Bibelwerk-Vorsitzender Ballhorn gibt Tipps für die Lektüre

Wie liest man eigentlich die Bibel?

Veröffentlicht am 21.06.2025 um 12:00 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Dortmund ‐ Was sollte man beachten, wenn man die Bibel aufschlägt? Und was kann Bibellesern helfen, egal ob fortgeschritten oder ungeübt? Der Alttestamentler Egbert Ballhorn, Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks, spricht im katholisch.de-Interview über vernetzendes Lesen und das richtige Textverständnis.

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Wie eine fruchtbare Bibellektüre gelingt, versucht Egbert Ballhorn seinen Studentinnen und Studenten immer wieder nahezubringen. Der Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund und Vorsitzende des Katholischen Bibelwerks gibt im Interview Tipps, wie man als Leser mit der Bibel umgehen sollte. Dazu spricht er über den Wert akademischer Bibelexegese, kirchliche Auslegungstradition und den Platz des Bibellesers in diesem Kontext.

Frage: Herr Ballhorn, gibt es etwas, was man grundsätzlich beachten sollte, wenn man eine Bibel in die Hand nimmt?

Ballhorn: Ich würde erst einmal Mut machen und sagen: Man kann gar nichts falsch machen. Man sollte sich selbst darüber im Klaren sein: Was erwarte ich mir von diesem Buch? Natürlich hat man zuerst einmal Respekt vor der Bibel. Doch niemand startet bei null. Jeder Mensch hat einen Zugang zu Sprache und Literatur. Das heißt, man startet mit seiner eigenen Sprach- und Literaturkompetenz. Wer die Bibel öffnet, hat immer Erwartungen und gewisse Vorerfahrungen.

Frage: Es gibt auch Leute, die noch nie eine Bibel in der Hand hatten. Was würden Sie denen raten?

Ballhorn: Vielleicht sollten sie zunächst jemanden fragen, der sich mit der Bibel auskennt, der schon Erfahrungen hat. Das muss kein "Profi" sein, aber jemand, von dem man denkt, dass er einen Zugang hat.

Frage: Wo fängt man denn am besten mit dem Lesen an?

Ballhorn: Man sollte sie nicht von vorn nach hinten lesen. Es fängt ganz großartig an mit der Schöpfungserzählung in Genesis. Später aber kommen lange Durststrecken. Die Bibel ist ein Buch, das man eher kreuz und quer lesen sollte. Man kann also an jeder beliebigen Stelle einsteigen.

Frage: Mit welchem Buch könnte man gut beginnen?

Ballhorn: Man könnte zum Beispiel ein ganzes Evangelium lesen. Das Markus-Evangelium ist das kürzeste, das ist gut zu schaffen. Es lässt sich auch gut mit dem Buch Genesis anfangen, weil einem viele Texte schon etwas sagen: die Paradies-Erzählung, Kain und Abel, Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Rachel. Das sind Geschichten, die ich auf mehreren Ebenen lesen kann – genau das macht die Bibel spannend: Ich kann sie als Familiengeschichten lesen oder als Geschwistergeschichten, ich kann sie als Konfliktgeschichten lesen – und ich kann sie als Gotteserfahrungserzählungen lesen. Dass derselbe Text mir verschiedene Lektüreebenen öffnet, lässt das Buch fruchtbar werden.

Egbert Ballhorn
Bild: ©privat

Egbert Ballhorn lehrt Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund und ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks.

Frage: Welche Tipps geben Sie Ihren Studierenden beim Bibellesen, die auch anderen helfen könnten?

Ballhorn: Selbst wenn man einzelne Szenen kennt – der Gesamtzusammenhang bringt oft neue Perspektiven. Ich lade die Studierenden ein, ein kleines Lesetagebuch zu machen: Welche Personen tauchen auf, wie sieht die "Bühne" aus, für welche Stichworte werde ich sensibilisiert, welche Fragen stellen sich? Beim Lesen geschieht etwas mit dem Buch – und mit mir selbst. Wenn man seine eigenen Fragen und Empfindungen ernst nimmt, ist man auf der richtigen Spur. Die Bibel ist ein Buch, das denkende, mitarbeitende Menschen verlangt. Man sollte daher auch auf seine eigenen Widerstände oder Rückfragen achten. Und auch bereit sein, sich überraschen zu lassen, selbst wenn man meint, die Texte schon gut zu kennen. Dazu kann ich ein Erlebnis erzählen.

Frage: Bitte sehr.

Ballhorn: Eine Studentin von mir hat kürzlich geheiratet. Sie hat mich vorher gefragt, welchen Bibeltext sie als Trauspruch auswählen soll. Ich habe ihr gesagt: Suchen Sie nicht irgendetwas mit "Hochzeit", sondern einen Bibeltext, der Sie selbst anspricht. Ich war bei der Trauung ganz überrascht: Sie hatten Psalm 36 genommen – "Bei dir ist die Quelle des Lebens; in deinem Licht schauen wir das Licht." Ein anderer Vers aus dem Psalm war: "Herr, deine Liebe reicht so weit wie die Wolken." Darin kann man sich als Brautpaar wiederfinden – und es öffnet einen weiten Horizont für das Leben

Frage: Gibt es denn auch Bücher, von denen man als nicht geübter Bibelleser erstmal die Finger lassen sollte?

Ballhorn: Ich würde kein Buch verbieten. Die Lesenden haben das Recht, mit Texten ganz frei umzugehen. Das ist mir als Exeget und Literaturwissenschaftler sehr wichtig. Wenn man merkt, dass man mit einem Text große Schwierigkeiten hat, sollte man das Buch einmal woanders aufschlagen.

Frage: Das berührt ja auch eine ganz wichtige Frage: Wie geht man mit aus heutiger Sicht unverständlichen, schwierigen Bibelstellen um, bei denen es zum Beispiel um Gewalt geht?

Ballhorn: Gewalt kommt in der Welt der Bibel vor. Die Bibel baut keine Idealwelt, die anders ist als unsere heutige Welt. Alles, was unsere Welt prägt und auch quält, ist ein Teil der Bibel: Kriege, Unterdrückung, aber eben auch die Idee, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Viele Menschen stolpern über das Motiv des Zornes Gottes. “Zorn“ übersetzt man jedoch am besten mit "Gerechtigkeitseifer" Gottes – dann kann ich das einordnen. Gott wird nicht blind wütend, sondern er steht für Recht und Gerechtigkeit. Und wenn Menschen unterdrückt werden, lässt ihn das nicht unberührt, und er sorgt für Gerechtigkeit. Aber diese Zusammenhänge muss man durch die Lektüre von biblischen Texten lernen – das erschließt sich nicht gleich beim ersten Mal.

Frau liest
Bild: ©Egbert Ballhorn

Eine Frau liest in dem Buch "42 große Wörter der Bibel".

Frage: Was sind da gute Hilfsmittel?

Ballhorn: Schon die Liturgie ist ein gutes Hilfsmittel, weil die Bibel in Ausschnitten gelesen wird und die Texte oft so zusammengestellt sind, dass Altes und Neues Testament miteinander in Korrespondenz treten. Da ist schon eine Spur gelegt.  Dann gibt es verschiedene Angebote beim Katholischen Bibelwerk, etwa die Lektorenhilfe, wo die Sonntagslesungen jeweils mit kleinen Auslegungen verbunden sind oder die Zeitschrift "bibel heute". Und dann gibt es noch ein Buch, das ich mitherausgegeben habe: "42 große Wörter der Bibel". Dessen Ziel ist es, zu einem vernetzenden Lesen zu ermutigen.

Frage: Was meint vernetzendes Lesen?

Ballhorn: Schauen wir auf das Wort "Licht". Am Anfang von Genesis heißt es: "Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde." Und danach “Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht."  Das meint nicht einfach nur das Licht der Sonne, sondern Licht steht für Lebendigkeit und Zuwendung. Und meine Studentin, die den Trauspruch "In deinem Licht schauen wir das Licht" gewählt hat, hat schon intuitiv gespürt: Licht steht für die große Dimension unseres Lebens, die Güte Gottes. Wenn wir in der Osternacht Genesis 1 als ersten Text nach dem Osterfeuer lesen und dann im Osterevangelium die Frauen zum Grab kommen, "als gerade die Sonne aufgeht" und das Licht aufscheint, dann wissen wir doch intuitiv, dass hier genau diese Grenze von Tod zum Leben, von Finsternis zum Licht überschritten wird – Ostern. So vernetzt sich die Bibel durch bestimmte Motive und Stichworte. Mit unserem Buch wollen wir zu einem eigenständigen Lesen anregen, dass man die großen Linien finden kann.

Frage: Wenn man biblische Texte richtig verstehen will – worauf muss man achten?

Ballhorn: Man professionalisiert sich durch eigenes Lesen. Es ist natürlich etwas anderes, ob ich die Bibel oder einen Krimi lese. Es geht nicht um Informationsaufnahme, sondern es geht um ein Lesen, das die Sprache, die Inhalte "erschmeckt". Das heißt, auch wenig zu lesen, Und mehrfach lesen ist ein guter Zugang. Man soll einem Text Raum geben und ihn nachklingen lassen. Wenn ich die Psalmen aufschlage und ein Wort nach mir greift: Was will ich mehr?

Ein Mann liest in der Bibel
Bild: ©stock.adobe.com/4Max (Symbolbild)

"Es geht nicht um Informationsaufnahme, sondern es geht um ein Lesen, das die Sprache, die Inhalte 'erschmeckt'", sagt Egbert Ballhorn.

Frage: Wenn ich einen Text verstehen will: Was ist wichtig – und was zweitrangig? Oder anders ausgedrückt: Was ist zeitlos, was zeitgebunden?

Ballhorn: Das muss die jeweilige Lektüre zeigen, das würde ich nicht von vornherein durchsortieren. Ich nenne ein Beispiel aus der Schöpfungserzählung: Am Ende sagt Gott: "Ich gebe euch alle Pflanzen zur Nahrung." Da werden noch keine Tiere genannt. Erst nach der Sintflut-Erzählung sagt Gott: Notfalls dürft ihr auch Fleisch essen. Das hat man immer überlesen. In unserer Zeit, in der Ökologie und Tierethik wichtig sind, merken wir, dass die Bibel da eine Botschaft hat. Wer sich vegetarisch oder vegan ernähren will, kann das mit der Schöpfungserzählung in Genesis 1 begründen. Und wer sich auch mit Fleisch ernähren will, darf das nach Genesis 9 eben auch tun. Aber beides ist eingefügt in einen großen Zusammenhang einer schöpfungstheologischen Fragestellung. Früher hätte man das einfach als zeitgebunden betrachtet. Aber: Zeitgebunden sind eher unsere Vorstellungen von den Texten, - nicht so sehr die Texte selbst. Als biblischer Theologe ist es meine Aufgabe, die Texte so lange zu befragen, bis ich erkenne, wo Impulse in die Gegenwart hineinsprechen.

Frage: Ist die akademische Bibelexegese mehr wert als eine persönliche Bibelinterpretation?

Ballhorn: Ja und Nein. Zum einen bin auch ich als Wissenschaftler nur ein Leser. Ich habe keine andere Erkenntnis als jeder andere Mensch, der mit seinem Verstand die Bibel liest. Jeder kann Entdeckungen zum Text machen, die von Bedeutung sind. Die wissenschaftliche Exegese bringt die Kenntnis der Urtexte ein und ist eine Art Gedächtnisspeicher der Auslegungsgeschichte, also ein großer Reichtum an Erfahrungen. Und wenn ich wissenschaftlich lese, lese ich strukturierter, zusammenhängender und argumentierender als jemand, der für sich die Bibel liest. Das ist das Plus der wissenschaftlichen Exegese.

Frage: Es gibt ja auch eine lange kirchliche Tradition der Auslegungen von Bibelstellen. Wie soll man sich dazu verhalten?

Ballhorn: Als Theologe bin ich Christ und lese die Bibel als jemand, der sich zur Kirche bekennt. Ich lese sie im Rahmen meiner eigenen kirchlichen Tradition, die 2.000 Jahre alt ist, und bin selbst Teil dieser Lektüretradition. Da erlebe ich keine Einengung. Die Kirche sagt, dass Theologie als Wissenschaft hilft, die Erkenntnis zu vertiefen. Das heißt, ich bin als Wissenschaftler frei zu denken. Wenn ich an einer Stelle etwas einbringen will, muss ich eben versuchen, zu argumentieren, beispielsweise in der Frage, ob Frauen kirchliche Ämter übernehmen können. Da haben wir eine bestimmte Auslegungstradition der Bibel. Als Exeget werde ich aber versuchen, deutlich zu machen, dass diese Tradition um neue Sichtweisen erweitert werden kann und muss.

Frage: Entdecken auch Sie als Experte hin und wieder etwas Neues, Unerwartetes in biblischen Texten?

Ballhorn: Unbedingt! Selbst bei Texten, die ich schon hundertmal in Seminaren gelesen habe, kann es immer wieder passieren, dass eine Studentin im ersten Semester mir am Text etwas zeigt, das ich schon hundertmal überlesen habe. Natürlich gibt es Texte, mit denen ich vertrauter oder unvertrauter bin. Aber zu wissen, dass ich bis an mein Lebensende mit diesen Texten nicht fertig werde, finde ich großartig.

Von Matthias Altmann