Das "Tor zur Hölle" schließen? Zum Zustand der Demokratie im Bundestag
In der vergangenen Woche brachte der SPD-Fraktionsvorsitzende, Rolf Mützenich, die Hölle ins Spiel: In ihrem Bestreben, im Wahlkampf eine "Wende der Migrationspolitik" (Friedrich Merz) vorzuführen, haben die Unionsparteien – "sehenden Auges" (Angela Merkel) – eine parlamentarische Mehrheit mit der extrem-rechten AfD herbeigeführt und damit das "Tor zur Hölle" aufgestoßen. Ein gewaltiges Bild, zweifelsohne. Rhetorisch übertrieben, womöglich. In der Sache – zutreffend.
Um das "in der Sache" zu verstehen, muss man sich auf die Metapher einlassen. Die Zeiten, in denen man von der Hölle reichen Gebrauch gemacht hat, sind im Christentum längst vorbei. In der christlichen Theologie ist heutzutage von der Hölle allenfalls sparsam und vorsichtig die Rede. Gleichwohl haben wir aus der Sprachwelt des Christentums heraus eine gute Ahnung davon, was wir mit "Hölle" meinen. Sie ist Metapher dafür, dass Menschen endgültig an sich scheitern, dass sie die ewige Gemeinschaft mit Gott ("Himmel") nicht erlangen und sich dadurch im Unheil mit sich und allen anderen vollenden. Den Menschen, die in die Hölle geraten, passiert sie nicht "aus Versehen". Sie geschieht, wenn sie denn geschieht, indem sich Menschen willentlich und wissentlich von dem abwenden, was ihnen heilsam ist – und zwar dann, wenn sie sich in ihrer Abwendung endgültig festlegen, wer und was sie sind. Ursprünglich wird eine solch endgültige Abwendung für "nach dem Tod" befürchtet. Im Sprachgebrauch hat man – realistischerweise – die Hölle bereits vor dem Tod entdeckt: Indem Menschen sich auf das Unheil festlegen, machen sie ihre Welt zur Hölle – dies aber nicht für sich allein. Sie ziehen andere und manchmal verdammt viele andere mit in ihre Hölle hinein.
Indem die Unionsparteien eine parlamentarische Mehrheit mit der extremen Rechte gebildet haben, haben sie – so Mützenich – das "Tor zur Hölle" geöffnet. Welches Bild zeichnet er: Durch das nunmehr geöffnete Tor wird die Hölle für diejenigen wirksam, die diese bislang nur als eine denkbare, aber eben verschlossene Möglichkeit "im Rücken" hatten. Womöglich tritt die Hölle nunmehr nach außen und verbreitet so ihre unheilsame Endgültigkeit; womöglich saugt sie durch dieses Tor in ihre Endgültigkeit hinein. Welche höllische Dynamik Mützenich auch vor Augen hatte, er nahm eine Entwicklung in Aussicht, dass sich nämlich die Demokratie im Bundestag endgültig von sich selbst abwendet – und er nahm in Aussicht, dass in einer zukünftigen Rückschau die politische Tat der Unionsparteien als der Beginn dieser Entwicklung gesehen wird.
„Was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch, wenn die Falschen zustimmen.“
Zunächst einmal besteht Demokratie aus politischen Auseinandersetzungen. In einer repräsentativen Demokratie sind Parlamente – und damit auch der Bundestag – ein maßgeblicher Ort dieser Auseinandersetzungen. Die Parlamente sollen die gesellschaftlichen Meinungs- und Interessengruppen möglichst vollständig widerspiegeln. Ganz in diesem Sinn wurden Abgeordnete mit extrem-rechten und antidemokratischen Überzeugungen in die deutschen Parlamente gewählt, auch in den Bundestag – und dies in hoher Anzahl. Deshalb finden politische Auseinandersetzungen dort inzwischen mit den extremen Rechten statt, auch wenn dies für alle anderen eine große Belastung darstellt und obgleich dies auf die Qualität der Auseinandersetzungen schlägt.
Politische Auseinandersetzungen leben davon, dass politische Akteure etwas für richtig und gut halten – und dass sie zugleich wissen, dass andere in der jeweiligen Frage anders denken. Deswegen treten sie in den Streit, vertreten darin eigene Überzeugen und setzen sich mit den Überzeugungen der anderen auseinander. Dabei wird – selbstverständlich – nichts dadurch falsch, dass man aus der extremen Rechten Zustimmung erfährt. Als falsch erweisen sich Überzeugungen einzig dadurch, dass man dafür keine hinreichend guten Gründe vorbringen kann, die die anderen überzeugen können. Auf die Abgeordneten der extremen Rechte ist man dabei nicht angewiesen. Denn diese sitzen in den Parlamenten, weil sie genau eins nicht sind – offen dafür, sich durch Gründe anderer überzeugen zu lassen.
Weiterhin geht es in Demokratien um die gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens – und deswegen um Entscheidungen und um deren Umsetzung in Institutionen und Strukturen. Zwar kann und wird es Abgeordnete geben, die in ihren Auseinandersetzungen recht haben oder bekommen wollen. Doch die Auseinandersetzungen zielen auf etwas anderes, nämlich darauf, dass man etwas gemeinsam für richtig hält und deshalb für das Gemeinwesen in Geltung setzt. Daher geht es in der Demokratie weniger um das Richtige als um das Gemeinsame – und es geht um die Macht, die man aus der Gesellschaft heraus nur gemeinsam "hat".

Matthias Möhring-Hesse ist Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Für Demokratien ist es keineswegs beliebig, ob die extreme Rechte an dieser gemeinsamen Macht beteiligt wird. Miteinander können Demokrat:innen nur dann aushandeln, was sie gemeinsam für richtig halten, wenn daran nicht diejenigen beteiligt werden, die genau diese Gemeinsamkeit verhindern und stören wollen. Auch wenn die extreme Rechte im Parlament sitzt und in dessen Debatten auftritt, darf sie keinen Anteil daran erhalten, was die demokratischen Parteien miteinander als ihr Gemeinsames aushandeln – und was sie durch gemeinsamen Entschluss machtvoll werden lassen. Häufig nennt man dies die "Brandmauer" gegen die extreme Rechte. Untereinander müssen sich die Demokrat:innen darauf verlassen können, dass niemand ihre Auseinandersetzungen hintergeht – und statt eine Gemeinsamkeit der Demokrat:innen zu suchen, gemeinsame Sache mit der extremen Rechte macht.
Unter den demokratischen Parteien bestand darüber im Bundestag Einvernehmen. Dieses Einvernehmen hatte der Oppositionsführer Merz noch im November des vergangenen Jahres ausdrücklich bestätigt. In der letzten Woche hat er es einseitig aufgegeben. Um die Unionsparteien in ihrer "Wende der Migrationspolitik" kompromisslos zu zeigen, haben er und seine Gefolgsleute – wissentlich und willentlich – die Gemeinsamkeit mit der extremen Rechte gesucht – und gefunden. Indem dies erfolgreich und zwei Tage später noch einmal, dann aber erfolglos betrieben wurde, wurde das Vertrauen unter den Abgeordneten gebrochen, dass genau dies unter den demokratischen Parteien im Bundestag nicht geschehen wird. Dieser Vertrauensbruch ist von nachhaltiger Wirkung: Wenn die parlamentarische Mehrheit in der letzten Woche mit der extremen Rechten gesucht wurde, dann wird sie auch in näheren und weiteren Zukunft gesucht werden. Die erste Mehrheit mit der extremen Rechten hat etwas von der endgültigen Abwendung von der Demokratie – und genau dieses etwas kann mit der Metapher von der Hölle ins Bild gesetzt werden.
„Ich gucke nicht rechts und nicht links. Ich gucke in diesen Fragen nur geradeaus.“
Nicht wenige halten die Mehrheitsentscheidung für das Wesentliche an der Demokratie. Tatsächlich ist sie aber nur ein Notbehelf, wenngleich ein Behelf für den wahrscheinlichen Normalfall. Indem sie miteinander streiten, suchen politische Akteure etwas Gemeinsames jenseits ihrer unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen. Oftmals finden sie Gemeinsames nur im Kompromiss; häufiger als man denkt, entdecken sie Lösungen, von denen niemand wusste, als sie anfingen, sich über ihre unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen zu streiten. Wenn aber in politischen Angelegenheiten zumeist entschieden werden muss, bevor gemeinsame Lösungen entdeckt oder Kompromisse gefunden werden konnten, wird der Weg dorthin durch Mehrheitsbeschluss "abgekürzt".
Dass alle Beteiligten mit dieser Abkürzung einverstanden sind, ist überaus voraussetzungsvoll. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Auseinandersetzungen durch Mehrheitsbeschluss nicht vorzeitig abgebrochen wurden – und alle Beteiligten vor dem Beschluss auf eine Gemeinsamkeit hin gestritten haben. Was die zweite Erwartung angeht, werden sie – so realistisch sollten sie sein – die extreme Rechte ausnehmen. Denn dieser geht es um das genaue Gegenteil, nämlich darum, die politische Suche nach Gemeinsamkeit vorzuführen, zu beschädigen und wann immer möglich zu verhindern. Umso mehr müssen sich Demokrat:innen aufeinander verlassen können, dass sie den Streit "in der Sache" wenigstens mit der Offenheit auf Kompromiss und Konsens führen – und dies in allen zu verhandelnden Angelegenheiten.
Sich davon auszunehmen, nicht mehr "nach links und rechts, nur geradeaus zu gucken" und die eigene Überzeugung als den einzig möglichen Kompromiss auszugeben, ist eine antidemokratische Haltung. Wird diese – wie in der vergangenen Woche – im Parlament verhandlungs- und entscheidungsstark, wirkt sie destruktiv auf das demokratische Verfahren – und dies weit über die jeweilige Abstimmung hinaus. Dass das so ist, können wir ahnen, wenn wir uns vorstellen, wie sich die aus den Unionsparteien im gegenwärtigen Wahlkampf inszenierte Kompromisslosigkeit auf die Bildung aller wahrscheinlichen Koalitionen auswirken wird.
Um den Notbehelf des Mehrheitsbeschlusses akzeptieren zu können, müssen sich alle Beteiligten auch darauf verlassen können, dass die Mehrheit nicht mit genau denjenigen zustande kommt, die mit ihrer Zustimmung die Suche nach Gemeinsamkeiten vorzuführen und bloßzustellen suchen. Der Notbehelf des Mehrheitsbeschlusses gehört nur solange zur Demokratie, wie er unter Demokrat:innen stattfindet. Hingegen trägt er immer dann zur Abwendung von der Demokratie bei, wenn er mithilfe von Anti-Demokrat:innen und gegen die Mehrheit der Demokrat:innen zustande kam. Dies aber ist in der vergangenen Woche "passiert" – und dies mit der Gefahr, über diese Woche hinaus demokratieschädigend wirksam zu sein. Mit der Metapher von der Hölle kann dieser Sog in die Selbstzerstörung der Demokratie ins Bild gesetzt werden.
„… noch gemeinsam schließen.“
In der vergangenen Woche hatte Rolf Mützenich im Parlament gefragt, wie "wir" "das Tor zur Hölle […] noch gemeinsam schließen" können. Mit dem Bildwort der Hölle hat er also nicht nur die absichtliche Schädigung der Demokratie angesprochen. Er hat zugleich in Aussicht genommen, ob deren nachwirkende Wirksamkeit verhindert werden kann. Mützenich hat die Frage gestellt. Eine Antwort darauf wurde aus dem Bundestag heraus, von den Parteien und in der politischen Öffentlichkeit bisher nicht gefunden.
Um dauerhaften Schaden von der Demokratie abzuhalten, bedarf es die Bereitschaft bei den am Mittwoch überstimmten Parteien, die parlamentarische Mehrheit mit der extremen Rechten einmalig sein zu lassen – und das unter Demokrat:innen notwendige "Urvertrauen" zu halten, auch gegenüber den Unionsparteien und der FDP. Zur Antwort auf Mützenichs Frage gehört aber auch, dass sich die Unionsparteien den Schaden, den sie verursacht haben, eingestehen und in das von Demokrat:innen bespielte Feld politischer Auseinandersetzungen zurückkehren. In beiden Hinsichten haben sich die Unionsparteien und allen voran ihr Kanzlerkandidat bislang verweigert – und haben stattdessen ihre eigene Abwendung umgedeutet und – schlimmer noch – auf ihre Kritiker:innen hin projiziert. Vermutlich müssen wir uns bis nach dem Ende des Wahlkampfs gedulden und hoffen, dass die Unionsparteien dann ernste Anstrengungen unternehmen, die Fehlleistung der vergangenen Woche zu korrigieren. Eine Wählerschaft, die die Beschädigung ihrer Demokratie spürbar sanktioniert, wäre ihnen womöglich eine Hilfe. Wenn möglichst viele demokratische Parteien wählen würden, wenn also die Vorkommnisse der letzten Woche nicht zu erneuten Stimmenzuwächsen für die extreme Rechte führen würden, dann wäre dies der Beitrag der Wähler:innen dazu, das im Parlament geöffnete "Tor zur Hölle" wieder zu schließen.
Der Autor
Matthias Möhring-Hesse ist Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.