Schlichtungs- und Disziplinarordnung betreten kirchenrechtliches Neuland

Klerikale Macht einhegen: Schafft das der Schlichtungsrat in Münster?

Veröffentlicht am 08.02.2025 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Münster ‐ Streit im Bistum Münster kann künftig von einem Schlichtungsrat beigelegt werden. Ein großer Wurf? Oder nur "Verwaltungsgerichtsbarkeit light"? Die Münsteraner Kirchenrechtler Schüller und Neumann sind optimistisch – zeigen aber auch die Grenzen auf.

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Der Münsteraner Bischof Felix Genn geht voran: Seit Jahren wird in der Kirche darüber diskutiert, wie Macht durch Recht eingehegt werden kann – alle Versuche, eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit einzurichten, sind aber bislang versandet. Auch Genn ist es nicht gelungen, ein kirchliches Verwaltungsgericht zu errichten. Stattdessen hat er als erster deutscher Bischof nun aber einen Schlichtungsrat eingeführt, der immerhin eine Konfliktbeilegung auf freiwilliger Basis ermöglicht. Mit einer Disziplinarordnung für Kleriker beschreitet er sogar weltweites Neuland. Was genau die neuen Regeln leisten und warum nicht mehr möglich war, erläutern die Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller und Thomas Neumann, die den Bischof bei den Ordnungen beraten haben, im katholisch.de-Interview.

Frage: Streit soll im Bistum Münster künftig durch ein Schlichtungsverfahren beigelegt werden: Ein Schlichtungsrat kann angerufen werden, um gegen "Verwaltungsakte im Einzelfall" vorzugehen. Was ist so ein Verwaltungsakt?

Thomas Neumann: Jede Entscheidung der diözesanen Kurie, also der bischöflichen Verwaltung, die durch ein schriftliches Dekret erfolgt, ist ein Verwaltungsakt im Einzelfall. Gegen solche Entscheidungen kann man künftig den Schlichtungsrat anrufen. Das ist das Neue: Vorher konnte man nur Rom in einem sogenannten "hierarchischen Rekurs" bitten, solche Verwaltungsakte aufzuheben. Das war langwierig, kompliziert und meistens auch mit Sprachbarrieren verbunden. In Münster kann das jetzt vor Ort durch eine unabhängige Instanz erledigt werden.

Frage: Allerdings im Wege der Schlichtung, nicht auf dem Gerichtsweg …

Thomas Schüller: Das stimmt. In Verwaltungen, kirchlichen wie staatlichen, entstehen die meisten Rechtsfehler dadurch, dass Ermessensspielräume falsch genutzt wurden. Die Schlichtung ermöglicht, eine einvernehmliche und konsensuale Lösung für einen Streit zu finden – so wie es evangeliumsgemäß ist. Auch nach der Schlichtung ist der übliche kirchliche Rechtsweg noch offen. Beschwerden an die nächsthöhere Instanz in Rom sind also weiter möglich, das war in der Abstimmung der Schlichtungsordnung dem Bischof und den römischen Behörden wichtig.

Thomas Neumann (l.) und Thomas Schüller vom Institut für Kanonisches Recht der Universität Münster
Bild: ©IKR Münster (Archivbild)

Thomas Schüller (r.) ist Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und Direktor des Instituts für Kanonisches Recht (IKR). Thomas Neumann (l.) ist Privatdozent am IKR. Beide haben Bischof Felix Genn bei der Ausarbeitung der Ordnungen beraten.

Frage: Welche Relevanz hat das für das einfache Gemeindemitglied? Schriftliche Dekrete sieht man als Gemeindemitglied ja eher selten.

Schüller: Ein Fall, der häufig vorkommt, ist der Aufschub einer Taufe: Wir erleben es in der Taufvorbereitung immer häufiger, dass es Eltern gibt, die sich zwar eine Taufe ihres Kindes wünschen, die aber überhaupt keine Beziehung zum kirchlichen Leben mehr haben. Dann kann der Pfarrer die Taufe nicht verbieten, aber auf einen späteren Zeitpunkt aufschieben. Das muss in Form eines schriftlichen Bescheides geschehen – und der kann dann selbstverständlich angefochten werden. Auch, wenn eine Beerdigung verweigert wird, muss das mit einem Bescheid erfolgen. Solche Fälle können künftig durch den Schlichtungsrat behandelt werden.

Neumann: Wichtig ist auch, dass der Schlichtungsrat für Streitigkeiten zwischen Gremien zuständig ist, etwa wenn sich bischöfliche Behörde und Pfarrgemeinderat nicht einig sind, zum Beispiel darüber, ob eine Renovierung des Kirchendachs vom Bistum finanziert wird oder nicht. Gerade bei Kirchenschließungen, bei der Auflösung oder Fusion von Pfarreien gibt es immer wieder große Konflikte. Da haben nicht nur die Gremien, sondern jedes einzelne Gemeindemitglied die Möglichkeit, den Schlichtungsrat anzurufen.

Schüller: Ein anderes Beispiel sind Pastoralpläne. Wenn von den Gremien bestimmte Schwerpunkte in der Pastoral gesetzt werden, betrifft das alle Gemeindemitglieder. Wenn zum Beispiel ein Jugendverband findet, dass der Pastoralplan einer Pfarrei zu wenig Angebote für Jugendliche vorsieht, dann kann das vor den Schlichtungsrat kommen.

Frage: Schon 2019 hat Bischof Genn angekündigt, Macht abgeben zu wollen und sich einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit unterzuordnen. Jetzt gibt es nur ein Schlichtungsverfahren. Kann man damit zufrieden sein? Hat er sein Versprechen gebrochen?

Schüller: Nein. Das hat etwas mit der kirchenpolitischen Großwetterlage zu tun. Die Deutsche Bischofskonferenz hat schon vor vielen Jahren in Rom den Antrag eingereicht, ein kirchliches Verwaltungsgericht einzurichten. Das ist bis heute nicht genehmigt worden, und auch ein diözesanes Verwaltungsgericht hätte wohl keine Aussicht auf Erfolg. Da jetzt als einzelner Diözesanbischof vorzupreschen, hätte der Sache nicht gedient. Bischof Genn wollte aber auf jeden Fall noch in seiner Amtszeit ein konkretes Ergebnis erreichen. Der Schlichtungsrat ist das, was zur Zeit mit Blick auf Rom möglich ist – und das, was der Bischof jetzt einführt, ist auch gut mit Rom abgestimmt.

Münsters Bischof Felix Genn bei seiner ersten Stellungnahme nach der Vorstellung des Gutachtens
Bild: ©Lars Berg/KNA (Archivbild)

"Die Betroffenen sind die Opfer, ich bin Teil der Organisation, aus der die Täter kamen und kommen", sagte Bischof Felix Genn in einer ersten Reaktion auf die Vorstellung des Missbrauchsgutachtens für seine Diözese. Eine Konsequenz aus der Studie sind die nun verabschiedeten Ordnungen.

Neumann: Das Ziel ist, klerikale Macht einzuhegen. Das ist ein Auftrag, den die MHG-Missbrauchsstudie den Bischöfen mitgegeben hat. Verwaltungsgerichte sind ein Weg, das zu erreichen, aber nicht der einzige. Schlichtungsverfahren sind im Universalkirchenrecht vorgesehen. Kirchliche Verwaltungsgerichte wurden bei der Reform des Kirchenrechts 1983 nicht eingeführt, obwohl es konkrete Pläne dafür gab, und es gibt derzeit kaum eine Aussicht darauf, dass es anders wird. Man muss sich ganz realistisch fragen: Warten wir noch einmal 50 Jahre, bis vielleicht kirchliche Verwaltungsgerichte genehmigt werden – oder machen wir jetzt das, was schon möglich ist, um klerikale Macht einzuhegen?

Frage: Kann das denn ein Schlichtungsverfahren wirklich leisten? Das Verfahren ist von großer Unverbindlichkeit geprägt: Erst müssen die Streitparteien zustimmen, in ein solches Verfahren zu gehen, und am Ende können sich die Streitparteien aussuchen, ob sie dem Ergebnis der Schlichtung zustimmen.

Neumann: In einigen US-amerikanischen Diözesen gibt es bereits seit den 1970er-Jahren ähnliche Schlichtungsverfahren, die in den 1990ern ausführlich evaluiert wurden. Dort hat sich gezeigt, dass diese Verfahren trotz ihrer Grenzen Wirkung gezeigt haben. Es gab beispielsweise viel weniger hierarchische Rekurse – das bedeutet, dass die Verfahren zu so zufriedenstellenden Ergebnissen geführt haben, dass der weitere Rechtsweg nicht mehr notwendig schien. Man darf auch nicht unterschätzen, was das geordnete Schlichtungsverfahren bringt: Dabei entstehen Prozessakten, mit denen sich weitere Beschwerden viel besser begründen lassen, als wenn direkt der Rechtsweg gesucht worden wäre.

Schüller: Aus meiner eigenen Praxis als Prozessvertreter weiß ich, wie langwierig und unbefriedigend Verfahren sind, die direkt nach Rom gehen. Auch wenn Schlichtungen weniger Verbindlichkeit haben als eine Gerichtsentscheidung: Für eine schnelle Konfliktbeilegung sind sie viel aussichtsreicher als römische Verfahren.

Frage: Hätte man nicht wenigstens festschreiben können, dass Schlichtungssprüche angenommen werden müssen, wenn sich die Parteien auf die Schlichtung einlassen?

Neumann: Das geht bei einem Schlichtungsverfahren leider nicht. Es gibt drei Stufen der Konfliktlösung, auch im staatlichen Recht. Zuerst die Schlichtung, bei der der Schlichterspruch frei angenommen werden muss. Dann eine Schiedsgerichtsbarkeit, wo das Ergebnis bindend ist. Das ist in der Kirche nur zulässig für private Streitigkeiten, die nicht das öffentliche Wohl betreffen. Für die Fälle, für die die Schlichtungsordnung zuständig ist, vom Streit um den Taufaufschub bis zur Pfarreireform, trifft das nie zu. Daher waren Schiedsgerichte nicht möglich. Die dritte Stufe ist ein Gerichtsverfahren – und Verwaltungsgerichte werden, wie gesagt, auf absehbare Zeit wohl nicht genehmigt.

Schüller: Im kirchlichen Arbeitsrecht arbeiten wir seit Jahrzehnten mit Schlichtungsverfahren. Deren Ergebnisse sind oft denen eines Gerichtsverfahrens vorzuziehen, und tatsächlich werden so viele Gerichtsverfahren vermieden. Vor Gericht gibt es am Ende immer eine klare Entscheidung: Die eine Seite hat recht, die andere nicht. Ein Schlichtungsverfahren zielt darauf ab, für beide Seiten tragfähige Kompromisse zu finden. Das gelingt dann, wenn es keine Verlierer gibt.

Frage: Neben der Schlichtungsordnung tritt noch eine Disziplinarordnung für Kleriker in Kraft. Was ändert sich durch diese Ordnung? Bereits jetzt gibt es ja schon rechtlich festgeschriebene Klerikerpflichten.

Schüller: Ich begleite viele Betroffene von sexualisierter Gewalt als Anwalt. Oft begegnen wir da klerikalen Tätern, die genau wissen, wie sie gerade noch so unter der Grenze der kirchlichen und staatlichen Strafbarkeit bleiben. Bisher war es ausgesprochen schwierig, hier Sanktionen anzuordnen. Mit der neuen Disziplinarordnung – übrigens eine weltkirchliche Premiere, so etwas gibt es bisher nur in Münster! – gibt es nun klare Kriterien und Verfahren, nach denen Verstöße gegen die Standespflichten eines Klerikers geahndet werden.

Blick in den Codex Iuris Canonici in Buch VI zum kirchlichen Strafrecht
Bild: ©katholisch.de/fxn (Symbolbild)

Blick in den Codex Iuris Canonici in Buch VI zum kirchlichen Strafrecht – dort sind zwar Straftaten geregelt, eine umfassende Disziplinarordnung für Kleriker fehlte aber bislang.

Neumann: Auch bisher konnte der Bischof Kleriker sanktionieren, die gegen ihre Standespflichten verstoßen. Aber nirgends war geregelt, wie genau er dabei vorgehen muss. Das öffnet der Willkür Tür und Tor. Es ist für Täter bisher sehr einfach, Sanktionen für unbestritten sanktionswürdige Taten zu umgehen, wenn sie darlegen können, dass es kein geordnetes Verfahren für die jeweilige Sanktion gab oder dass eine Sanktion willkürlich gewählt wurde. Das wird jetzt anders. In der Disziplinarordnung ist klar geregelt, was sanktionswürdig ist, wie das Verfahren abläuft und welche Sanktionen verhängt werden dürfen. Das ist auch für die beschuldigten Kleriker eine Verbesserung: Ein klar geregeltes Verfahren dient der Rechtssicherheit der Beschuldigten, wenn etwa Verteidigungsrechte definiert sind und klar ist, wie lange Verfehlungen in der Vergangenheit noch rechtlich relevant sind für den weiteren Umgang mit dem Beschuldigten.

Frage: Geht es dabei nur um sexualisierte Gewalt?

Neumann: Nein, das ist viel weiter gefasst. Wenn ein Kleriker in einer Predigt menschenverachtende Positionen vertritt, kann er sanktioniert werden. Wenn ein Kleriker Messstipendien nicht ordnungsgemäß abführt oder Spenden nicht gemäß dem Spendenzweck einsetzt, kann er sanktioniert werden. Wenn ein Kleriker Menschen widerrechtlich von den Sakramenten ausschließt oder Menschen geistlich manipuliert, kann er sanktioniert werden. Die Disziplinarordnung bezieht sich umfassend auf alle Pflichten von Klerikern.

Frage: Gilt das auch rückwirkend? Oder greift die Disziplinarordnung nur für Verfehlungen, die nach ihrem Inkrafttreten begangen werden?

Neumann: Die Ordnung selbst gilt ab ihrem Inkrafttreten. Im Strafrecht gibt es den Grundsatz, dass für den Beschuldigten das günstigste Gesetz anzuwenden ist: Wenn eine Tat zum Tatzeitpunkt mit einer höheren Strafe bedroht war als zum Zeitpunkt des Urteils, muss das mildere Gesetz angewandt werden, ebenso, wenn seither die Strafe verschärft wurde. Die Disziplinarordnung ist kein Strafrecht, aber für ihre Anwendung lässt sich argumentieren, dass die klare Regelung des Verfahrens und der Verteidigungsrechte Beschuldigte besser stellen, als sie es ohne die Ordnung wären. Deshalb spricht meines Erachtens nichts dagegen, die Disziplinarordnung auch auf noch nicht verjährte Altfälle anzuwenden, wenn die Tat zum Tatzeitpunkt sanktionswürdig war.

Frage: Bei schweren Disziplinarvergehen tritt eine Disziplinarkommission zusammen, die aus dem Generalvikar und vier weiteren Personen besteht, die allesamt der bischöflichen Verwaltung angehören. Warum gibt es keine unparteiische Disziplinarkommission?

Schüller: Das ist ein Verfahren, wie es auch in staatlichen Behörden üblich ist: Die jeweilige Behörde ist auch die Disziplinarbehörde. Wenn mir als beamteter Hochschullehrer ein Disziplinarverstoß vorgeworfen wird, dann ist für das Disziplinarverfahren die Universität zuständig. Die Disziplinarkommission erlässt aber in jedem Fall ein Dekret, das auf dem Rechtsweg angegangen werden kann. Und anders als bisher steht dieses Dekret nun dank der Disziplinarordnung auf einer klar definierten rechtlichen Grundlage.

Frage: Sie konnten den Bischof beraten, in Kraft gesetzt hat er es. Wie zufrieden sind Sie mit dem, was Bischof Genn jetzt zum Gesetz gemacht hat? Was wünschen Sie sich noch?

Neumann: Ich wünsche mir, dass als nächstes Ausführungsbestimmungen zur Interventionsordnung kommen. Also klare und transparente Verfahren, wie vorzugehen ist, wenn ein Fall sexualisierter Gewalt vorliegt, bei dem auch die Betroffenen angemessen eingebunden und informiert werden.

Schüller: Dass das Bistum Münster als erste Diözese weltweit eine Disziplinarordnung hat, ist ein sehr wichtiger Schritt. Die Schlichtungsordnung ist eine deutliche Verbesserung zur bisherigen Situation, aber nicht perfekt. Ich hoffe, dass wir irgendwann eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Kirche bekommen. Aber das kann ich dem Bischof nicht ankreiden, er hat das getan, was heute und als einzelner Bischof möglich ist.

Von Felix Neumann