Unterbau - Überbau

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In Bert Brechts Dreigroschenoper-Ballade "Wovon lebt der Mensch?" heißt es: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." In marxistischer Sicht hat allem geistigen Überbau ein materieller Unterbau vorauszugehen. Auch wenn man dem Materialismus aus christlicher Sicht nicht folgt, stellt sich dennoch die Frage, wo alle Moral beginnt, welcher Unterbau da dem Überbau vorauszugehen hat.
Die Inflation kirchlicher Sozialappelle weckt den Eindruck, Sozialethik bilde das Fundament. Die evangelische Kirche, die mit Luthers Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade jedwedem Leistungsdenken eigentlich kritisch gegenübersteht, tut sich paradoxerweise mit hohen sozialen Leistungsanforderungen besonders hervor. Der Katalog der Christenpflichten reicht von der Aufnahme aller Flüchtlinge über saubere Geldanlagen bis zur Anerkennung verschiedenster sexueller Lebensweisen.
Die katholische Kirche scheint sich dem Trend anverwandeln zu wollen, indem sie von der Betonung der Individualmoral abrückt und stattdessen Soziales in den Vordergrund schiebt. Zum Beispiel soll Angestellten caritativ-diakonischer Einrichtungen nur noch Loyalität gegenüber dem Leitbild der jeweiligen Institution abverlangt werden, nicht mehr ein persönlicher Lebenswandel, der dem entspricht, was Jesus als integres Verhalten einfordert. In Umkehrung der Verhältnisse wird der Überbau Sozialmoral zum neuen Unterbau erklärt, auf den das private Verhalten beliebig "draufsatteln" kann.
Ist es also für die Sozialverträglichkeit unwichtig geworden, ob jemand die eheliche Treue ernstnimmt, ob er ein christliches Leben führt, an die Auferweckung und ein ewiges Leben glaubt, ob er sich gottesdienstlich beteiligt, betet, Gott ehrt, seine Kinder selber - gut - erzieht, nicht stiehlt, nicht betrügt, lauter und aufrecht den Sonntag als Tag des Herrn feiert, ehrlich, bescheiden, rechtschaffen lebt?
Es bleibt dabei: Erst kommt die Individualmoral, dann die Sozialmoral. Die hängt in der Luft, wenn sich der Mensch vor Gott und vor sich selber nicht bemüht, anständig zu sein - bei allen Versuchungen, denen jeder als immerwährender Sünder ausgesetzt ist. Ohne den wahren persönlichen Unterbau nutzt der hehre soziale Überbau nichts. Am Ende kann der Mensch ohnehin nur auf Gottes Gerechtigkeit und Erbarmen hoffen.