Theologin: Kirchliche Vertuschung erinnert an totalitäre Systeme

Die Theologin Annette Jantzen sieht Parallelen zwischen der Haltung von "Schreibtischtätern" in totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und den Mustern bei der Vertuschung von Missbrauch in der Kirche. Im Interview des theologischen Feuilletons "feinschwarz.net" (Dienstag) rekurriert sie dabei auf die Charakterisierung des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann durch die Publizistin Hannah Arendt anlässlich des Prozesses gegen Eichmann in Jerusalem im Jahr 1961. Arendts Beschreibung von Eichmann lasse sich mit den Schlüsselbegriffen Wirklichkeitsverweigerung, Erfahrungsverlust, Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit zusammenfassen. "So kann man auch die Haltung der kirchlichen Vertuschungstäter fassen, und einmal gedacht, lässt dieser Gedanke sich nicht mehr ungedacht machen", so Jantzen.
Wirklichkeitsverweigerung sei die absolute Unempfindlichkeit gegenüber dem Leid der Betroffenen; Erfahrungsverlust sei das "schiere Nichtbegreifen, was die Missbrauchstaten bedeuten und dass auch Vertuscher Täter sind", so die Theologin weiter. "Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit sind quasi selbsterklärend und laufen auf den unbedingten Vorrang des Institutionenschutzes hinaus." Bei der Parallele in den Haltungen gelte allerdings eine entscheidende Einschränkung: "Kirchliche Vertuschungstäter arbeiten nicht initial aktiv, sondern reaktiv, um Täter zu decken und die Institution zu schützen." Eichmanns Behörde habe es dagegen zum Zweck der Taten gegeben. "Diese Unterscheidung ist essentiell. Die verbleibende Parallele in den Haltungen ist erschreckend und abgründig genug."
Statt Schuldbewusstsein ein gewisses Konzept von Sünde
Statt eines Schuldbewusstseins sei für Missbrauchsvertuscher im Bereich der Kirche ein Konzept von Sünde leitend gewesen, bei dem das eigentliche Vergehen nicht an einem anderen Menschen, sondern gegen Gott begangen werde. So sei etwa bis zur jüngsten Revision des sechsten Buchs des kirchlichen Gesetzbuchs sexuelle Gewalt gegen Kinder ein Vergehen gegen die Kirche gewesen. "Es ist von bitterer Konsequenz, dass die Betroffenen bis heute im kirchlichen Agieren Statisten der Statistik bleiben, dass kaum ein Verantwortungsträger, der seine Erschütterung ausdrückt, nur ansatzweise einen Begriff davon zu haben scheint, was da Ungeheuerliches passiert ist", so Jantzen.
Angesichts dieses Befundes werde deutlich, dass in der Kirche hinsichtlich der Konzeption von Autorität und Gehorsam Fundamente falsch gelegt worden seien, resümiert Jantzen. "Deutlich wird aber auch die fatale Tendenz zur Selbstsakralisierung im ganzen metaphysischen Überbau." Daher könne "eigentlich kein Stein auf dem anderen bleiben". Auch wenn ihr um das Evangelium nicht bange sei, werde die Kirche "zumindest bei uns binnen kurzer Zeit keine relevante Erscheinungsform des Christlichen mehr sein", so die Theologin. Das bloße Bearbeiten der Symptome werde die Krise der Kirche nicht lösen.
Annette Jantzen war von 2019 bis 2024 Frauenseelsorgerin im Bistum Aachen und ist seit Anfang 2025 als Co-Projektleitung von "Kirche im Mentoring" beim Hildegardis-Verein tätig. Sie ist auch als Autorin tätig. (mal)