Systemische Ursachen, Laienklerikalismus und fatale Unschuldsvermutung

Missbrauchsstudie in Bozen-Brixen: Bekannte Muster – mit Überraschung

Veröffentlicht am 21.01.2025 um 00:01 Uhr – Von Sabine Kleyboldt (KNA) – Lesedauer: 

Bozen/Rom ‐ Als erstes der mehr als 200 Bistümer Italiens hat Bozen-Brixen am Montag einen Missbrauchsbericht vorgelegt. Bei der Vorstellung der Studie zogen die Rechtsanwälte auch Parallelen zu Missbrauchsuntersuchungen in Deutschland.

  • Teilen:

Es sei das erste Mal, dass er bei der Vorstellung einer Missbrauchsstudie einen Papst zitiere, sagte Rechtsanwalt Ulrich Wastl am Montag: Franziskus habe zu sexualisierter Gewalt gesagt, für die Kirche sei "jeder einzelne Fall einer zu viel". Worte, die später auch Ivo Muser (62), seit 2011 Bischof von Bozen-Brixen, wiederholen sollte.

Unter seiner Führung hatte die Diözese den unabhängigen Bericht bei der Münchner Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl in Auftrag gegeben – als erstes der mehr als 200 Bistümer Italien sei es "den schmerzhaften Weg der Aufklärung" gegangen, lobte Wastl bei der Vorstellung. Die Kanzlei hatte bereits Untersuchungen im Auftrag des Erzbistums München-Freising und weiterer deutscher Bistümer erarbeitet.

Rund 1.000 Akten habe man für den mehr als 600 Seiten umfassenden Bericht "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich der Diözese Bozen-Brixen von 1964 bis 2023" geprüft. Bei den Recherchen wurden 67 Missbrauchsfälle und 59 Betroffene zwischen 8 und 14 Jahren ermittelt. Von den 41 beschuldigten Priestern, die zwischen 28 und 35 waren, wurden bei 29 die Vorwürfe mit hoher Wahrscheinlichkeit oder sicher nachgewiesen; bei 12 Klerikern konnten sie nicht ausreichend beurteilt werden.

Das Gutachten im Wortlaut

Die Diözese Bozen-Brixen hat das gesamte Gutachten sowie eine Kurzzusammenfassung auf ihrer Internetseite veröffentlicht.

Allerdings spiegelten diese Zahlen nur das Hellfeld, sagte Rechtsanwältin Nata Gladstein. "Das Dunkelfeld ist nach unserer Einschätzung sehr viel größer." Entsprechende Studien gebe es bisher noch nicht, sie wären aber mit Sicherheit lohnenswert.

Seit den 90er Jahren nahmen die Fälle demnach stark ab; doch viele der Vergehen seien der Bistumsleitung bereits vor 2010 bekannt gewesen. Hier habe es massive Fehler der Entscheider auf verschiedenen Ebenen gegeben; teils aus Ignoranz, Verweigerung oder sogar in bester Absicht, sagte Wastl. Bei 24 Missbrauchsfällen hätten Verantwortliche im Bistum teils über Jahre hinweg fehlerhaft oder zumindest unangemessen gehandelt.

51 Prozent der Betroffenen weiblich

Sprachlos habe das Team der Fall eines Priesters gemacht, der seit den 1960er Jahren kleine Mädchen "begrapscht" und missbraucht habe, aber jahrzehntelang von einer Gemeinde in die nächste versetzt worden sei. Erst nach etwa 50 Jahren habe jemand "den Mut gehabt", ihn aus der Seelsorge zu entfernen, so der Experte.

Das für die Berichterstatter überraschendste Ergebnis bestand darin, dass mehr als 51 Prozent der Betroffenen weiblich waren, während lediglich 18 Prozent eindeutig als männlich identifiziert werden konnten. Dies ist sowohl aus deutscher Sicht, wo die Zahl der männlichen Betroffenen bei weitem überwog, als auch insbesondere auch aus Südtiroler und italienischer Sicht von besonderem Interesse, sagte Wastl weiter. Auch hier lohne eine eigene wissenschaftliche Untersuchung.

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Worin sich die Ergebnisse des Projekts namens "Mut zum Hinsehen" kaum von Erkenntnissen aus deutschen Bistümern unterschieden, seien die systemischen Ursachen, so die Juristen. Wastl nannte eine unreife Sexualität, Vereinsamung von Priestern und den fatalen Begriff der "Unschuldsvermutung". Dieser werde von denen, die Aufarbeitung nicht wollten, "monstranzartig" vor sich hergetragen. Während laufender Verfahren dürfe ein Priester nicht aus der Seelsorge entfernt werden. Was aber, wenn es nie zu einer Verurteilung komme, etwa wenn Fälle verjährt seien?, gab Wastl zu bedenken.

Problematisch sei auch ein "Laienklerikalismus", bei dem die Gemeinden selbst ihren Priester schützen wollten. Daher solle man Pfarreien mehr in die Missbrauchsprävention einbeziehen und "das Übel (...) an der Basis bekämpfen". Ebenso empfehlen die Berichterstatter, unabhängige Ombudsstellen einzurichten und mehr Frauen in verantwortliche Positionen zu holen. Mit ihrer Studie, die die Diözese Bozen-Brixen nun im dritten Anlauf schaffte, könne aus dem "Mut zum Hinsehen" der "Mut zum Handeln" erwachsen, so Wastl.

Nach der rund 90-minütigen Pressekonferenz nahmen Bischof Muser und Generalvikar Eugen Runggaldier die beiden rot eingebundenen Bände in den Südtiroler Landessprachen Deutsch und Italienisch entgegen. Muser kündigte für Freitag eine Stellungnahme an. Er dankte den Betroffenen ausdrücklich für ihre Mitarbeit an der Studie. Ihr Leid sei beschämend für die Kirche. 

Von Sabine Kleyboldt (KNA)