gefahr oder moralische Wunder der Bekehrung – gilt unter mit dem Heiligsprechungsprozess erfahrenen Experten als in der Regel zu kompliziert.

Schon einmal hat Papst Franziskus mit der Einführung des "Wegs der Lebenshingabe" als dritten Weg zur Seligsprechung (neben dem Martyrium und dem heroischen Tugendgrad, also einem vorbildlichen heiligmäßigen Leben,) wesentliche Neuerungen bei den Kanonisierungen eingeführt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch beim Wundererfordernis im Lichte der neuen Normen dieselbe empirische Zurückhaltung eingezogen wird.

Die im Wortsinn Glaubwürdigkeit von Heiligsprechungen würde es fördern, wenn dafür nicht Wunder aus entlegenen Weltgegenden organisiert werden müssten. Dass das gerade nicht auf Kosten geistlicher Früchte gehen muss, zeigen die neuen Normen. Mit der empirischen Bescheidenheit des Verzichts auf eine formelle Wunder-Bestätigung schafft die Kirche den Spagat, Volksfrömmigkeit auch dann noch würdigen zu können, wenn absehbar ist, dass die Naturwissenschaft irgendwann einmal das Unerklärliche doch erklärt. Ob Blutwunder oder Thixotropie: Der Heilige Januarius bringt den Neapolitanern Segen. Was will man von einem Wunder mehr erwarten?

Von Felix Neumann

Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene

Der Vatikan hat die neuen Normen zur Bewertung übernatürlicher Phänomene sofort auf seiner Webseite zur Verfügung gestellt. Die Vorgängerregelung aus dem Jahr 1978 wurde erst 2011 öffentlich gemacht.

18. Mai 2024, 15 Uhr: Urteile um "constat de non supernaturalitate" ergänzt.